Kitabı oku: «Carl Schmitts Gegenrevolution», sayfa 2
Schmitt möchte hier verstehen, weshalb Deutschland auf Hitler hereinfiel. Der souveräne und „charismatische“ Führer erscheint ihm plötzlich nur noch als Projektionsfläche und Phantom diverser Zuschreibungen. So merkwürdig und fragwürdig solche Überlegungen auch sind, formulieren sie doch auch eine Kapitulationserklärung der eigenen personalistischen Führersehnsucht: Die Flucht aus der Norm in die Entscheidung, der Abbau liberaler Verfahren und Machtkontrollen übereignete das Recht der Willkür und Tyrannei. Viele einstige Weggefährten brachen mit Schmitt und beschrieben seine „zynische“ und „dämonische“ Gestalt teils atemberaubend negativ. Moritz Bonn, ein einstiger Förderer, meinte: „Wie alle schwachen Geister lechzte er nach der befreienden Tat; ob Tat oder Untat, war ihm schließlich einerlei“.15 Karl Löwith kritisierte Schmitts „Dezisionismus“ 1935 als politischen Opportunismus16 und zielte damit auch gegen den philosophischen Existentialismus seines akademischen Lehrers Heidegger. Für das nihilistische Pathos bloßer „dezisionistischer“ Entschlossenheit erinnerte er an einen Freiburger Witz: „Ich bin entschlossen, nur weiß ich nicht wozu.“17 Schmitts politischer Theorie und Verfassungslehre wurde immer wieder vorgeworfen, dass sie die Staatszwecke nicht positiv formulierte. Max Weber hatte einst gehofft, dass der moderne Parlamentarismus den Typus des „Verantwortungspolitikers“ ausprägen würde. Diese Hoffnung auf eine qualifizierte demokratische Führerauslese war spätestens mit der Selbstpreisgabe der Weimarer Republik an den Nationalsozialismus erledigt: Das Volk wählte sich falsche Führer. Wenn Schmitt nach 1945 endlich zugab, dass der „charismatische Führer“ ein destruktiver Hasadeur war, verwarf er auch seine frühere „personalistische“ Antwort.
Schmitt flüchtete aus den Krisen der Weimarer Demokratie in die totalitäre Diktatur. Sein Werk war in den kritischen Analysen stärker als in den radikalen Antworten. Manche frühere Positionen revidierte er nach 1945. „Eine geschichtliche Wahrheit ist nur einmal wahr“ (VRA 415), schrieb er seinen Lesern nun ins Stammbuch, äußerte sich nicht mehr offen nationalistisch und verzichtete auf öffentliche Kommentare zur Bundesrepublik, der er privatim aber die Souveränität und Legitimität bestritt. Die Neue Rechte beruft sich heute gerne auf Schmitt als „Klassiker“ des Rechtsintellektualismus, da direkte NS-Anschlüsse unmöglich sind, rezipiert ihn aber meist nur mimetisch und epigonal auf niedrigem Niveau. Sie übernimmt Schlag- und Stichworte ohne originäre Analysen. Von Mohler über Maschke zu Kubitschek zeigt sich hier auch ein intellektueller Absturz. Es gibt heute erneut eine Sehnsucht nach einfachen Antworten und starken „Führern“. Die „charismatischen“ Führer und Autokraten aber entpuppen sich vielfach erneut als populistische Idioten, Dummköpfe, Hochstapler und Hasadeure. Ist Schmitts Befund einer Entliberalisierung der Demokratie heute wieder sachlich aktuell, so zeigen die populistischen Demagogen, dass der Ruf nach dem souveränen Führer und radikalen Systemalternativen keine tragende Antwort bietet. Liberalismus ohne Demokratie verkennt den Gleichheitsanspruch des Individualismus, Demokratie ohne Liberalismus und Liberalität aber wird totalitär. Nur die strikte Befristung und Beschränkung der Macht schützt vor falschen Führern.
