Kitabı oku: «Mauerspechte», sayfa 4

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Fünftes Kapitel

Der Mann, der auf Willems Läuten in der Fasanenstraße die Tür zum Dachgeschoss öffnete, war ihm auf den ersten Blick sympathisch. Er hatte eine Latzhose an, trug das Haar lässig zu einem Zopf geflochten, ein ausgeleierter Pullover schlabberte um seinen hageren Körper, die nackten Füße steckten in Römerlatschen.

„Ja, bitte?“

„Guten Tag, ich bin mit Jasmin verabredet.“

„Na, wenn das so ist. – Ich heiße Florian Neumann“, sagte der Zopfmensch freundlich und bat Willem in die Wohnung. „Dann wirst du wohl der Stadtindianer aus dem Osten sein?“

„Woher wollen Sie das wissen?“

Herr Neumann deutete auf die altertümliche Bahnhofsuhr, die im Korridor tickte, es war genau fünfzehn Uhr. „Bei den Damen und Herren von hier gilt Pünktlichkeit als Missgeschick. Wer etwas auf sich hält, kommt schon aus Prinzip zu spät.“

Willem sagte seinen Namen und folgte dem Mann in ein Zimmer, das vom Parkett bis unter die Decke mit Büchern, Aktenordnern und Papieren aller Art vollgestopft war. Aus kniehohen Lautsprechern dudelte asiatische Musik. In einem Keramikgefäß blakte ein Räucherstäbchen.

Nachdem Willem die vergangene Woche verbummelt hatte, war er heute einmal wieder zum Unterricht angetreten. Jasmins Ansage, dass man sich am Montag „nach der Schule“ treffen wolle, hatte ihn in gewisser Weise zu diesem Schritt beflügelt. Die Folge allerdings war, dass er es nur mit Hängen und Würgen geschafft hatte, zu Hause die Mappe abzuwerfen, Rosetta zu füttern, Mamas Einkaufszettel abzuarbeiten und sich nach Charlottenburg durchzuschlagen. Nun ärgerte er sich, dass er eine Punktlandung hingelegt hatte. Als Erster hatte er hier keinesfalls aufschlagen wollen.

„Findest du, dass es bei uns chaotisch aussieht?“, wollte Jasmins Vater wissen und wuchtete einen staubigen Stoß Zeitschriften von einem hölzernen Schemel auf das Klavier. „Der Spiegel“ stand auf einem gelben Klebchen geschrieben: „Jahrgang 1968“.

„Na ja“, stammelte Willem zugeknöpft und biss sich auf die Zunge, schließlich wollte er nicht unhöflich sein. „Meine Mama sagt immer: ‚Ordnung ist das halbe Leben.‘“

„Dann wäre die andere Hälfte Unordnung“, feixte Jasmins Vater.

„Und meine Oma lästert manchmal: ‚Wer Ordnung hält, ist bloß zu faul zum Suchen.‘“

„Weiber!“, seufzte Herr Neumann und erschrak. „Pardon, damit will ich nichts gegen deine Großmama und deine Mutter gesagt haben.“ Er pumpte wie ein Maikäfer, um seinen Schnitzer aus der Welt zu schwatzen. „Jasmin Shiva meint, dass ich den Stall dringend einmal entrümpeln müsste. Das Elend ist nur, wenn ich ihrem Rat folge, finde ich niemals im Leben etwas wieder.“ Da ihn der Papierstapel auf dem Piano zu stören schien, ließ er die Hefte zu Boden fallen und bugsierte sie mit einem sanften Fußtritt unter das Sofa, kam damit aber nicht allzu weit, denn auch der Platz war schon besetzt.

„Sind Sie Lehrer?“, wollte Willem wissen, wobei er an Oma Gretes Wort vom zerstreuten Professor denken musste.

