Kitabı oku: «Maminkas Sommerküche», sayfa 4
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In der Nacht war ich wieder Soja Kosmodemjanskaja. Die Faschisten hatten »Du und Ich« im Strohkissen gefunden und rissen mir die Zähne aus, einen nach dem anderen. Dann zogen sie mir die Haut ab und machten aus ihr Lampenschirme. Zum Schluss hielten sie mir die Riesenzeichnung mit dem männlichen Geschlecht vor Augen und fragten: »Haben Sie?« – »Ja«, antwortete ich, »ich habe«, und einer von ihnen führte mich an Kaka Donka vorbei – »Abführen! Heil!« –, die mir mit nassen Haaren nachlief und mir unbedingt die selbstgekochte Schweineschwartenseife zustecken wollte, »nimm sie mit, im Lager gibt es nichts zu essen!« Die ganze Nacht hatte ich eine einzige Aufgabe zu erfüllen, die ich mir irgendwann einmal selbst gestellt zu haben schien: schweigen, die Schmerzen lautlos ertragen, ein Beispiel für die Nachwelt werden, ein Denkmal bekommen, mich im Kalten Krieg bewähren.
Ich öffnete die Augen und war enttäuscht, dass ich geträumt hatte. Ich beneidete Soja Kosmodemjanskaja und setzte auf den Kalten Krieg. Vielleicht war es mir beschieden, mich im Kalten Krieg zu beweisen. Und wieder dachte ich an die Kamille. Die Kamille war lächerlich als Bewährungsprobe, auch wenn der Organisationsleiter die Erfüllung der Norm als Heldentat pries. Alles Ersatz, dachte ich: statt Heldentod im Partisanenkrieg oder an der Front – Kalter Krieg im Radio! Statt Untergrundkampf – Kamille! Ich beneidete Soja Kosmodemjanskaja und Mitko Palausov, den jüngsten bulgarischen Partisanen im antifaschistischen Kampf, für ihre heldenhafte Kindheit und wollte für die Freiheit sterben; aber ich starb nicht, nicht mal im Traum. Stattdessen plagte ich mich mit Gedanken an Kamille und Pflichtlektüre und suchte mir alle möglichen Beschäftigungen. Mich an etwas erinnern war schön. An unser Schaf zum Beispiel.
Das alte Schaf Wakla gebar ein Lämmchen, ein schwarzes, ein wunderbares. Im Februar, ungewöhnlich genug, war sie soweit, wie mir Maminka anvertraute. Großmutter setzte voraus, dass ich wusste – oder auch nicht – wie es dorthin, in ihren Bauch nämlich, gelangt war. Wakla hatte unseren Stall und Hof noch niemals verlassen. Daher dachte ich mir, dass es bei den Schafen anders sein müsse als bei den Hennen, die Eier legten. Darauf sagte Mara, meine Freundin, dass ich dumm sei:
»Wir haben drei Schafe und ganze vier Lämmer, ich weiß Bescheid!«
Und ich wusste, dass sie Bescheid wusste.
»Unauffällig, vielleicht sogar in der Nacht, muss dein Großvater das Schaf an den Mann gebracht haben.«
Und ich wusste nicht, an welchen Mann.
Mara empörte sich über mein Unwissen:
»Na so was! Doch nicht an einen Mann, sondern zu einem männlichen Schaf natürlich! Es hat sie bestiegen«, so sagte sie, »bestiegen!« – und das hörte sich an nach »Einen-Berg-besteigen« –, »und sie ist trächtig geworden, so wie die Frauen schwanger werden. Klar?«
»Alles klar!«
»Oder ... Wakla war es schon, als sie gekauft wurde«, meinte Mara, was mir persönlich realistischer erschien.
An einem verschneiten Abend, ganz spät, hörte ich, dass man nebenan flüsternd irgendwelche Vorbereitungen traf.
»Leise, das Kind wird wach!«
Das Kind sprang aus dem Bett und zitterte am ganzen Leib vor Aufregung. Der Holzofen war längst ausgegangen, und die Fensterscheiben waren vereist.
