Kitabı oku: «Maminkas Sommerküche», sayfa 3
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Das Weib, das das Wort »verwöhnt« hatte fallenlassen, war längst weg. Das hatte ich schon mehrere Male gehört, fast immer, wenn mich meine Eltern an der Bushaltestelle abküssten. Ich mochte keine nassen Küsse und ließ sie nur zu, wenn es unumgänglich war.
Der Bus fährt ab.
Mich packt etwas an der Gurgel, so fest, als würde mir eine Schlinge umgelegt. Man zieht zwar nicht zu, aber die Angst vor der Schlinge reicht. Dann klammere ich mich an Mutters Hals fest. Der Schaffner blickt finster drein, es eilt ... Die nassen Küsse machen mir nichts mehr aus, mir läuft es gleichermaßen aus Nase und Augen. Meine Lippen schwellen an, die Haut spannt sich.
Der Bus fährt ab.
Ich klammere mich an Maminkas Hals fest, so fest, als würde ich selbst die Schlinge zuziehen, doch nicht mehr um meinen eigenen Hals. Ein unsichtbarer Scheibenwischer verschmiert meine Sicht.
Der Bus fährt ab.
Ich rieche ihn, ich höre ihn, ich fühle die Schwingungen des großen Körpers, vollgestopft mit neugierigen Blicken. Maminka und ich schreiten ganz langsam, als würden wir eine riesige Glaskugel zwischen uns tragen, als hätten wir Angst, sie würde beim ersten unvorsichtigen Wort oder Schritt einfach zerspringen. Mein Blick klärt sich mit jedem Schritt mehr; die Häuser sind wieder da, den Bordstein kann ich am Rande erkennen. Meine Muskeln werden auf einmal locker, fast weich, in mir breitet sich ein weiches, weißes Kissen aus. Das Kissen ist so groß, dass ich ganz darauf passe. Eingerollt in mir selbst, ruhig und frei‚ werde ich da liegen bis zum nächsten Mal.
In zwei Wochen besuchen uns Mutter und Vater wieder.
Nie wusste ich, wann der Bus ankam. Nie wusste ich, mit welchem Bus sie fuhren. Ich wusste nur, dass es heute sein sollte. So bestand Heute aus lauter ineinander verwobenen Spannungsmustern, die mit jeder vergangenen Stunde lichter und greller wurden: das Hinaufklettern auf die Fensterbank, das Überblicken des Dorfplatzes mit der Wasserstelle und dem langen, schmalen Trauerweidenschatten, der bis zum Mittag schrumpfte und den Platz freigab, dafür aber dicker wurde, um gegen Abend wieder lang und schmal zu werden ... Das Verharren mit Blick auf die Straße, das Steifwerden, das Ausmachen des ersten Staubwölkchens, das aus Richtung Stadt aufflammte ...
Erst waren es die Pferde der Kooperative, die zum Grasen getrieben wurden, die die Straße mit der zähen Masse ihrer Leiber überfluteten und unter meinem Fenster aus dem Nebel flossen. Ihr Fluss, aus bräunlich-glänzenden Wellen getrieben, verzweigte sich an der Wasserstelle, überquerte das Schattenfeld der Trauerweide, dröhnte mit tausend Hufen und mächtigem Schnauben, kehrte zur Straße zurück, floss weiter, zäh und gewaltig. Jetzt war das Flussbett der Straße trocken, besät mit Pferdemist, der in der Sonne dampfte und glänzte, bis sich die Staubwolken über ihn legten.
Wieder steif werden, warten.
Aus der schmalen, hohen Staubwolke taucht der Laster auf, der die Frauen der Siebten Brigade zur Arbeit fährt, ein uraltes, klappriges Dorftier, das einige Minuten im Schatten verschnauft und dann wieder losfährt, beladen mit Harken, Decken und Frauengeschwätz. Dann kommen die Schafe. Sie folgen ihrer eigenen breiten Spur aus Glockenklang und Hundegebell, aus klagendem »Bäääh«, durchstochen vom scharfen Pfeifton des Schäfers, der, vier Finger in den Mund gesteckt, die Herde treibt. Der niedrigen, wolligen Wolke folgt der erste Bus. Er kommt im langsamen Schafschritt heran, erst das Dach mit den Koffern, dann die steile, in der Sonne blinkende Glasfront, kommt die Biegung der unsichtbaren Straße heraufgezogen. Der Bus fährt langsam, zu langsam und zu gemütlich, der Bus treibt die Schafe vor sich her, als wäre er der Schäfer.