Teil A: Gegenrevolutionäre Profilierung im geistesgeschichtlichen Spiegel
I. Der „schmale Weg des Transzendentalismus“. Schmitts Weg zur gegenrevolutionären Souveränitätslehre
1. Fehlende Antwort auf den Rechtshegelianismus?
Carl Schmitt begann seine akademische Karriere als Strafrechtler. Das Strafrecht gehört zum öffentlichen Recht.1 Ähnlich wie sein Straßburger akademischer Lehrer Fritz van Calker (1864–1957) verband Schmitt es mit dem Staatsrecht, wenn er seine Habilitationsschrift der Staatsphilosophie widmete und seine Studie explizit als „philosophische Untersuchung“ (WdS 9) und „Argumentation“ bezeichnete. Er kombinierte Strafrecht und Staatsrecht also früh und grundlegend mit philosophischen Fragen. Die Kombination Strafrecht und Rechtsphilosophie war seit Kant und Feuerbach akademisch gängig, weil das Recht des Staates, seine Bürger zu bestrafen, nach liberaler Auffassung besonders begründungsbedürftig ist. Gustav Radbruch (1878–1949) vertrat diese Kombination lange in Heidelberg; Schmitt kam in Straßburg mit Max Ernst Mayer (1875–1923) in engeren Kontakt, der ebenfalls für die Verbindung von Strafrecht und Rechtsphilosophie stand.
Die deutsche Universitätsphilosophie tendierte nach 1900, nach gängiger philosophiegeschichtlicher Einschätzung,2 zum Übergang vom Neukantianismus zum Neo-Hegelianismus, zu Lebensphilosophie und Phänomenologie. Wilhelm Windelband (1848–1915), ein Schulpapst der – von der sog. „Marburger Schule“ (Cohen, Cassirer, Natorp) sich abgrenzenden – sog. „südwestdeutschen Schule“ des Neukantianismus, hatte lange (1882–1903) in Straßburg gewirkt und 1910 bereits eine „Erneuerung des Hegelianismus“ proklamiert. Diese Schule war kultur- und wertphilosophisch akzentuiert. Schmitt grenzte sich mit seiner Habilitationsschrift auch von der „Marburger“ Ethik Cohens ab und neigte mehr der „südwestdeutschen“ Betrachtungsweise zu, wie sie in Straßburg vorherrschte.
Der damalige Neo-Hegelianismus spaltete sich in Links- und Rechtshegelianismus. Schmitt beobachtete die Entwicklung des marxistischen Links-Hegelianismus schon vor 1933 insbesondere bei Georg Lukács (1885–1971) und fragte lebenslang, wo Hegels Philosophie aktuell dominierte und residierte: ob etwa in Berlin, Moskau oder Rom, verkürzt formuliert. Schmitt unterschied „Hegel-Linien“ und trat gerade im Spätwerk explizit in einen Kampf um Hegels Erbe ein. Diesen Kampf führte er eigenwillig jenseits buchstäblicher Hegel-Studien wie der Sekundärliteratur. Seine Hegel-Rezeption lässt sich in ihrer Intensität allenfalls mit seiner Hobbes-Rezeption vergleichen; selbständige Hegel-Studien hat Schmitt aber nicht publiziert. Der junge Hegel und die Phänomenologie des Geistes beschäftigten ihn mehr als der spätere Systemphilosoph, der in Berlin „Naturrecht und Staatswissenschaft“ systematisch miteinander verknüpfte. Zu den bekannten Autoren des zeitgenössischen Rechtshegelianismus hielt Schmitt lebenslang auf Abstand: insbesondere zur Schule Julius Binders, die den Rechtshegelianismus in die nationalsozialistische Rechtswissenschaft trug und mit Karl Larenz einen gewichtigen Autor fand, der auch in der Bundesrepublik noch durch grundlegende Lehrbücher großen Einfluss auf die deutsche Rechtswissenschaft nahm.
