Kitabı oku: «Die verkannten Grundlagen der Ökonomie», sayfa 4
Kapitel 2: Wirtschaft im Weitwinkel
Mittlerweile gibt es Millionen von Menschen, die nicht länger bereit sind, Leid und Ungerechtigkeit als Willen Gottes oder als Ergebnis geheimnisvoller, scheinbar naturgegebener Wirtschaftsgesetze zu betrachten. Die gesundheits- und umweltschädigenden Auswirkungen einer außer Kontrolle geratenen Industrialisierung haben Menschen weltweit in Alarmbereitschaft versetzt. Sie sind besorgt darüber, dass die Regeln des globalen Handels zu sinkenden Löhnen führen und Arbeitsschutzbestimmungen aushebeln, die im Westen bislang als selbstverständlich galten. Diese Menschen sind sich dessen bewusst, dass in großen Teilen der Welt noch Hunger und Armut herrschen. Sie erkennen, dass selbst in den reichen USA die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, wenn dort zum Beispiel in deutlichem Missverhältnis Gelder für das Schulessen von Millionen von Armut betroffener Kinder gekürzt werden, während Unternehmen Millionen an Subventionen und die Superreichen Steuerrückerstattungen erhalten. Sie fordern die Abschaffung einer Buchhaltungspraxis, die es Führungskräften in Unternehmen erlaubt, sich selbst auf Kosten von Vorsorgeplänen für Angestellte oder Kapitalbeteiligungen von Anteilseignern zu bereichern. Kurz gesagt: Diese Menschen prangern rücksichtslose Wirtschaftspolitik und Geschäftspraktiken an und verlangen, dass diese durch auf Fürsorge basierende Politik und Praktiken ersetzt werden.
2.1 Die gesellschaftlichen Grundlagen der Wirtschaft
Wirtschaftssysteme entstehen nicht in einem Vakuum. Sie entwickeln sich in einem umfassenderen gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Kontext. Um eine Grundlage für ein neues Wirtschaftssystem schaffen zu können, müssen wir diesen umfassenderen Kontext verstehen und verändern. Erst dann können wir eine effektive Wirtschaftsordnung aufbauen, die das Wohlergehen und die Weiterentwicklung der Menschen unterstützt und fördert und die natürliche Lebensgrundlage unserer Kinder und zukünftiger Generationen schützt und erhält.
So seltsam es klingen mag: Wenn wir unser Wirtschaftssystem ändern wollen, dürfen wir uns nicht auf die Wirtschaft allein konzentrieren. Wir müssen tiefer und weiter gehen. Wir können ineffiziente, ungerechte und umweltschädigende Wirtschaftspraktiken überwinden – aber damit uns das gelingt, müssen wir die gesellschaftlichen Faktoren betrachten, die unsere Wirtschaft und unsere Wirtschaftstheorien formen und wiederum von diesen geformt werden. Anders ausgedrückt: Wir können Wirtschaftssysteme nicht verstehen, geschweige denn verändern, solange wir nicht den umfassenderen Kontext betrachten, also die psychologischen und gesellschaftlichen Beziehungsdynamiken in allen Lebensbereichen.
In Wirtschaftssystemen geht es um eine Form menschlicher Beziehungen. Es geht nicht um Verbindungen zwischen Gütern, sondern zwischen Menschen. Aus diesem Grund müssen Menschen sowie Tätigkeiten, die menschliches Leben und menschliche Beziehungen verbessern, im Mittelpunkt wirtschaftlicher Analysen stehen. Unser Leben wird von Beziehungen bestimmt. Beziehungen bilden die Grundlage aller gesellschaftlichen Institutionen – angefangen von Familie, Erziehung und Bildung bis hin zu Politik und Wirtschaft.