„Nein, Rechtsanwalt.“

„Muss man da nicht ins Büro oder zum Gericht?“

„Der Montag ist mein Hauslesetag. Hier in meiner privaten Bibliothek kommen mir die Akten weniger bedrohlich vor.“ Er bot Willem einen Platz in einem Sessel an, dem bestimmt hundert Jahre in den Sprungfedern steckten. „In Jasmin Shivas Zimmer kann ich dich leider nicht lassen. Das ist zwischen uns so ausgemacht, jeder ist in seiner Bude der Bestimmer und entscheidet selbst, wem er oder sie die Tür öffnen will. Aber du darfst gern in meinem Kabuff warten. Möchtest du was trinken?“

„Eine Cola wäre nicht schlecht.“

„Tut mir leid, so was gibt es in diesem Haus nicht. Wir kaufen im Dritte-Welt-Laden ein. Das ist für Jasmin Shiva ein absolutes Muss. Mein Fräulein Tochter steht voll auf Naturkost. Null Chance für Coke und Pepsi.“

„Na toll!“

„Buttermilch, Saft oder Wasser?“ Als Florian Neumann Willems Zögern bemerkte, nahm er die Sache selbst in die Hand. „Ich mixe uns was Feines.“ Er zwinkerte Willem vertraulich zu. „Unter uns, wenn ich einem Mandanten zu seinem Recht verholfen habe, leiste ich mir auf dem Heimweg manchmal heimlich einen Burger.“

Auf seine einladende Handbewegung hin folgte ihm Willem in die Küche und hatte abermals Grund zum Staunen. Er fühlte sich in die Kulisse eines TV-Kochstudios versetzt. Die schräge Dachwand war mit Holz verkleidet, der Boden mit Schieferplatten gefliest. Alles blitzblank und tipptopp aufgeräumt. Oder um es in Oma Gretes Worten zu sagen: „Wie aus dem Ei gepellt!“

Allein das Gewürzregal war ein Ereignis, drei Reihen übereinander, jeweils sieben Gläser fassend, die, obwohl sie fest verschlossen schienen, orientalische Düfte verströmten. Von einer gitterartigen Zwischendecke baumelten Trockenfrüchte und Kräuter über Willems Kopf; Pilze und Knoblauch konnte er mühelos identifizieren, die Pfefferminze verriet sich selbst, mit dem Rest der Sammlung war er überfordert.


„Und, wie läuft es so in der Deutschen Demokratischen?“, wollte Jasmins Vater wissen, während er mit der linken Hand Apfelsaft und mit der rechten Mineralwasser in dickwandige Halblitergläser füllte und Trinkhalme dazu tat, einen grünen für Willem, passend zu dessen Pullover, einen roten für sich.

„Gestern Mittag gab es eine Menschenkette quer durch das ganze Land. Die Leute haben Kerzen angezündet.“

„Und für fünfzehn Minuten ruhte der Verkehr“, vollendete Herr Neumann. „Ich hab’s in der Abendschau gesehen. Ist Freiheit noch immer das Zauberwort der Stunde?“

„Klar.“

„Und wie ist sonst die Stimmung?“

„Die Leute sind ziemlich hibbelig.“ Willem war sich nicht sicher, worauf die Frage zielte. Und ob er mit seiner Antwort auf dem richtigen Dampfer war. „Die einen haben die Hose voll und wissen nicht, was werden soll. Und die anderen meinen, dass ihnen demnächst gebratene Tauben ins Maul fliegen und wollen sich jetzt erst einmal so richtig an allem bedienen.“

„Na, prima!“ Jasmins Vater schüttelte vielsagend den Kopf. „Lasst euch bloß nicht vom Westen einlullen. Hier ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Natürlich kann einer sein Glück machen, wenn er was auf der Kirsche hat, ordentlich ranklotzt und die Zeichen günstig stehen. Aber es gibt auch massenhaft Leute, die malochen von früh bis spät und haben nicht die Spur einer Chance. Wenn ich allein daran denke, wie viele Menschen zu mir in die Kanzlei kommen, die in die Schuldenfalle getappt sind. Schönes Auto, tolle Wohnung, aber alles auf Pump gekauft“, erläuterte er, als er Willems Verlegenheit bemerkte. „Und dann keinen Schotter, um die Raten zurückzuzahlen. Dazu vielleicht noch Bohei in der Firma. Bums, sitzt du auf der Straße.“