Manchmal hatte ich Glück und meine Eltern kamen schon mit dem ersten Bus an.
Dann war Heute schon am Vormittag vorbei, und wir drei suchten den ganzen Hof nach Überraschungen ab, die ich vorbereitet hatte: das neuentdeckte Taubennest im Geäst des Nussbaumes, das Mauseloch hinter dem Hühnerstall, das sich später als das Loch eines Marders entpuppte – aber erst, als Maminkas Hühner reihenweise erdrosselt gefunden wurden –, die im »anderen Zimmer« stehende Kiste mit den abgeschnittenen, langen braunen Zöpfen, zwanzig Jahre lang ...
Dann zeigten sie mir ihre Überraschungen, die so schön nach Stadt rochen: backsteinähnliche Marzipanwürfel, goldfarbene Äpfel, die mehlig waren und das ganze Zimmer mit ihrem Duft beherrschten, steinharte Brezeln, luftgetrocknet, die ich den ganzen Tag als Kette um den Hals trug und beknabberte, und zwei bis drei Liter Bosa, jenes beigebraune, dicke und aus Weizen gebraute Getränk, das süß und sehr nahrhaft war und nicht so sauer wie die abgestandene Bosa im dörflichen Süßwarengeschäft ...
Lange wurde gegessen und gesprochen. Es wurde nur Schönes gesprochen: Wir waren immer gesund gewesen, auch wenn ich gerade die Masern hinter mich gebracht hatte; Maminka und Djado hatten sich immer prächtig verstanden, auch wenn er sie gerade am Tag davor verprügelt hatte ...
Dann gingen meine Eltern und ich spazieren.
Ich gehe zwischen den beiden, halte ihre Hände fest, balanciere die riesige Schleife auf meinem Kopf, bin rot bis zum Haaransatz. Sie sind da ... Gelegentlich küsse ich Vaters Hemdsärmel, der so schön nach Waschpulver und Staub riecht, streichele Mutters Ellenbogen, der so komisch runzelig und hilflos an ihrem dunklen glatten Arm klebt.
Das ist es wohl, was die Bauern meinen, wenn sie mich anstarren. Das ist es, wenn sie denken, dass ich verwöhnt bin: »Verwöhnt«. Ein schönes Wort war das nicht, und ich trug es wie einen Stempel auf der Stirn. Was war es, das mir dieses Wort eintrug? Etwas mit mir schien nicht in Ordnung. Ich musste unbedingt dahinterkommen!
9
Ich bin nie richtig in den Kindergarten gegangen. Ich wollte nicht. Dann, auf einmal, wollte ich doch, aber dann durfte ich nicht. »Du darfst nicht, weil deine Eltern nicht in der Kooperative sind.«
Für mich gab es einen Platz in einem Kindergarten in der Stadt, versicherte mir Maminka, aber ich konnte nicht den Platz eines anderen Kindes aus dem Dorf einnehmen. Alle, Plätze und Kinder, waren gezählt, und es gehörte sich nicht, dass ein Kind bei den Großeltern lebte, wo doch seine eigenen Eltern in der Stadt arbeiteten und lebten. Das leuchtete mir ein. Großmutter hatte ihr Bestes getan. »Ich habe sogar mit dem Bürgermeister gesprochen ... es geht eben nicht!«
Eines Tages jedoch, als Maminka mit den anderen Frauen der Siebten Brigade aufs Feld gehen und ich zu Hause allein bleiben sollte, nahm sie mich an die Hand, schleppte mich hinter sich her, brachte mich doch noch in den Kindergarten und sprach lange mit der Kindergärtnerin, die dauernd die Schultern hochzog und auf ihre eigene dicke Brust zeigte. Ich hockte dann unter dem Nussbaum und verfolgte das Gespräch aus der Ferne. Der ganze Kindergarten glich einem Aquarium: hinten die kleinen, bunten Fischlein, die Kinder, die dauernd den Sandkasten belagerten und die Schaukel stürmten; im Vordergrund die zwei großen Fische, Maminka und die dicke Kindergärtnerin, die stets mit der kurzen Flosse auf ihre eigene Brust zeigte. Die Fischchen musterten mich stumm aus der Ferne, als sei ich eine unbekannte Amphibie. Schließlich kam Großmutter zu mir. Sie nähert sich mit gelöstem Gesicht, sie lächelt mich an, sie zeigt mir ihre mit Silber bezogenen Seitenzähne.