Die neuartige wissenschaftliche Herangehensweise an die Wirtschaft, die in diesem Buch vorgestellt wird, hat sich aus einer Fachgebiete übergreifenden Forschung heraus entwickelt und findet aus der Perspektive unterschiedlicher wissenschaftlicher Theorien wie der Systemtheorie der Evolution, der Chaostheorie, der Komplexitätstheorie, der Selbstorganisationstheorie und weiterer neuer Betrachtungsweisen sozialer Systeme statt. Die auf dieser Herangehensweise basierende Forschung führte zunächst zur Veröffentlichung von Kelch und Schwert. Unsere Geschichte, unsere Zukunft, worin ich eine mehrdimensionale Betrachtungsweise der Menschheitsgeschichte einführe, um zum Kern dessen vorzustoßen, was uns in unserer kulturellen Entwicklung vorantreibt bzw. zurückwirft.1 Im Rahmen dieser Forschung entstanden auch weitere Bücher, in denen ich das Thema Geschlechter und Macht aus dieser Perspektive untersuchte.2 Hier wende ich diese wissenschaftliche Herangehensweise auf die Wirtschaft an und schließe so den Kreis meiner Nachforschungen über Geschlechtlichkeit, Macht und Geld – von denen es heißt, sie würden die Welt am Laufen halten.
Meine Analyse der Wirtschaft bezieht sich auf aktuelle Ergebnisse aus der Erforschung evolutionärer Systeme und stützt sich auf die aus meiner Sicht besten Forschungsarbeiten auf dem Feld der Wirtschaftswissenschaften. Meine offizielle akademische Ausbildung habe ich nicht in Wirtschaftswissenschaft absolviert, sondern auf dem Gebiet der Rechts- und Sozialwissenschaften und der Anthropologie. Das macht mich zur Außenseiterin, was sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringt. Der Vorteil besteht darin, dass ich dadurch weniger vorgefasste Vorstellungen in meine Betrachtung der Wirtschaft mit einbringe – was einer der Gründe ist, warum Fortschritte in den unterschiedlichsten Disziplinen häufig von Außenseitern erzielt werden.
Mein Ansatz besteht darin, aus mehreren Fachströmungen zu schöpfen. Diese Forschungsmethode findet immer stärkere Verbreitung, denn wenn wir angemessen auf die Herausforderungen unserer komplexen Welt reagieren wollen, müssen wir zahlreiche Wissensgebiete miteinander verknüpfen. Bei dieser breit angelegten Analyse werden Themenbereiche – darunter auch kulturelle Überzeugungen und gesellschaftliche Institutionen – untersucht, die oberflächlich betrachtet nicht mit der Wirtschaft in Zusammenhang stehen und von der konventionellen Wirtschaftswissenschaft meistens nicht berücksichtigt werden. Besondere Beachtung schenkt diese Analyse den Überzeugungen davon, was wertvoll ist und was nicht. Zu den untersuchten Themenbereichen gehören Beziehungen, Männer und Frauen, Familie und Arbeit, Technik, Politik und all die vielen anderen Themen, die miteinander verknüpft sind und aus denen die lebendige Wirtschaft auf unserem vernetzten und zunehmend gefährdeten Planeten besteht. Tatsächlich werden Themenbereiche betrachtet, die in konventionellen Wirtschaftsanalysen völlig fehlen, wie zum Beispiel die frühe Eltern-Kind-Beziehung und die Beziehung zwischen der weiblichen und der männlichen Hälfte der Menschheit sowie die tiefgreifenden Auswirkungen, welche diese auf die Werte und die Interaktionen von Menschen haben – auch in Hinblick auf die Wirtschaft. Außerdem findet die Betrachtung hier aus einem neuen Blickwinkel statt, nämlich unter Berücksichtigung von zwei grundlegenden Beziehungsmodellen: dem von gegenseitigem Respekt getragenen Partnerschaftssystem und dem auf Hierarchie basierenden Dominanzsystem.