„Mensch Florian, hör auf, kleine Ossis zu erschrecken!“, alberte Jasmin, die soeben, Anton und Boris im Schlepp, die Wohnung betreten hatte, und zog ihren Vater zur Begrüßung am Zopf. Er drückte ihr im Gegenzug einen Kuss auf die Schläfe. „Hallo, Feuerlocke, da bist du ja!“

Erfreut nahm Willem zur Kenntnis, dass Herr Neumann seine Tochter genau so nannte wie er. Jasmin indessen sah sich genötigt, ein Statement abzuliefern, wobei sie sich den Warkentins zuwandte und ihn, täuschte sich Willem?, demonstrativ links liegen ließ. „Papa Neumann war schon vor zwanzig Jahren mit von der Partie, als die Studenten am Ku’damm den Aufstand geprobt haben. Insgeheim träumt er noch heute von der Weltrevolution.“

„Quatsch“, widersprach ihr Vater. „Ich habe deinem Freund nur mal eben erklärt, wie das heutzutage im Westen läuft. Natürlich bist du ein freier Mensch. Niemand gängelt dich. Und es redet dir auch keiner rein!“ Er wandte sich zum Gehen. „Aber sobald du nicht mehr flüssig bist, bist du überflüssig. Das ist die Kehrseite der Medaille. Ich will hoffen, deine Landsleute haben das auf dem Schirm. Sonst gibt es ein böses Erwachen.“

„Florian, der berühmteste Schwarzseher der Welt!“, lästerte Jasmin.

„Halt dich an mein Tochterkind, Willem, dann bist du auf der sicheren Seite. Kennst du den Unterschied zwischen Fräulein Neumann und dem lieben Gott? – Gott weiß alles, Jasmin Shiva Neumann weiß alles besser!“

„Wer jetzt nicht lacht, ist selber schuld!“ Jasmin gähnte gelangweilt und gab Anton und Boris einen Wink. „Mir nach, was Beine hat!“

Willem schnappte sein Glas und folgte den anderen zum Ende des schlauchförmigen Korridors. In Jasmins Zimmer angelangt, rieb er sich verwundert die Augen.

Schon wieder das komplette Kontrastprogramm!

Nicht ein einziges Möbelstück stand in dem Raum, kein Tisch, keine Kommode, kein Bett, kein Schrank. Jede Wand war mit einer anderen Farbe gestrichen, gelb, orange, ferkelrosa, und die Dachschräge, in die eine geräumige Gaube gefräst war, pink. Und jede war mit einem einzigen Bild beflaggt, mindestens einen Meter breit und anderthalb Meter hoch. Links Florian Neumann im Hippie-Look, mit dünnem Chinesenbart und Pilzfrisur, ihm gegenüber eine schwarzhaarige Schönheit, die Jasmin wie aus dem Gesicht geschnitten schien, nahe beim Fenster, mit durchsichtigem Klebeband an die Schräge geleimt, ein Ronja-Räubertochter-Poster, neben der Tür ein Porträt von Jasmin. Mitten in der Stube aber die Sensation: Ein Zelt! Genau so eines, wie man es von Campingplätzen kannte, nur dass die Spannschnur an der Scheuerleiste festgezurrt und das Dach mit einer in der Zimmerdecke eingelassenen Öse vertäut war.

„Mann, Mann, Mann!“, murmelte Willem beeindruckt. „Ich glaub, mein Nashorn popelt!“

Jasmin schenkte ihm nicht die geringste Beachtung, sie schlug die Plane beiseite und gab für alle den Weg frei. Neugierig sah sich Willem um. Auf dem Fußboden war eine Matratze ausgerollt, die Jasmin wohl als Bett diente. Gleich daneben türmten sich mindestens ein halbes Dutzend Kopfkissen. Eine flauschige Decke sowie massenhaft Pappschachteln und Kisten vervollständigten die Ausstattung. Da aus einem Karton eine Socke und aus einem anderen ein Blatt Rechenpapier lugte, kam er zu dem Schluss, dass die Behälter wohl die Möbel ersetzten.