»Du darfst bleiben!« Und sie gibt mir einen Henkelmann mit Gekochtem, ein Stück Brot und einen Löffel.
»Du sollst nicht weinen, Maminka«. Ich bleibe, während sie sich entfernt, und ich weiß nicht mehr, was ich mit dem Beutel anfangen soll. Ich sehe mich um und stelle ihn vorsichtig am Nussbaum ab, in eine kleine Vertiefung in der Erde, so dass die Suppe nicht auslaufen kann.
Der Kindergartenhof ist weitläufig. Kleine Sträucher teilen ihn, grenzen den Gemüsegarten ab, in dem stets eine der Kindergärtnerinnen wühlt. Eine niedrige Steinmauer trennt Kindergarten und Kirchhof. Hinter der niedrigen Steinmauer das fleißige Geräusch einer Harke: »Chrrrrsss, chrrrrsss!« Baba Popadija, die Frau des Popen, müht sich mit den Stangenbohnen ab. Im Schatten ist es kalt, aber ich traue mich nicht, die Schattengrenze zu überschreiten. Ich erkälte mich lieber, als mich den Blicken der anderen auszusetzen. Ich bleibe dort, wo ich bin, unterm dichten Dach der großen, sehnigen Blätter.
Ich kam mir überflüssig vor. Überflüssig und allein. Obwohl mich ein Junge einmal auf die Schaukel ließ – worauf ich mich sofort in ihn verliebte. Als die Kinder zum Mittagessen gerufen wurden, stellte ich mich als letzte an und glaubte, mitessen zu müssen. Ich sah durch die Tür die vielen schönen kleinen Tischchen, die Stühlchen, und fragte mich, bei wem ich wohl sitzen würde, ob vielleicht bei dem Jungen, der mich auf die Schaukel gelassen hatte? Als fast alle Kinder saßen, fragte die Kindergärtnerin, ob ich Hunger hätte, und ich bildete mir ein, sie hätten kein Essen für mich.
»Nein danke!«
Sie versprach, mich zu holen; ich aber schämte mich so sehr, dass ich zum Nussbaum zurückging, mein Gekochtes, das Brot und den Löffel herausholte und mich mit dem Henkelmann im Schoß auf die kleine Bank unter dem Nussbaum setzte. Ich tat so, als würde ich essen. In Wirklichkeit schämte ich mich zu Tode. Hoffentlich sah er mich nicht, der Junge von der Schaukel, sonst musste ich unbedingt sterben! Ich hob den leeren Löffel zum Mund hinauf, verharrte einen Augenblick lang, »chrrrrsss, chrrrrsss!«, kam es hinter der Steinmauer hervor, der Löffel tauchte ins Essen, ich wischte mir den Mundwinkel mit dem Handrücken ab, wie es Maminka nach jedem Bissen oder Kuss tat. Als ich die Kindergärtnerin kommen sah, versteckte ich meinen Henkelmann hinter dem Nussbaum.
Sie nahm mich an die Hand.
»Komm, wir haben für dich noch einen Platz gefunden.«
Ich ging erleichtert mit.