Diese buchstäbliche Distanz zum zeitgenössischen Rechtshegelianismus ist höchst verwunderlich; niemand wäre damals erstaunt gewesen, wenn Schmitt den Schulterschluss gesucht und sich zum Rechtshegelianismus bekannt hätte, wie es sein bedeutender Schüler Ernst Rudolf Huber (1903–1990) nach 1933 auch tat. Schmitts ambivalentes Verhältnis zur Philosophie lässt sich schon im Verhältnis zum zeitgenössischen Neuhegelianismus sehen. Seine Hegel-Rezeption ist hier nicht nachzuzeichnen. Nur eine Bemerkung sei erinnert: In den Verfassungsrechtlichen Aufsätzen heißt es 1958 in einer Glosse:
„Schon meiner Dissertation ‚Über Schuld und Schuldarten‘ von 1910 hatte Karl Binding mit vollem Recht entgegengehalten, dass ihr die Auseinandersetzung mit dem Hegelianischen Strafrecht fehlt. In den folgenden Jahrzehnten bin ich den bedeutenden hegelianischen Rechtsphilosophen meiner Zeit, Julius Binder und Karl Larenz, eine Erwiderung auf ihre Argumente schuldig geblieben. An dieser Stelle kann ich das große Versäumnis nicht nachholen.“ (VRA 428)
Die erwähnte Bemerkung von Karl Binding (1841–1920) ist nicht bekannt. Im Frühwerk hat Schmitt Binding rezipiert. Wahrscheinlich wardiese Rezeption für die Klärung seines Ansatzes auch wichtig; Schmitts Verhältnis zu Binding ist aus den Quellen aber kaum zu klären. Karl Larenz (1903–1993) hat Schmitt sicher gekannt; er gehörte wie Huber zu der jüngeren Generation, die im Nationalsozialismus die Lehrstühle (oft exkludierter Gelehrter) besetzte und die Rechtswissenschaft massiv nazifizierte. Binder und Larenz sahen die Nähen ihres neuhegelianischen Ansatzes zu Schmitts „konkretem Ordnungsdenken“3 und äußerten sich wiederholt zu dessen Schriften, während Schmitt schwieg. Was eine forcierte Hegelianisierung des Nationalsozialismus über Schmitt hinaus bedeutet, lässt sich damals an Hubers Schriften beobachten.
Auch im Nationalsozialismus mied Schmitt weiter eine philosophisch-systematische Fundamentierung. 1958 sprach er in seiner Glosse nicht nur vom Hegelianischen Strafrecht,4 sondern von Hegel allgemein. Wenn er Binder und Larenz namentlich erwähnte, meinte er vermutlich weniger die Schriften als die schulbildende Wirkung Binders in Göttingen insbesondere auf Larenz.5 Ansonsten ist kaum verständlich, dass Schmitt schreibt, er sei Binder eine „Erwiderung“ schuldig geblieben. Zwar hat er dessen Göttinger Spätwerk seit 1919 kaum beachtet, insbesondere dessen 1925 erschienene Philosophie des Rechts nicht; Binders propädeutisches Werk Rechtsbegriff und Rechtsidee von 1915 aber hat er eingehend rezensiert. Diese 1916 erschienene Rezension ist ein Abschluss der „rechtsphilosophischen“ Grundlegungsarbeit des Frühwerks. Sie markiert eine Positionierung im Übergang vom Neukantianismus zum Neo-Hegelianismus und klärt Schmitts Distanz zum Neuhegelianismus in der Rechtswissenschaft. Als Abschied von expliziter rechtsphilosophischer Fundamentierung ist sie ein Epochenabschluss im Werk.
2. Erste Antwort auf Neukantianer
Schmitts Schrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, spätestens Januar 1914 bei Mohr erschienen,6 1916 als Habilitationsschrift in Straßburg eingereicht und 1917 erneut publiziert, stellt sich einleitend die Aufgabe, „den Staat in seiner Vernünftigkeit“ (WdS 15) zu erkennen. Mit dem liberalen Strafrechtsphilosophen P. J. A. Feuerbach geht Schmitt hier davon aus, dass Kant an der Trennung von Recht und Ethik gescheitert sei, weil „Recht nicht aus der Ethik abgeleitet“ (WdS 18) werden könne. Während Cohen das Problem aus philosophischer Sicht ethisch verkannt habe, stelle sich spätestens seit Rudolf Stammler diese Trennungsfrage für die Rechtswissenschaft. Im ersten Kapitel der Schrift, „Recht und Macht“ überschrieben, fragt Schmitt nach den Möglichkeitsbedingungen von Rechtswissenschaft transzendentalphilosophisch und wissenschaftstheoretisch, wie es dem zeitgenössischen Neukantianismus entsprach; er führt aus, dass Rechtswissenschaft nur möglich ist, wenn die Rechtstheorie die „Machttheorie“ des Rechts zurückweist und auf der Differenz von Macht und Recht besteht. Nur dann sei die Antithese von Sein und Sollen und das Recht als „Norm“ und „Gebot“ bewahrt. „Wenn es ein Recht geben soll, dann darf es nicht aus der Macht abgeleitet werden, denn die Verschiedenheit von Recht und Macht ist nicht zu überbrücken.“ (WdS 35) Schmitt grenzt sich von der Machttheorie des Rechts und vom Rechtspositivismus ab und besteht auf einer Grundnorm oder Rechtsidee, die „Normen in lückenloser Geschlossenheit unabhängig von jeder Empirie“ (WdS 37) statuiert oder hypostasiert. Beiläufig erwähnt er hier bereits Hans Kelsen, bezieht sich aber für den rechtsphilosophischen Diskussionsstand mehr auf Stammler und Natorp.