Frühere gesellschaftswissenschaftliche Kategorien, die mit Gegenüberstellungen wie rechts und links, religiös und säkular, Ost und West, industrialisiert und prä- oder postindustriell arbeiten, fokussieren jeweils nur Teilaspekte einer Gesellschaft, beispielsweise technologische Entwicklungen oder Fragen der geographischen oder ideologischen Ausrichtung. Das macht eine tatsächlich systemumfassende Untersuchung unmöglich. Das Partnerschaftssystem und das Dominanzsystem umfassen die Gesamtheit gesellschaftlicher Überzeugungen und Institutionen – angefangen bei der Familie über Bildung und Religion bis hin zu Politik und Wirtschaft. Das heißt, sie beschreiben umfassende soziale Strukturen, die aus dem herkömmlichen, auf enger gefassten Kategorien basierenden Blickwinkel nicht erkennbar waren.
Der Psychologe Robert Ornstein schreibt in seinem Buch Die Psychologie des Bewusstseins, dass Phänomene für uns nur schwer wahrnehmbar sind, wenn wir sie keiner Kategorie zuordnen können: Sprache stelle ein beinahe unbewusst festgelegtes Kategoriensystem dar, das es den Sprechenden ermöglicht, Erfahrungen auszublenden, die außerhalb dieses gemeinsamen Kategoriensystems liegen.3
Für einen Systemwandel brauchen wir Kategorien, die nicht einfach die grundlegenden Bereiche unserer Gesellschaft außer Acht lassen. Die Kategorien des Partnerschafts- und Dominanzsystems erfüllen diesen Anspruch. Sie umfassen die grundlegenden Werte und Institutionen einer Gesellschaft, sowohl in dem von uns als Privatsphäre bezeichneten Bereich der Familie und anderer enger Beziehungen als auch im öffentlichen Leben wie den lokalen, nationalen und internationalen Gemeinschaften. Von vorrangiger Bedeutung ist jedoch, dass sich mithilfe dieser Modelle beschreiben lässt, welche Werte und Institutionen diese beiden grundverschiedenen Beziehungsmuster jeweils fördern oder hemmen, und zwar in sämtlichen Lebensbereichen – einschließlich der Wirtschaft.
2.2 Das Dominanz- und das Partnerschaftssystem
In Dominanzsystemen gibt es in Beziehungen nur zwei Möglichkeiten: Man ist übergeordnet oder untergeordnet. Die Übergeordneten kontrollieren die Untergeordneten – sei es in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der Gesellschaft. Wirtschaftspolitik und -praxis sind darauf ausgerichtet, den Übergeordneten auf Kosten der Untergeordneten Vorteile zu verschaffen. Es herrschen hohe Anspannung und ein Mangel an Vertrauen, weil das System vornehmlich durch Angst und Zwang aufrechterhalten wird.
Fürsorge und Mitgefühl müssen unterdrückt und abgewertet werden, um die Hierarchien aufrechtzuerhalten. Das beginnt in den Familien und reicht bis in Politik und Wirtschaft. Aus diesem Grund besteht einer der Grundpfeiler einer Caring Economy aus Überzeugungen und Institutionen, die sich stärker an einem Partnerschaftssystem orientieren.
In einem Partnerschaftssystem werden Beziehungen gestärkt, die von gegenseitigem Respekt und Fürsorge geprägt sind. Auch hier gibt es Hierarchien, um die Funktionalität des Systems zu wahren, aber ich nenne diese Hierarchien »funktionelle Hierarchien«4, denn anders als bei »dominanzgeprägten Hierarchien«5 gelten Rechenschaftspflicht und Respekt hier wechselseitig und nicht nur von unten nach oben. Außerdem sind die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen so gestaltet, dass alle Ebenen teilhaben und Einfluss nehmen können. In einem Partnerschaftssystem ermutigen, inspirieren und stärken Führungskräfte, anstatt zu kontrollieren und zu schwächen. Wirtschaftspolitik und -praxis in einem Partnerschaftssystem sind darauf ausgerichtet, unseren überlebensnotwendigen Grundbedürfnissen sowie unserem Bedürfnis nach Gemeinschaft, Kreativität, Sinnhaftigkeit und Fürsorge – oder anders ausgedrückt: der bestmöglichen Entfaltung unseres menschlichen Potenzials – gerecht zu werden.