Im Speisesaal herrscht Totenstille. Ich stehe neben der Genossin Leiterin, während alle dasitzen. Dann sitze ich auch – Pechvogel, der ich bin, natürlich mit dem Rücken zum Jungen von der Schaukel, den Blick auf die dampfende Suppe gerichtet. Sie riecht zwar nicht schlecht, doch schwimmen in ihr einige Fettaugen und drei winzige Bauklötze aus geröstetem Zwieback, den ich verachte. Langsam leeren sich die Teller um mich herum, nur mein Teller ist noch voll. Die Dicke mit der Fischflosse von vorhin nähert sich.
»Hast du auch alles aufgegessen?« Und zeigt diesmal auf mich, und ich schiebe den vollen Teller von mir weg.
»Ja!«
»Heute lasse ich das durchgehen ...« Die dicke Genossin Leiterin mit der Fischflosse richtet sich auf – oh, wie laut sie ist, alle Köpfe drehen sich nach mir um – »... da es dein erster Tag hier ist«
»Ja, Genossin!« Ich werde rot bis zum Haaransatz. Ich spüre es.
»Aber ab morgen wird der Teller leergegessen! Verstanden?«
»Ja, Genossin ...« Alle Köpfe drehen sich zum Wasserpudding hin, »... ich komme, Genossin ...«, während sie mich wieder an die Hand nimmt.
Sie führt mich in den Schlafsaal. »Du darfst mit den anderen schlafen!«
Obwohl ich gar nicht müde bin.
Alles im Schlafsaal, in dem die dreißig Kinder auf ihren Betten lagen, war so sehr sauber, dass ich im ersten Augenblick glaubte, im Krankenhaus gelandet zu sein. Ich kam mir auch besonders schmuddelig vor und schämte mich, als ich mein Kleid auszog. Ob der Junge von der Schaukel ...? Ob er wohl den Tomatenfleck auf meinem Unterhemd sah? Hätte ich bloß auf Maminka gehört und gestern Abend das Hemd gewechselt! Dann lagen wir alle zwei Stunden lang ganz still, manche schliefen sogar ein, oder war ich die einzige, die vor Hunger nicht ruhen konnte? Mir schlief stattdessen der linke Arm ein, doch ich wagte nicht, mich umzudrehen. Die Genossin, die am Eingang saß und strickte, nahm jede noch so kleine Bewegung, jedes Geräusch wahr. Sobald sich eine der Decken verdächtig rührte, hob sie den Kopf vom Strickzeug und schmetterte einen furchterregenden, warnenden Blick in Richtung Übeltäter. Dieser Mittagsschlaf war so anstrengend, dass ich nie wieder auf die Idee kam, in den Kindergarten gehen zu wollen.
Ich blieb lieber zu Hause allein mit dem »anderen Zimmer«, mit dem ganzen stillen und auf mich lauernden Haus, allein mit den Gerüchen der Sommerküche und den Hühnern im Hof. Damals gab es keinen Kalten Krieg, oder ich nahm ihn noch nicht wahr. Es gab noch keine Norm zu erfüllen. Die Kamille existierte noch nicht. Sie war da, aber daraus konnte man Armbänder, Kränze und Ringe flechten. Maminka hatte mir beigebracht, wie man aus dem dünnen, zarten Stiel der Kamille eine Schlinge um den Hals der Blüte machte, sodass man beim leichten Ziehen mit der Blüte »schießen« konnte. Es gab noch nicht die Zehn Gebote des Kodex der Pionierorganisation, die später auswendig gelernt und praktiziert werden mussten. Es gab die Fremdwörter nicht, die in »Isten« endeten, wie Faschisten, Kommunisten und Kapitalisten, die später mein Bewusstsein umlagerten. Selbst die Buchstaben existierten nicht, da mir Maminka regelmäßig vorlas. Rajna Knjaginja, Rajna die Königin mit der Fahne der Aufständischen, bedeutete mir noch gar nichts. Nur wenn ich fiel und mir die Knie aufschlug und heulen wollte, hörte ich von der tapferen Soja Kosmodemjanskaja, die niemals weinte. Ich wusste noch nichts von ihren Qualen, von ihrem Märtyrertod, die Faschisten waren mir noch kein Begriff.