Schmitt deutet eine eigene Antwort an, die auf seine spätere Politische Theologie vorauszudeuten scheint: Die Unterscheidung von Macht und Recht, Sein und Sollen, Setzung des Rechtssystems als Normensystem bezeichnet Schmitt nämlich als religiöse „Bewertung“, als einen Vertrauensakt oder Vertrauensvorschuss, für den er aus Luthers Schrift De potestate Papae (WdS 29) zitiert. Schmitt zitiert auf Latein: „Primum, quod me movet, rhomanum pontificem esse aliis omnibus superiorem, est ipsa voluntas dei, quam in ipso facto videmus. Neque enim sine voluntate dei in hanc monarchiam unquam venire potuisset rhomanus pontifex.“ In deutscher Übersetzung heißt es: „Das Erste, das mich zu der Annahme bewegt, dass der römische Bischof allen anderen, wenigstens allen, von denen wir wissen, dass sie sich als Bischöfe aufspielen, überlegen ist, das ist der Wille Gottes selbst, den wir in eben dieser Tatsache am Werke sehen. Denn ohne den Willen Gottes hätte der Papst zu Rom niemals in diese monarchische Stellung geraten können.“7 Der Verweis auf die Autorität Luthers signalisiert, dass selbst Luther die religiöse „Anerkennung“ der Macht als Recht ausgerechnet in einer Kampfschrift gegen den Papst zugeben musste.
Die „Zurückführung einer tatsächlichen Macht auf den Willen Gottes“, dieses „Bekenntnis höchsten Vertrauens“, Macht als Recht anzuerkennen, formuliert Schmitt folgendermaßen:
„Es ist nämlich, aus der Definition des Rechts als Macht eine Bewertung herauszuhören, die an dem Begriffe der Macht zu hängen scheint, indem jede, wenigstens jede relativ dauernde und beständige Macht als berechtigt und begründet – nicht bloß erklärlich – aufgefasst wird.“ (WdS 29)
Man ist geneigt, solche Formulierungen bereits mit der späteren Souveränitätslehre kurzzuschließen. Schmitt erklärt die Unterscheidung von Macht und Recht nicht nur zu einer notwendigen Voraussetzung der Rechtswissenschaft, sondern auch zu einer alltäglichen Erfahrung und gelebten Praxis und deutet diesen soziologischen Befund religiös oder religionsphänomenologisch. Für diese Anerkennung von Macht als Recht, mit Georg Jellinek gesprochen: als „normative Kraft des Faktischen“, zitiert er nach Luther dann Julius Stahl, was im Horizont späterer antisemitischer Stigmatisierung Stahls intrikat ist. Für eine solche „religiöse“ Sanktionierung der Wahrnehmung von Macht als Recht ließen sich vergleichbare Stellen bei Kant oder Hegel finden. So schreibt Kant in der Metaphysik der Sitten:
„Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Hinsicht unerforschlich. […] Ein Gesetz, das so heilig (unverletzlich) ist, dass es, praktisch, auch nur in Zweifel zu ziehen, mithin seinen Effekt einen Augenblick zu suspendieren, schon ein Verbrechen ist, wird so vorgestellt, als ob es nicht von Menschen, aber doch vor irgend einem höchsten tadelfreien Gesetzgeber herkommen müsste, und das ist die Bedeutung des Satzes: ‚alle Obrigkeit ist von Gott‘“.8
Hegel schreibt:
„Überhaupt aber ist schlechthin wesentlich, dass die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist.“9
Schmitt betrachtet den „Dualismus“ von Macht und Recht im historischen Rahmen der „Zwei Schwerter“-Lehre und betont, dass das katholische und das protestantische Kirchenrecht zwei konträre Antworten und Lösungen gaben. Er zitiert diverse kirchenrechtliche Literatur und deutet bereits an, dass Rudolph Sohm (1841–1917) und Ulrich Stutz (1868–1938) die protestantische Alternative zum Katholizismus besonders deutlich entwickelten. Sohms Wirkung auf Max Weber betonte Schmitt später immer wieder. Es ist naheliegend, seine Habilitationsschrift als „katholisches“ Credo zu deuten, was hier aber nicht weiter interessiert. Hier soll auch weniger beschäftigen, ob Schmitt 1914 bereits eine eigene Antwort gibt, die auf seine spätere „Politische Theologie“ und Souveränitätslehre vorausweist. Mit Blick auf die Binder-Rezension interessiert vor allem die Positionierung zum Neukantianismus.