Keine reale Gesellschaft beruht auf einem reinen Partnerschafts- oder Dominanzsystem, sondern enthält immer Anteile beider Systeme. Dennoch ist die allgemeine Lebensqualität in Ländern, die sich an einem Partnerschaftssystem orientieren, höher als in Ländern, die mehr Anteile eines Dominanzsystems aufweisen – wie im Folgenden am Beispiel der nordeuropäischen Länder gezeigt wird. Und das ist kein Zufall – es ist bekannt, dass in den Ländern des Nordens Fürsorge und Care-Arbeit durch die Politik sichtbar gemacht und wertgeschätzt werden.
In den aktuellen Wirtschaftsmodellen gibt es zwar partnerschaftliche Elemente – doch viele unserer globalen Probleme resultieren daraus, dass sowohl kapitalistische als auch kommunistische Wirtschaftssysteme stark dominanzgeprägt sind.
Obwohl es große Unterschiede zwischen kapitalistischen und kommunistischen Wirtschaftssystemen gibt, werden in beiden sowohl die natürlichen Ressourcen als auch die Produktionsmittel von »den Oberen« kontrolliert – was auf Mensch und Natur gleichermaßen negative Auswirkungen hat. Im Sowjet-Kommunismus übten das politische Establishment sowie die großen, von der Regierung gelenkten Staatsbetriebe eine hierarchische, auf Angst und Zwang basierende Kontrolle aus und verursachten Umweltprobleme, deren bekanntestes Beispiel die Tschernobyl-Katastrophe darstellt. Auch im aktuellen, an den USA orientierten Kapitalismus arbeiten Regierungen und Konzerne Hand in Hand. Mithilfe von Wahlkampfspenden, machtvollem Lobbyismus und anderen Maßnahmen üben Unternehmen enormen Einfluss auf Regierungen und damit auch auf die Wirtschaftspolitik und -praxis aus, was unter anderem in einer mangelhaften Umweltpolitik resultiert.
Diese hierarchische Kontrolle war typisch für frühere feudalistische und monarchische Gesellschaften, als ein noch sehr viel ausgeprägteres Dominanzsystem herrschte. Tatsächlich stammen viele Grundannahmen, auf denen unsere aktuelle Wirtschaftspolitik und -praxis beruhen, aus Zeiten, als Könige über Untertanen regierten und jedem, der von Freiheit und Gleichheit redete, grausame öffentlich inszenierte Foltermaßnahmen und Hinrichtung drohten. Diese Zeiten, in denen despotische Väter über die Familien herrschten und despotische Adlige und Könige über Stadtstaaten, Lehen und Länder, sind noch gar nicht so lange her – und wir haben sie keineswegs und nirgendwo auf der Welt vollständig hinter uns gelassen.
Aus diesen sehr viel ausgeprägteren Dominanzgesellschaften mit ihrer breiten Unterschicht aus Sklaven, Leibeigenen und später fast völlig verarmten Fabrikarbeitern stammt die heute noch immer verbreitete Annahme, dass die Angst vor Schmerz und Mangel der Hauptgrund dafür sei, dass Menschen arbeiten. Und noch heute wird die Wirtschaftswissenschaft in weiten Kreisen als eine Wissenschaft definiert, die sich damit beschäftigt, eine begrenzte Anzahl von Gütern in einer Welt unbegrenzter Bedürfnisse zu verteilen.6
Diese Definition basiert auf zwei Grundannahmen: unausweichlichem Mangel und einer dem Menschen inhärenten Gier, die zu unbegrenzten Wünschen und Forderungen führt. Tatsächlich ist es so, dass diese Definition nicht die Wirtschaft an sich beschreibt, sondern die Wirtschaft in einem Dominanzsystem. Und selbst hier halten diese Grundannahmen einer näheren Überprüfung nicht stand.