Ich falle hin, stehe auf, schweige, reibe das Knie, weine nicht. Fünf Jahre alt und weine nicht. »Du bist unsere tapfere Soja, nicht wahr?«, höre ich Vaters Stimme, und ich weiß, dass ich immer tapfer sein werde, komme, was wolle. Später, beim Abschied im Bus – in zwei Wochen kommen Vater und Mutter wieder zu Besuch – weine ich lauthals. Es läuft mir aus Nase und Augen, ich schäme mich, weil ich Soja Kosmodemjanskaja verraten habe.
10
Stets stand jemand neben mir. Genau besehen stand er in mir und ließ sich überallhin mitnehmen, mittragen, mitschleppen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Mein schlechtes Gewissen war stets sauber frisiert und sauber gekleidet. Es schaute sich die Spinnweben an, während ich unterm Holzstapel hockte und dem Truthahn zusah, wie er seine Henne bestieg. Es wechselte das Unterhemd und passte auf, dass kein Tomatenfleck darauf kam. Es drehte sich schnell weg, während ich mit offenem Mund und pochendem Herzen den Kampf meiner jüngsten Tante mit ihrem Bräutigam unter der Decke im »anderen Zimmer« verfolgte, und es gesellte sich zum Organisationsleiter, während er von Heldentaten sprach. Mein schlechtes Gewissen pochte an meinen Schläfen und regte sich wegen der Kamille auf. Ich beneidete es um seine klaren Vorstellungen, um seine Fähigkeit, alles zu behalten und stets da zu sein, auch wenn es nicht im Geringsten gebraucht wurde.
Vor lauter Aufregung wegen der Kamille hatte ich meine Leseliste völlig vergessen und dadurch schon etwas Zeit verloren. Tags zuvor, als ich vom Pescho Kojkata mit dem entliehenen Kamillenpflücker zurückgekehrt war – mir war ein Stein vom Herzen gefallen – räumte ich meine alten Schulbücher vom Tisch weg und stellte mir schon voller Hoffnung die neuen vor, da fiel mir die Sommerleseliste mit der Pflichtlektüre in die Hand. »Verdammt!«
Ich sagte nicht »verdammt!«, sondern »Achtzig Prozent und das Knopfloch entzwei!« Das sagte ich immer, wenn ich fluchte. Das war der Fluch, den ich als Vierjährige zum ersten Mal von mir gegeben hatte. Ihm war ich treu geblieben und gebrauchte ihn in solchen Situationen. Am Samstag hatte ich mir schon »Der Glöckner von Notre-Dame« und »Du und Ich – Alles über die geschlechtlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau« aus der Bibliothek ausgeliehen und freute mich darauf. Dafür hatte ich jetzt keine Zeit mehr. Ich schaute mir die Sommerleseliste mit der Pflichtlektüre von Mitte Juni bis Mitte September an und zählte die Titel: zweiundzwanzig! Bei genauerem Hinsehen stellte ich fest, dass ich acht davon schon gelesen hatte; manche waren vom vorigen Sommer in die neue Leseliste übernommen worden. Wäre die Kamille nicht gewesen ... Ich stellte mir das so vor: vormittags würde ich meine Pflichtlektüre erledigen, nachmittags und abends hätte ich Zeit für meine Bücher gehabt. Für die Bücher, die ich lesen wollte.
Der Nachmittag kriecht unter die ausgebreiteten Flügel der Hühner und unter die Holzstapel im Hof der Nachbarn. Dort ist es schattig. Dort lässt es sich vorübergehend aushalten. Maminka klappert mit den Tellern in der Sommerküche, Djado ist mit seinem Traktor schon um drei Uhr früh losgefahren und ist wie immer nicht da. Ich bin satt, aber ich öffne den Küchenschrank. Ich nehme mir ein Stück Weißbrot, das von der Hitze ein wenig muffig riecht, bestreue es mit Salz und süßer Paprika, manchmal auch mit Til Piper, und der siebenfache Geruch dieses Mischgewürzes lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen in einer maßlosen Vorfreude.