„Pfui Deibel, Schlabbersabber“, beschwerte sich Boris, der hinterrücks an Willems Strohhalm genuckelt hatte. „Schmeckt ja eklig.“

„Wer so was trinkt“, befand Anton, nachdem er ebenfalls eine Kostprobe genommen hatte, „der stößt auch schlafende Hühner von der Stange.“ Er grinste großspurig. „Sagt man so?“

„Das Gesöff passt allerdings zu einem durchgeknallten Grünfrosch, der urplötzlich wie vom wilden Affen gebissen durch die Botanik flitzt und mich bocksblöd am Brandenburger Tor stehen lässt. Voll krass peinlich!“, erklärte Jasmin und schnitt eine Grimasse, die Willem zeigen sollte, wie beleidigt sie noch heute über seinen überhasteten Abgang war. „Ich hätte dich auf den Mond schießen können! Aber Nerven hast du, das muss man dir lassen. Dass du dich nach der Nummer noch hierher traust!“

„Ich kann ja wieder gehen“, bot Willem kleinlaut an.

„Gute Idee!“, pöbelte der große Warkentin.

„Soll ich?“

Jasmin schniefte verächtlich und wühlte so geschäftig in einem ihrer Pappkartons, als würde es Willem gar nicht geben.

„Soll er?“, fragte Boris.

„Sag, dass es dir leidtut, dann kannst du von mir aus bleiben“, lenkte Jasmin schließlich ein, als sie bemerkte, dass Willem tatsächlich drauf und dran war, auf allen vieren den Rückzug anzutreten. „Laut Florian Neumann hat selbst der letzte Trottel Anspruch auf eine zweite Chance.“

Willem spürte, wie seine Ohren zu glühen begannen.

„Ach was, lass den Knaller sausen!“, motzte Anton. „Bisher sind wir ganz gut ohne Zonendödel ausgekommen. Oder etwa nicht?“ Um gleich noch einmal kräftig nachzutreten. „Das sind doch sowieso alles Warmduscher da drüben in Ossihausen. Und Schwachmaten dazu!“

Mit seinem Gestänker allerdings sorgte er ungewollt dafür, Willem die Entschuldigung zu ersparen. Der kam nicht einmal dazu, sich auf Toni zu stürzen und ihn in den Schwitzkasten zu nehmen.

„Verschone mich“, fauchte Jasmin, „mit deinem blöden Russengelaber!“

„Wir sind keine Russen, du Doofi!“, zahlte es ihr Anton in gleicher Münze heim und geriet vor Empörung in Atemnot. „Wie oft soll ich dir das noch sagen? Wir sind genau so deutsch wie du!“

Für einen Moment war es mucksmäuschenstill im Wigwam.

„Okay, ich nehme das Russengelaber zurück“, gab Jasmin, nachdem sie glaubte, ausdauernd genug geschwiegen zu haben, versöhnlich nach.

„Und ich den Doofi“, willigte der große Warkentin mit langen Zähnen in den Handel ein.

„Und die Warmduscher und den Schwachmaten-Scheiß gefälligst auch. So ’n dämliches Gequatsche will ich in meinem Zelt nicht hören!“

Antons Reaktion ließ nicht erkennen, ob er gewillt war, Jasmins Ansage zu akzeptieren, oder ob er bei nächster Gelegenheit abermals den Aufstand proben würde.

„Borjas und Tonis Großeltern sind Wolgadeutsche. Ihre Vorfahren sind anno dunnemals unter Zarin Katharina nach Russland gekommen“, fügte sie bei, als ihr klar wurde, dass Anton nicht über seinen Schatten springen würde und Willem einmal wieder nur Bahnhof verstand. „Oma und Opa Warkentin leben schon lange in Deutschland und haben die beiden Knaben und deren Eltern nebst Onkeln, Tanten, Neffen, Nichten, Cousins und Cousinen vor einem Dreivierteljahr nachgeholt.“

„Das heißt, ihr habt bis dahin in der Sowjetunion gewohnt?“, vergewisserte sich Willem.