Wie in seiner Dissertation ignoriert Schmitt auch in der Habilitationsschrift den eigenen Ansatz einer philosophischen Ethik und betont die Eigenständigkeit des Rechts. In der letzten Fußnote Über Schuld und Schuldarten hieß es 1910 bereits dezidiert: „Die Frage nach der Schuld ist in jeder Hinsicht eine metajuristische.“ (SS 137). Schmitt klammerte sie vollständig aus und sprach stattdessen nur von der juristischen Konstruktion der „Schuldarten“. Im zweiten Kapitel vom Wert des Staates definiert er den Staat, kursiv hervorgehoben, nun folgendermaßen: „Der Staat ist demnach das Rechtsgebilde, dessen Sinn ausschließlich in der Aufgabe besteht, Recht zu verwirklichen“ (WdS 56). Schmitt schließt eine äußert knappe „Auseinandersetzung mit der Rechtslehre Kants und seiner Nachfolger“ (WdS 60) an, nennt Stammler, Natorp und Cohen, geht auf Cohen aber nicht erneut ein, weil er dessen Ethik des reinen Willens bereits einleitend als ethische Verkennung der Rechtswissenschaft abgelehnt hatte. Schmitt meint, dass Kant Recht und Moral nicht konsequent genug getrennt habe, weil er den „Rechtszwang“ ethisch begründen wollte. Auch Kants Nachfolger hätten „Autonomie und Heteronomie“ miteinander vermengt. Stammlers Theorie der Rechtswissenschaft habe immerhin das Problem gesehen, dass Kant Recht und Sittlichkeit nicht überzeugend voneinander trennte und verband; Natorp habe das Problem dann zu lösen versucht, das Cohen ignorierte.
Schmitts knappe Skizze ist argumentativ schwer zu beurteilen, zumal die genannten Autoren – Kant, Stammler, Natorp, Cohen – ihrerseits höchst komplex und anspruchsvoll argumentieren. Die Ausführungen lassen aber erkennen, dass Schmitt eine Grundfrage der neukantianischen Rechtsphilosophie problemgeschichtlich skizziert und seine eigene Antwort nicht innerhalb des Neukantianismus sucht, sondern eher auf kirchenrechtliche Lösungen zu verweisen scheint. Dieser Rückgang hinter die rechtsphilosophische Diskussion auf das Kirchenrecht muss nicht als konfessionelles Credo betrachtet werden. Man könnte ihn im Rahmen des südwestdeutschen Neukantianismus auch als kulturphilosophischen Rückgang auf faktische (kirchenrechtliche) Formationen betrachten und mit einigen Überschwang etwa auf Max Webers „verstehende“ Religionssoziologie verweisen: Wo Webers berühmte „Zwischenbetrachtung“10 die Religionssoziologie in eine „Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung“ kondensierte, erörtert Schmitt fast gleichzeitig eine positive konfessionelle „Bewertung“ des Machts als Recht und die damit – vorbehaltlich – gegebene Anerkennung des Staates. Hier muss genügen, dass er die zeitgenössische rechtsphilosophische Ausgangsstellung und Aufgabe insbesondere mit Stammler verband, mit dem er sich früher schon in nachgelassenen Aufzeichnungen (TB 1912/15, 73ff) auseinandergesetzt hatte.