»Ich komme mit!«
Djado blickte mich zornig an.
»Du bleibst hier und wartest!« Er nahm einen Eimer mit warmem Wasser, zog seine alte Lammfelljacke an und lief zum Stall.
Ich bekam Angst.
»Worauf soll ich denn warten, Maminka?«
»Wakla kriegt ein Lämmchen«, nahm mich Großmutter in den Arm; dann schob sie mich plötzlich weg: »Du musst nur schön hier warten! Wenn sie es hat, dann zeige ich es dir, und du darfst mit ihm spielen, aber erst morgen früh!«
Wer bringt es ihr denn?, wollte ich fragen, aber ich schwieg, da ich ahnte, dass Wakla das Lämmchen doch von niemandem gebracht kriegte, sondern ... sondern was? Maminka guckte mich besorgt an:
»Ich muss jetzt aber wirklich gehen, sonst wird Djado schimpfen«, und verließ die Wohnstube, eingemummt in ein Wolltuch, mit einer alten Decke im Arm.
Ich fühlte mich, als hätte ich hohes Fieber, als würde ich von etwas schrecklich Aufregendem träumen. Ich war nahe daran, ein fürchterliches Geheimnis aufzudecken. Hier sitzen und warten? Nein! Ich zog meine Stiefel an, Maminkas Strickjacke, setzte irgendetwas auf den Kopf und lief zum Stall. Ein Windstoß warf eine ganze Lawine Schnee über mich. Ich schloss meinen Mund fest, ging zum Stall, wo zwei Laternen brannten, doch traute ich mich zuerst nicht, hineinzugehen. Durch den Spalt zweier Bretter sah ich Großmutter und Großvater, die mit Wakla zu kämpfen schienen. Was machen die denn bloß mit ihr?
»Ist schon gut, gut so ... jaja ... noch ein bisschen ...«, hörte ich Maminkas liebevolle Stimme.
Plötzlich nahm Djado die Laterne vom Balken herunter und stellte sie auf den Boden; ich sank automatisch auf die Knie, tief in den Schnee, presste mein Gesicht zwischen die wackeligen Bretter und schaute gebannt in den Lichtkreis, und was ich da sah ... Ich war entsetzt. Maminkas Hand zog Wakla mit aller Kraft am Schwanz und massierte ihren runden Leib. Djado war irgendwie mit ihren Beinen beschäftigt, und dann auf einmal kam unter dem Schwanz der Kopf eines Lämmchens hervor. Ich biss mir in die Faust, um festzustellen, ob ich wachte oder träumte, und sah, wie ganz schnell im Lichtkreis aus Waklas Leib das ganze Lämmchen fluppte, blutbedeckt. Ich fror. Djado und Maminka freuten sich, Wakla drehte sich wohlig um, und ihre raue Zunge leckte das Kleine ... Plötzlich fiel es mir ein, dass ich hier erfrieren könnte, dass ich hier gar nicht sein durfte und dass ich etwas Fürchterliches gesehen hatte.
Ich stand auf, kämpfte mit dem Schnee und konnte meinen Mund nicht schließen. Der Weg zur Wohnstube schien mir unendlich. Wenn es bloß aufhören würde zu schneien! Dann weinte ich los, laut, so laut ich nur konnte, ich wollte sterben, ich starb nicht, Maminka kam, nahm mich an die Hand, und weiter wusste ich nicht mehr.
Als ich erwachte, war ich krank. Neben mir auf dem Boden, eingewickelt in die alte Decke, lag das schwarze Lämmchen, sauber, so glänzend und sauber, dass ich meinen Augen nicht trauen wollte. Mir wurde ein scheußliches Pulver gegeben. Es klebte am Gaumen und war bitter. Ich musste es hinunterschlucken. Erst dann durfte ich das Lämmchen streicheln. Dann schlief ich wieder ein. Zwei Wochen lang blieb ich im Bett. Draußen hörte es gar nicht mehr auf zu schneien.