„In Sibirien, wo sonst?!“

„Dafür ist euer Deutsch aber klasse!“

„Zu Hause haben Mamotschka und Papotschka mit uns immer Deutsch gesprochen“, erklärte Boris.

„In der Schule allerdings war nur Russisch erlaubt“, komplettierte Anton mürrisch.

Krachend fiel die Wohnungstür ins Schloss.

„Jetzt haben wir sturmfreie Bude. Florian ist joggen. Er will sich zu seinem fünfzigsten Geburtstag die Teilnahme am Berlin-Marathon spendieren.“ Jasmin zog eine große Flasche Cola aus ihrem Schulrucksack und ließ sie kreisen.

„Ich denke, du fährst hundert Pro auf Bio ab?“ Willem starrte verständnislos in sein Glas.

„Das glaubst auch nur du! Ist so ’n Flitz von Florian. Der lässt hier neuerdings den Körnerfresser raushängen und tut sich damit vor seinen Bräuten dicke. Und mich hat er als Geisel genommen.“

„Bist du sicher?“

„Denkst du, ich mache mich freiwillig zum Landei?“

„Vielleicht solltet ihr mal miteinander reden?“

Jasmin ließ sich weder ablenken noch beirren. „Kommen wir zur Sache, Jungs. Preisfrage des Tages: Was muss getan werden, um das schlappe Mauergeschäft wieder auf Touren zu bringen?“

Bruder Boris nuckelte die halbe Pulle leer, bevor er treuherzig sagte: „Keine Ahnung.“

Jasmin verdrehte die Augen.

„Unsere Mama hat eine Kette aus Riga, echt Silber“, sinnierte Anton, „da baumelt ein haselnussgroßes Stück Bernstein dran. Sieht supertoll aus.“ Er klemmte sich eine widerspenstige Haarsträhne unter die Baseballkappe. „So was müsste man doch auch aus Mauersteinen herstellen können.“

„Mauerschmuck! – Ketten, Ringe, Armbänder, das wäre immerhin was Besonderes“, räumte Jasmin nachdenklich ein.

„Für einen Goldschmied sicher kein Problem“, meinte Willem. „Aber, ob wir das bringen?“

„Wieso sagst du wir?“ Der große Warkentin schnappte nach Luft und stierte Willem ungnädig an.

„Ich kann so was nicht“, erklärte Boris wahrheitsgetreu.

„Wäre wahrscheinlich auch zu teuer“, riss Jasmin das Wort an sich und brachte damit sowohl Anton als auch Willem um die Gelegenheit, sich erneut in die Wolle zu kriegen. „Wir brauchen dafür ja nicht nur die Steine, sondern auch Lederbänder. Oder Messingketten, wenn es schon nicht Silber ist. Und das passende Werkzeug dazu.“

„Du, Jasmin, hast du was zu naschen?“, wechselte Bruder Boris aus heiterem Himmel das Thema.

Sie schob ihm einen mit Kinderkonfekt und Schokolade gefüllten Adventskalender zu. „Bedien dich, du Krümelmonster!“ Mit Kennerblick bemerkte Willem, dass, obwohl noch nicht einmal Nikolaustag war, bereits sämtliche Türchen bis zur zwanzig offen standen. Jasmin sah, dass er Stielaugen machte, und griente ihn unschuldig an. Ihr Lächeln schien zu fragen: Ja meinst du etwa, ich warte bis morgen, wenn ich gerade heute Lust auf Süßkram habe?

Boris machte dem Kalender unterdessen den Garaus und beschloss die Mahlzeit mit einem stattlichen Schoko-Cola-Rülps.

„Hier spricht der Landfunk!“, stellte sein Bruder herablassend fest. „Der Pups folgt nach dem Wetterbericht.“

„Ich dachte, ihr hättet euch die Sache schon mal durch den Kopf gehen lassen.“ Jasmin überspielte mit ihrer Rüge die Tatsache, dass auch sie nicht die Spur einer Idee hatte.