3. Schmitts Binder-Kritik
Kommen wir damit zur Binder-Rezension von 1916. Es lag damals akademisch nahe, dass der junge Autor des Werts des Staates sich für eine grundlegende Monographie über die „Rechtsidee“ interessierte und sich zu Stammler und Binder positionieren wollte. Der allgemeine philosophiegeschichtliche Rahmen ist der angedeutete Übergang vom „Neukantianismus“ zum „Neuhegelianismus“. Larenz, als Binder-Schüler einer der Erben dieser Debatte, skizzierte ihn rückblickend in seiner Methodenlehre der Rechtswissenschaft folgendermaßen:
„Die Erneuerung der deutschen Rechtsphilosophie zu Beginn unseres Jahrhunderts ist in erster Linie das Werk Rudolf Stammlers. Durch ihn wurde eine rechtsphilosophische Bewegung eingeleitet, die, so vielfältig und verschlungen ihre Wege im einzelnen auch sind, im ganzen durch die Abkehr vom Positivismus gekennzeichnet ist. Die Abkehr vom Positivismus verband sie durchweg mit der Bejahung der Geschichtlichkeit des Rechts; so strebte sie einer Synthese der beiden großen Geistesströmungen: des ‚Naturrechts‘ und des ‚Historismus‘, zu. Etwa zu Beginn der zwanziger Jahre hatte die vom Neukantianismus ausgehende Bewegung – mit ersten Werken, mit Lask, Radbruch, Max Ernst Mayer, mit Emge, Laun u.a. – ihren Höhepunkt erreicht; Sie setzte sich teilweise im Neuhegelianismus (Binder, Schönfeld, Dulckeit) fort.“11
Stammler wie Binder sind heute als Autoren kaum noch bekannt. Während Stammlers Name wissenschaftsgeschichtlich fast nur noch in der Weber-Forschung fortlebt, durch den Vernichtungsschlag, den Weber12 gegen Stammlers „‚Überwindung‘ der materialistische[n] Geschichtsauffassung“ führte, diskredierte sich der juristische Rechtshegelianismus der Binder-Schule durch seine Apologie des Nationalsozialismus selbst. Wie Larenz andeutet, ist die rechtsphilosophische Diskussionslage vor und nach 1918 durch die Namen Stammler und Binder und die Aufgabe einer „Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie“ zwar nicht hinreichend bezeichnet. So wäre bspw. auch auf die sog. „Lebensphilosophie“ nach Dilthey und Nietzsche sowie die stärker „katholisch“ geprägte Rechtsphänomenologie zu verweisen. Wichtig ist aber, dass Schmitt sich mit seinem Frühwerk und seinen akademischen Qualifikationsschriften in dieser Diskussionslage verortete.
Seine Binder-Besprechung steht in einer Reihe kleinerer Rezensionen und Miszellen, in denen Schmitt sich mit zeitgenössischen Autoren auseinandersetzte. Die Erträge gehen in die frühen Monographien ein. Neben Miszellen zu Schopenhauer und Wagner sind hier vor allem Rezensionen zu Fritz Mauthner (1849–1923) und Walther Rathenau (1867–1922), Hans Vaihinger (1852–1933) und eben Binder (1870–1939) zu nennen. Vaihinger, der Begründer der Kant-Studien, Autor einer frühen Nietzsche-Studie, lehrte lange in Halle, wo auch Stammler in der Rechtswissenschaft wirkte. Seine Philosophie des Als-Ob modernisierte Kant mit Nietzsche.13 Schmitts frühe Vaihinger-Rezeption ist bleibend wichtig, was von der Forschung vielfach bemerkt wurde, wogegen die Mauthner-Rezeption und die Binder-Kritik bislang fast keinerlei Beachtung fanden. Die Mauthner-Rezension14 zeigt Schmitts frühes Interesse an Sprachkritik und Begriffsgeschichte, das in der Dissertation bereits im Untertitel als „terminologische Untersuchung“ anklingt. Die längere Binder-Rezension argumentiert stärker philosophisch und steht im engen Zusammenhang mit der Habilitationsschrift. Fragte Der Wert des Staates nach der neukantianischen Antwort über Stammler hinaus, so fragt die Binder-Rezension, ob es Binder gelungen sei, den neukantischen „Rechtsbegriff“ durch eine andere transzendentale Auslegung der „Rechtsidee“ zu überbieten.