Zwar kommt es manchmal vor, dass Naturereignisse einen Mangel verursachen, aber in dominanzgeprägten Wirtschaftssystemen wird Mangel – und damit Leid und Angst – systematisch künstlich erzeugt und aufrechterhalten und zwar durch eine ungleiche Verteilung der Ressourcen zugunsten der oberen Gesellschaftsschichten, durch hohe Rüstungsinvestitionen, durch fehlende Investitionen in die menschlichen Grundbedürfnisse, durch rücksichtslose Ausbeutung der Natur sowie durch Verschwendung natürlicher und menschlicher Ressourcen durch Kriege und andere Formen der Gewalt – all dies Charakteristika eines Dominanzsystems.
Darüber hinaus ist es in Dominanzsystemen schwierig, unsere menschlichen Grundbedürfnisse – darunter auch unser Bedürfnis nach Wertschätzung, Fürsorge, Liebe, Anerkennung und Lebenssinn – zu befriedigen, sodass Menschen in diesen Systemen kaum Zufriedenheit finden können. Auf diesem Weg erzeugt ein Dominanzsystem künstlich Gier und den unersättlichen Wunsch nach mehr materiellem Besitz und Status. Dieses Gefühl, niemals genug zu bekommen, wird heute noch von Werbekampagnen angefacht, die künstliche und zum Teil schädliche Bedürfnisse und Wünsche generieren.
Wenn man den Einfluss dieser künstlich geschaffenen Mangelgefühle und der ebenso künstlich generierten Bedürfnisse und Wünsche in die Betrachtung miteinbezieht, zeigt sich ein ganz anderes Bild von Angebot und Nachfrage, als es uns in den üblichen Darstellungen des Wirtschaftsgeschehens präsentiert wird. Der Marktwert einer Sache wird also oft von Dynamiken verzerrt, die auf Vorannahmen aus Dominanzsystemen beruhen und verhindern, dass die tatsächlichen menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden.
Außerdem herrscht in Dominanzsystemen und damit auch in der Wirtschaft von Dominanzsystemen typischerweise eine Kultur des Misstrauens und der Feindseligkeit, wobei den Übergeordneten unbedingter Respekt und Gehorsam gezollt werden müssen.
Der in Dominanzsystemen verbreitete Mythos, dass Menschen grundsätzlich böse und selbstsüchtig seien und daher einer strikten hierarchischen Kontrolle unterworfen werden müssten, gehört zu den Grundpfeilern des dominanzgeprägten Denkens. Er findet sich sowohl in der religiösen Vorstellung der Erbsünde als auch in den soziobiologischen Theorien über egoistische Gene wieder.
Diese Ansicht über die menschliche Natur ist integraler Bestandteil weit verbreiteter Theorien zur freien Marktwirtschaft, die auf der Annahme beruhen, dass in einem Wirtschaftssystem alle davon profitieren, wenn einfach jeder seine eigenen Interessen verfolgt. Natürlich käme keiner auf die Idee, einem Kind zu erklären, dass alles perfekt funktioniert, wenn jeder nur an sich selbst denkt. Und trotzdem wird diese Vorstellung weiterhin verbreitet – wobei dadurch keineswegs eine freie Marktwirtschaft gefördert wird (die unter solchen Voraussetzungen gar nicht funktionieren könnte), sondern es zu einer Idealisierung der Gier kommt, von der die Wirtschaft in Dominanzsystemen angetrieben wird.
Eine weitere tradierte Grundannahme besteht darin, dass »weiche« Eigenschaften und Tätigkeiten – wie zum Beispiel Friedfertigkeit oder Fürsorge – für die Führung einer Gesellschaft oder Wirtschaft ungeeignet seien. Dazu gehört unter anderem auch die Annahme, Fürsorge und Care-Arbeit seien für die Produktivität hinderlich oder im besten Fall wirtschaftlich irrelevant. Anders ausgedrückt: Wir haben aus der Vergangenheit kulturelle Überzeugungen und Institutionen übernommen, die der Fürsorge und Care-Arbeit nicht zu-, sondern abträglich sind – und das hat zu zahlreichen unrealistischen wirtschaftlichen Theorien, Regeln, Maßnahmen und Praktiken geführt, die uns zunehmend gefährden.