»Sämtliche Bahnlinien in unserem Bezirk sind eingeschneit«, Maminka beugte sich über mich, »daher können deine Eltern nicht kommen. Die Donau ist zugefroren, die Wölfe vom anderen Ufer gehen auf dem Eis spazieren ... am helllichten Tage haben sie einen Mann und ein Kind gerissen, und das in der Stadt!«
Ich musste Maminka in die Hand versprechen, dass ich meinen Eltern nichts von der Krankheit sagen würde, wenn sie wieder da waren.
12
Jeden Abend saßen die Frauen der Nachbarschaft auf der Straße. Manche auf dem Bürgersteig, andere auf der Bank vor unserem Haus. Es wurde gesponnen, gestrickt, aufgeribbelt, genäht; Kirschen wurden entsteint, Marmeladenrezepte besprochen, Hochzeiten geplant. Dabei beobachtete man uns Kinder, wie wir in den Eingängen verschwanden, tuschelten, einander jagten und den Tag hinausschoben bis in die Nacht hinein.
Am Ende des Dorfplatzes, vor Lelja Petras Haus, versammelten sich die Brigadiere, planten das Bestellen der Felder, zankten sich um nicht korrekt aufgeschriebene Arbeitstage, die sogenannten Trudodni, und verließen den provisorischen Klub mit dem Auftrag, jeden an die nächste Volksfrontversammlung zu erinnern. Langsam dunkelten ihre Arbeitsjacken und -hosen nach, schemenhaft blieb nur ihre Bewegung übrig, die Umrisse der einzelnen Gestalten wurden gegen den Himmel schwarz gestanzt, hin und wieder glühten die von den Zigaretten erleuchteten Gesichter auf. Die Brigadiere verließen den Dorfplatz, während die Dorfgrillen um die Wette zirpten. Da zirpten die Sterne mit und zitterten, und vor lauter Zittern verloren sie hin und wieder den Halt und stürzten ab über der Wasserstelle. Da kehrten die Schafe zurück und die Pferde und die Frauen der Siebten Brigade, und das Weiß ihrer Augen und ihrer Kopftücher beunruhigte das Abendblau und die Männer auf dem Weg nach Hause.
Zu Hause folge ich Maminka in die Sommerküche.
»Wissen meine Eltern eigentlich, dass ich für die neuen Schulbücher sieben Kilo Kamille pflücken muss?«
Maminka zündet das Feuer an.
»Woher soll ich das denn wissen, Mila? Hast du es ihnen schon gesagt?« Das Grün ihrer Augen sieht gefährlich und fremd aus.
»Nein ... ich habe es ihnen noch nicht gesagt, aber ich dachte, du ...«
Großmutter legt einige grüne Paprikaschoten ins Feuer. Auf der Oberfläche der Schoten bilden sich Blasen, die Hautblasen blähen sich auf, werden schwarz, platzen auf.
»Lass es lieber sein, Mila.« Sie fasst die ersten heißen Paprikaschoten an, dreht sie um. »Deine Eltern machen sich nur Sorgen, und helfen können sie dir ja doch nicht!«
Und ich fürchte mich vor den Feuerzungen, die ihre Hand lecken, aber es macht ihr nichts aus. Mutters Hände würden das nicht aushalten. Die Haut der ersten Paprikaschote platzt auf, platzt laut, ein harmloses Geschoss in der Nacht.
»Ich weiß, Maminka ... ich tue es nicht ...«, und im nächsten Moment platzen die anderen Paprikaschoten auf.
Mit der Zeit lernte ich die feinen Abstufungen von Schweigen, Verschweigen und Lügen kennen und ertappte mich oft bei dem Versuch, mein Verhalten in diesem magischen Dreieck so unauffällig wie möglich Wurzeln schlagen zu lassen, und es gelang mir ausgezeichnet. Maminka und ich waren zwei Verbündete. Unsere Losung hieß: Die Eltern dürfen nicht aufgeregt werden! Also verschwieg sie ihnen fast alle meine Anginen und Kinderkrankheiten und erzählte davon erst hinterher, wenn alles längst vorbei und überstanden war. Und ich schob meinen Felsen von schlechtem Gewissen vor mir her.