„Der Tipp von Knallfroschs Riesenbaby war vielleicht gar nicht so schlecht.“ Anton drehte Willem, der sich gerade einen Schluck genehmigen wollte, die Flasche aus der Hand. „Wir könnten Neujahrskarten kaufen und die mit Mauersteinen bekleben.“

Willem nickte ihm beifällig zu.

Aber Jasmin war gegenteiliger Meinung. „Das läuft vielleicht ein, zwei Wochen, wenn überhaupt. Und dann erst wieder zu Ostern“, wandte sie ein, noch bevor die anderen das Für und Wider aufrechnen konnten. „Außerdem kosten Karten im Kuvert ’ne Stange Geld.“

Anton gab nicht auf. „Und wenn wir sie selber zurechtschneiden? Und ‚Prosit Neujahr!‘ draufschreiben? Und die Umschläge beim Discounter abstauben?“

„Kauft sie vermutlich kein Mensch“, argwöhnte Jasmin. Dazu schnitt sie, mit Zeige- und Mittelfinger die Arbeitsweise eine Schere nachahmend, im Zickzackkurs Löcher in die Luft.

„Dann weiß ich auch nicht“, sagte der große Warkentin und stocherte mit einer auseinandergebogenen Büroklammer gedankenverloren zwischen den Zähnen.

„Ich auch nicht“, schob Boris nach, als hätte jemand etwas anderes von ihm erwartet.

„Was würde ich machen, wenn ich euch nicht hätte?“, stöhnte Jasmin. „Ich krieg voll die Krise.“ Es war im Zelt so still geworden, dass man ihre Armbanduhr ticken hörte. „Die Nummer hätten wir uns sparen können.“

Willem, der sich bisher zurückgehalten hatte, obwohl er nicht ganz unvorbereitet zu dem Treff erschienen war, spürte, dass seine Stunde gekommen war. „Was meint ihr?“, fragte er in verschwörerischem Ton, langte in seinen Anorak und zog eine handtellergroße Zellophantüte hervor, in der ein Briefmarkenhändler seinem Vater kürzlich einen Satz mit Sonderwertzeichen über den Ladentisch gereicht hatte. „Kriegt man solches Material hier für billig Geld zu kaufen?“

„Bestimmt.“ Jasmin ließ die Folie zwischen ihren Fingern knistern, ohne dem Sinn seiner Frage auf die Spur zu kommen. „Da würde ich zum Baumarkt gehen oder du fragst bei McPaper nach.“

„Das wäre schon mal die halbe Miete“, stellte Willem zufrieden fest. „Und kann man so was preiswert drucken lassen?“ Er fingerte einen quadratischen Zettel aus der Hosentasche, auf den er mit der altersschwachen Reiseschreibmaschine seiner Mutter „Original Berliner Mauer – 1989“ getippt hatte. Die Größe des Papiers entsprach exakt dem Format der Tüte.

„Sieht ziemlich amateurhaft aus“, beanstandete Anton mit antrainiertem Kennerblick das Buchstabengeholper.

„Soll auch bloß ein Muster sein.“

„Mann, das ist ja eine abgefahrene Idee!“ Jasmin hatte verstanden und war auf der Stelle Feuer und Flamme. „Wenn man das ordentlich mit dem Computer schreibt, kann man es beliebig oft kopieren und ausdrucken. Bei acht bis zehn Etiketten pro Seite beinahe zum Nulltarif.“ In ihren Augen glitzerten winzige Sterne. „Und wir verkaufen ab sofort nicht mehr lose Brösel, sondern Mauer aus der Tüte! Fein säuberlich in Zellophan verpackt. Und als besonderen Clou gibt es die Echtheitsbescheinigung dazu. Mit Original-Unterschrift. Von wem auch immer. Genial! Die Teile werden bei den Touris weggehen wie warme Semmeln.“

Willem nickte triumphierend, während Anton neidisch die Mundwinkel hängen ließ.