2.3 Das unsichtbare Bewertungssystem
Gäbe es keine Fürsorge für Kinder, Kranke und Alte, dann wäre niemand von uns am Leben. Und wenn niemand sich um unsere alltäglichen Bedürfnisse wie Nahrung, saubere Kleidung und eine wohnliche Unterkunft kümmern würde, wäre es schlecht um uns bestellt. Ohne Fürsorge gäbe es keine Arbeitskräfte, die ihrer Arbeit nachgehen und in Unternehmen tätig sein könnten.
Warum wird dieser elementaren Care-Arbeit also so wenig wirtschaftlicher Wert beigemessen? Warum wurde Rücksichtslosigkeit in Unternehmen systematisch gefördert – gemäß dem alten Rechtsgrundsatz caveat emptor 7 ? Warum werden Menschen, die sich unermüdlich für eine sozialere und gerechtere Gesellschaft einsetzen, oft als »Gutmenschen« oder »sentimentale Spinner« verunglimpft? Und warum gelten Frauen (und zunehmend auch Männer), die sich in der nicht monetären Wirtschaft der Privathaushalte und des Ehrenamtes rund um die Uhr um Kinder, Kranke und Ältere kümmern, immer noch als »wirtschaftlich untätig«?
Die Abwertung der für uns überlebensnotwendigen Care-Arbeit – und die damit einhergehende Abwertung der Fürsorge an sich – entbehrt jeglicher Logik. Sie beruht einzig und allein auf Überzeugungen, die aus einer Zeit stammen, als unsere Gesellschaft noch sehr viel mehr von einem Dominanzsystem geprägt war: einer Form der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisation, die auf von Angst und Zwang gestützten Hierarchien basiert.
Ein Grundpfeiler dieses hierarchischen Systems bestand darin, dass die männliche Hälfte der Menschheit der weiblichen Hälfte übergeordnet war – was dazu führte, dass Männer und stereotyp »Männliches« automatisch als wertvoller betrachtet wurden als Frauen und stereotyp »Weibliches«. Das heißt, im Zuge der Unterordnung der Frauen unter die Männer wurde alles, was mit »echter« Männlichkeit assoziiert war, höher bewertet als das, was typischerweise mit Frauen und Weiblichkeit verbunden wurde, wie zum Beispiel Fürsorge und Care-Arbeit. Dieses Bewertungssystem spiegelt sich in allen Wirtschaftssystemen wider, die Fürsorge und Care-Arbeit nur geringen oder gar keinen Wert zuerkennen – unabhängig davon, ob sie stammesgesellschaftlich, feudalistisch, kapitalistisch, sozialistisch oder kommunistisch organisiert sind.
Die Abwertung von Eigenschaften oder Tätigkeiten, die stereotypisch mit Frauen assoziiert werden, ist integraler Bestandteil der unsichtbaren Bewertungsmaßstäbe in Dominanzsystemen. Selbstverständlich handelt es sich hierbei um Geschlechterstereotype und nicht um etwas, was Männern oder Frauen angeboren ist. Doch diese Stereotype und die Abwertung alles »Weiblichen« sind fest in unsere wirtschaftlichen und sozialen Regeln und Modelle eingebettet, die wir aus früheren, noch stärker dominanzgeprägten Zeiten übernommen haben.
Die aktuellen Wirtschaftskennzahlen wie BIP und BNE spiegeln diese Abwertung wider und setzen sie fort. Und was in diesen Kennzahlen berücksichtigt wird – oder eben nicht – hat direkte Auswirkungen darauf, was in der Politik Berücksichtigung findet. Auf diese Weise hat unser unsichtbares, auf Geschlechterstereotypen basierendes Bewertungssystem unsere Wirtschaftspolitik geformt.
Man kann sich dieses unsichtbare Bewertungssystem wie den nicht sichtbaren Teil eines Eisbergs vorstellen – ein massives Hindernis auf dem Weg zu einer gesünderen, effektiveren und menschlicheren Wirtschaft.