Ich verkrieche mich ins Bett und lese und lese. »Du und Ich«, während mir mein schlechtes Gewissen den Rücken kehrt und den Tauben unter dem Fenster zuhört, wie sie einander umwerben, trotz der Hitze. Das Buch hatte Kaka Donka, eine ältere Freundin von mir, für mich aus der Bibliothek entliehen – natürlich keine Pflichtlektüre. Sie lasen so was erst in der achten Klasse. Ich musste nur ganz genau aufpassen, dass mich Maminka dabei nicht erwischte. Kaka Donka hatte mir versprochen, mir dann alles zu erklären. Sie war nicht sehr groß, sah aber wie eine erwachsene Frau aus: sehr breit in der Hüfte, mit ein wenig krummen Beinen und schmalen Brüsten, die sich flüchtig sehen ließen beim Haarewaschen. Ich sah ihr dabei oft zu und goss ihr das Wasser aus der Zinnkanne über den Kopf. Allerdings gefiel mir der Geruch ihrer Seife nicht: die aus Schweineschwarten selbstgekochte Seife roch penetrant. Diese Seife benutzte Maminka nur, wenn sie die mit Maschinenöl verschmutzten Hosen und Jacken von Djado wusch, sonst nie.
Ich lese. Mir wird es schwindelig vor Aufregung, dass ich so früh aufgeklärt werde. Das hat mit mir noch wenig zu tun, aber ich ahne Zusammenhänge. Das hat mit dem plötzlichen Verstummen der Erwachsenen zu tun, wenn ich das Zimmer betrete, mit dem Kichern der Mädchen aus der achten Klasse, wenn ihnen die Jungen unter die Röcke greifen, mit dem Klopfen an verschlossenen Türen und mit meinem Hocken hinter dem Holzstapel, wenn der Truthahn ... Das alles schwebt in der Luft. Wie Strom, der mich töten kann. Die Buchstaben des Untertitels sind dick, rund und schwarz – Insekten, die sich vollgesogen haben: »Alles über die geschlechtlichen Beziehungen« ... Wie hält das die Titelseite aus?
Ich hatte Angst, dass man das Buch bei mir finden würde. Ich hielt es in einem Strohkissen versteckt. Das Kissen lag ganz unauffällig auf meinem Bett. Den Saum hatte ich wieder zugenäht, nur ganz lose, sodass ich nachts den Faden ganz schnell herausziehen konnte. Wenn ich dann spät, ganz müde, »Du und Ich« schloss, schob ich es wieder in das Kissen zurück, nähte den Saum lose zu und legte mich schlafen.
Das Licht ist aus. Durch das offene Fenster greifen die Zweige des Nussbaums. Frösche quaken. Hin und wieder Schritte unterm Fenster: mal schlurfend, mal fest und abgehackt. Geräusche aus der Kneipe gegenüber, die längst nicht mehr Djados eigene Kneipe ist. Ich schließe die Augen. An ihrer roten Leinwand die Zeichnung, riesengroß, so groß wie die Plakate am Eingang der Kooperative, die zur früheren Erfüllung des Jahresplans auffordern. Die Zeichnung des männlichen Geschlechts, alles mit Pfeilen und Erklärungen, haargenau beschrieben! Mir wird heiß. Mein schlechtes Gewissen verkriecht sich unter der Decke, hält Augen und Ohren zu: So also sieht mein Vater aus! Kein Wunder, dass er sich mir noch niemals nackt vorgestellt hat! Ich hätte es auch nicht getan, wenn ich so ’n Dings da vorne hätte!
Sieben Kilo Kamille, zweiundzwanzig Bücher Pflichtlektüre, der Truthahn ... Alles war wichtig, aber wichtiger als alles andere war »Du und Ich« zu Ende zu lesen. Das große Schweigen der Erwachsenen – und beim Einschlafen noch an den Kalten Krieg denken ... klären ... aufklären ... Ja, sobald ich »Du und Ich« zu Ende gelesen hatte, musste ich die Übrigen aus der Klasse aufklären. Einer musste es ja tun!