Binder, deutlich jünger als Stammler (1856–1938), lehrte damals in Würzburg und wechselte 1919 nach Göttingen, wo er schulbildend wirkte. Sein offenes Bekenntnis zum Neuhegelianismus wird meist erst mit der Göttinger Zeit und der Philosophie des Rechts verbunden. Im Vorwort von Rechtsbegriff und Rechtsidee deutet Binder politische Motive an, wenn er von der „Erhebung des deutschen Volkes“ spricht: „Ist es nicht Hegels metaphysischer Geschichtsidealismus, nach dem unser die großen Ereignisse des Jahres 1914 erlebendes Gemüt verlangt, um den Sinn dieses Erlebens zu verstehen“?15 Schon 1915 klingt ein scharfer Nationalismus an, der Binder nach 1918 zur Ablehnung von Versailles16 wie der Weimarer Republik, später zur emphatischen Bejahung des Nationalsozialismus17 führen wird. Für die philosophische Grundlegung beruft sich Binder 1915 dennoch auf Kant. Wie Stammler ist er allerdings der Auffassung, dass Kant Sein und Sollen nicht strikt genug getrennt habe und „bei aller grundsätzlichen Gegnerschaft gegen das Naturrecht im Grunde doch in denselben Fehler wie dieses verfallen ist, nämlich das Seiende mit dem Seinsollenden zu identifizieren.“18
Schmitt liest Rechtsbegriff und Rechtsidee nun nicht als Übergang zum Neuhegelianismus, sondern als Rückfall in den Positivismus. Binders umfangreiches Werk heißt im Untertitel: Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Rudolf Stammlers. Binders Analyse geht Stammlers Werk spröde, kleinteilig und ermüdend durch und entwickelt noch keine alternative Rechtsphilosophie. Es ist hier nicht zu erörtern, ob Schmitt Binders Werk angemessen dargestellt und kritisiert hat. Seine Rezension liest sich wie eine Replik auf Binders Stammler-Kritik. Schmitt verteidigt Stammler aber nicht eingehend gegen Binder, sondern interessiert sich schon früh, Jahre vor Binders Systematisierung seiner Rechtsphilosophie, mehr für dessen Anspruch auf idealistische Revision und Überbietung des neukantianischen Rahmens durch eine neue „Rechtsidee“; Schmitt fragt danach, ob Binder über Stammler hinausgelangt oder nicht vielmehr hinter dessen Transzendentalismus zurückgefallen sei. Es ließe sich dafür Webers höhnische Wendung von „Stammlers ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ adaptieren: Schmitt polemisiert gegen Binders idealistische „Überwindung“ von Stammlers Rechtsbegriff.
Binder bekennt sich 1915 noch zur Transzendentalphilosophie und nicht zur „Hegelschen Rechtsmetaphysik“ (SS 174). Schmitt führt aus, dass Binder zutreffend kritisiert, dass Stammlers Rechtsbegriff nur ein „System abstrakter Rechtsbegriffe“ und keine „reinen“ bzw. „transzendentalen“ Kategorien erfasst habe; er selbst hatte die rechtsphilosophische Aufgabe im Wert des Staatesähnlich beschrieben und zwischen „transzendentaler“ Rechtsphilosophie und „allgemeiner“ Rechtslehre (analytischer Rechtstheorie) strikt unterschieden. Als Zwischenergebnis formuliert Schmitt:
„Nach dem Ergebnis von Binders Kritik ist demnach selbst dem heißen Bemühen eines Gelehrten wie Stammler das mit den tauglichsten Mitteln begonnene Unternehmen einer reinen Rechtslehre misslungen. So wächst die Erwartung, auf welche Weise wohl Binder selbst den schmalen Weg des Transzendentalismus einschlagen wird, ohne von ihm nach der Seite einer transzendenten Metaphysik oder nach der eines empirischen Positivismus abzuweichen.“ (SS 176)