„Ich würde mir da nicht so sicher sein.“

„Auf alle Fälle ist es einen Versuch wert“, meinte Jasmin. „Also brauchen wir so schnell wie möglich neue Steine.“

„Die holen wir uns wieder an der Bernauer Straße“, sagte der große Warkentin. „Dort wuseln nicht so viele Leute herum. Und außerdem, wenn man mal von Kreuzberg absieht, ist die Mauer in Wedding am schönsten besprüht.“

„Damit du dich dabei nicht weiter selbst verstümmelst oder harmlose Spaziergänger erschlägst, habe ich was mitgebracht“, sagte Willem.

Er zog ein paar Gartenhandschuhe sowie einen fast fabrikneuen Meißel aus der Innentasche seiner Jacke, der nicht nur blitzscharf, sondern auch mit einem aus Kunststoff gefertigten Schlagschutz für die Führhand versehen war.

„Chrom-Vanadium-Stahl“, stellte Anton fachmännisch fest. „Ich glaub’s nicht! Wo hast du das Ding her?“ Er boxte Willem ruppig gegen die Schulter, Zeichen höchster Wertschätzung und Friedensangebot zugleich. „Geklaut?“

„Nein, organisiert.“ Willem mochte jetzt nicht an die Werkzeugkiste seines Vaters denken. „Schnapp ihn dir oder lass es bleiben!“

„Wahnsinn!“

Anton legte Jasmin die linke und seinem Bruder die rechte Pranke auf die Schulter und machte ein feierliches Gesicht. „Was meint ihr, wollen wir Willem im Team Mauer Power mitmachen lassen? Wir könnten ihn als viertes Bandenmitglied aufnehmen.“ Aber Anton wäre nicht Anton gewesen, hätte er das allgemeine Schweigen, das sein überraschendes Vorpreschen ausgelöst hatte, nicht genutzt, um im nächsten Moment zurückzurudern. „Bis auf Weiteres natürlich auf Probe.“

„Was genau hätte ich denn da zu tun?“, wollte Willem wissen.

„Du musst schwören, dass du niemandem etwas verrätst“, sagte Boris.

„Und was noch?“ Willem zog spöttisch die Nase kraus. „Lass mich raten. Wir tricksen die Reichen aus und verteilen das Geld an die Armen? Wie Robin Hood im Sherwood Forest. Oder Klaus Störtebeker auf hoher See.“

„Quatsch mit Soße!“, erklärte Jasmin. „Wir wollen Spaß haben. Und der Welt ’ne Nase drehen. Die anderen sollen ruhig merken, dass es uns gibt. Ob das nun der Mauer-Job ist. Oder bei Bedarf einer Oma das Einkaufsnetz in den fünften Stock tragen. Oder den Hund ausführen.“


Klingt so ähnlich wie bei den Jungen Pionieren, dachte Willem, oder wie in dem Buch Timur und sein Trupp. Er behielt den Gedanken jedoch für sich. Der Unterschied wurde offenbar, als Jasmin die Pointe verriet: „Natürlich nicht für Nasse, sondern gegen ein kleines Honorar. So ist die Welt nun mal sortiert. Ohne Moos nix los! Alle packen zu und jeder kriegt seinen Anteil. Und wenn Not am Mann ist, steht einer dem anderen bei.“

Anton blickte Willem einladend an. „Na, Ostbrot, wie wär’s?“

„Warum nicht?!“, erwiderte Willem. „Beim nächsten Raubzug bin ich dabei.“

Ein dreistimmiges „Mauer Power!“ schlug ihm entgegen.

„Mauer Power!“, brüllte er zurück.

„Dann sehen wir uns morgen zum Steineklopfen“, bestimmte Jasmin. „Ab Mittwoch wird gebastelt. Und am Sonnabend startet der Testverkauf.“ Und sie zog aus einem der unzähligen Pappkartons einen neuen Adventskalender hervor, der verführerisch nach Lebkuchen duftete und an dem noch nicht ein einziges Türchen geöffnet war.

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23 aralık 2023
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9783944575049
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