Der Leser ahnt bereits, dass Schmitt zu einem negativen Befund gelangen wird. Er führt ätzend aus, dass Binder hinter Stammlers Autonomisierung des Rechtssystems zurückgefallen sei, weil seine Überhöhung des Rechtsbegriffs durch eine apriorische „Rechtsidee“ – man ist versucht, von „Grundnorm“ zu sprechen – gänzlich bedeutungslos bleibe und den Normativismus faktisch in das Stadium des Positivismus zurückwerfe, der die Differenz von Macht und Recht kassiert. Schmitt schreibt: „Binder zieht die Positivität im faktischen Sinne in den Begriff des Rechts.“ Seine „Rechtsidee“ füge Stammlers „Rechtsbegriff“ nichts hinzu, bleibe ein „leeres Wort“ ohne „praktische Bedeutung“ (SS 179); Binder erkläre die apriorische Norm zur „Funktion des Bewusstseins, durch die wir gewisse Bewusstseinsinhalte als rechtliche erkennen“ (SS 177), und liefere keine Kriterien für die normative Bewertung, sodass im Ergebnis nichts anderes als die faktische Anerkennung des gegebenen Rechts bleibe. Das zeigt Schmitt im zweiten Schritt für Binders Verhältnisbestimmung von „Recht und Ethik“, die die sittliche Persönlichkeit mit ihrer positivrechtlichen Umschreibung gleichsetze. Im Ergebnis spricht Schmitt von einer unkritischen „Abkehr von dem Kantischen Prinzip“ und vom „Vorbau einer positivistischen Rechtslehre“.
Schmitt verwirft also Binders „Rechtsidee“ insgesamt und betrachtet das ganze Werk als Rückfall in den Positivismus. Er erörtert das insbesondere an zwei Aspekten: am psychologistisch-intuitionistischen Fehlschluss, die Anerkennung von Rechtsnormen für „apriorisch“ zu halten, sowie an der Absorption jedes ethischen Verständnisses von Personalität durch das positive Recht. Beide Aspekte waren schon für die Habilitationsschrift zentral. Dort attestierte Schmitt der neukantianischen Debatte eine mangelnde Klärung des Verhältnisses von Recht und Ethik, und er deutete die positive „Bewertung“ des Rechtssystems und damit gegebene Unterscheidung von Macht und Recht als ein soziologisches und religionsphänomenologisches Faktum.
Während Schmitt eine eigene philosophische Grundlegung der Ethik jenseits des Rechtsdenkens niemals unternahm, ist seine Ablehnung von Binders Kurzschluss von Rechtsbejahung auf Apriorismus vielleicht schon deshalb so vehement, weil seiner eigenen Antwort, mit dem Verweis auf die Antworten des Kirchenrechts, ihrerseits ein Odium des Soziologismus und Psychologismus anhaftete. Das zeigt sich im Wert des Staates schon in der hegelianisierende Rede vom Umschlag von „Quantität in die Qualität“, von der Quantität als „Symbol oder Indiz einer Qualität“ (WdS 35): gemeint ist das soziologische Faktum einer Anerkennung des Rechtssystems durch die Unterworfenen. Dass Schmitt diese Anerkennung voraussetzt und religionsphänomenologisch verklärt, ließe sich als Kniefall vor der Macht und Sakralisierung von „Autorität“ deuten: als Forderung eines „autoritären Charakters“ und Konstruktion des Bürgers als „Untertan“. Diese Legitimation von Herrschaft drapiert sich mit einem überkonfessionellen Begriff von Religiosität, wie er damals etwa von Rudolf Otto (1869–1937) mit der Rede vom „Numinosen“ entwickelt wurde.19 Schmitt ärgert es, dass Binder das „Apriorische“ naiv reklamiert und Rechtspositivismus mit Rechtsphilosophie verwechselt; er sieht Stammler wie Binder „auf dem schmalen Weg des Transzendentalismus“ scheitern, macht mit seinen eigenen Überlegungen aber selbst nicht ganz klar, wie er die Unterscheidung von Macht und Recht sichern und den Transzendentalismus gegen die Gebildeten unter seinen Beschwörern retten möchte. Sein phänomenologischer Hinweis auf die faktische Anerkennung verbleibt eigentlich seinerseits im Horizont der „Machttheorie“.