»Du sollst ja nicht lügen, das hat sogar Gott befohlen ... aber er hat nicht gesagt, dass wir nicht schweigen dürfen ... nicht wahr, Mila?« Und Maminka schwieg.
Nein, lügen wollte sie nicht, und so verschwieg sie vor meinen Eltern alles, was ihre Vorstellung von unserem harmonischen Landleben trüben konnte: Großvaters Sauforgien in seiner ehemaligen, schon längst verstaatlichten Kneipe, die Prügel, die er ihr – auch in meinem Beisein – regelmäßig verabreichte, den Zank und den Streit um Geld, wie sie ihn immer tot wünschte, wenn er ihr mal wieder kein Geld gab ... Nie hatte sie eigenes Geld gehabt, nie hatte sie etwas kaufen dürfen ohne seine Erlaubnis, nicht mal Zucker und Salz. Er versoff es in regelmäßigen Abständen, dann blieb Djado tagelang weg, arbeitete Tag und Nacht, machte Überstunden mit dem Traktor, der ihm längst auch nicht mehr gehörte, fuhr plötzlich nach Devnja ans Meer und brachte Delphinfilet, schwarz und luftgetrocknet, in süßer Paprika und schwarzem Pfeffer gewälzt, mit.
»Esst, esst, damit ihr seht, was für eine Delikatesse das ist, das ist eine De-li-ka-tes-se, sag’ ich euch. Esst, sowas gibt’s nur einmal im Jahr!«
Später gab es das schwarze Delphinfilet nicht mehr; dann brachte er Mispeln, die wir länger als drei Tage auf einer Zeitung liegen ließen, bis sie braun wurden und ich sie zwischen den Zähnen ausquetschen und aussaugen und das weiche Fruchtfleisch von den Fingern ablecken durfte.
Maminka und ich waren Verbündete. Das Schweigen übte ich, das Verschweigen kam von selbst, und ich verfolgte mit Neugier Großmutters Hinübergleiten zum Lügen: mühelos und unbeschwert. Es kam mir vor, als ginge sie auf einer Hängebrücke, auf der sie schwebte, einem unsichtbaren Ufer entgegen, auf dem alles nur noch ihrer eigenen Vorstellung von Harmonie entsprach. Das Fesselnde daran war, dass diese Brücke mit einem Fuß in der Gegenwart ruhte, aber, irgendwelchen unglaublichen Gesetzen folgend, ohne einen zweiten Stützpunkt auskam: Maminka ging und knüpfte stets einen neuen Schritt, während sie mir die fertiggeknüpfte Brücke anbot. Ich schwebte zwischen Realität und Wunschvorstellung, und jeder Schritt war eine Bestätigung von ihrem Seiltanz zwischen Schweigen und Lügen. Manchmal drohte da etwas in mir zu reißen. Ich empfing Schläge, die mir von innen versetzt wurden, und ich übte mich, sie aufrecht zu empfangen. Niemals fragten meine Eltern, ob etwas schlecht gewesen sei, sondern immer nur, ob es gut gewesen sei.
Vater schneidet hauchdünne Scheiben von der luftgetrockneten Lukanka-Wurst ab. Wir sitzen draußen am Tisch, es ist ein warmer Sommerabend, Djado hat den Pflaumenschnaps in die Schnapsgläser eingefüllt.
»Wie war es denn vorige Woche?« Vater steckt beiläufig eine hauchdünne Scheibe in den Mund. Mit »vorige Woche« meint er den Geburtstag von Djado Ilija, einem Verwandten.
»Schön war das.«
»Schön war das«, wiederholt auch Maminka, »es war wirklich schön«, bestätigt sie sogar und schon hat sie mir einen Blick zugeworfen. Und ich sehe meinen Großvater mit blutunterlaufenen Augen zum Messer greifen, das Messer dicht vor dem Gesicht seines Schwagers schwenken.
»Es war eine schöne Geburtstagsfeier.« Großmutter richtet die Zwiebeln und die Gurken und die Tomaten auf dem Teller an. »Mamka wi!«, dieser obszöne Fluch ... und das Messer steckt mit der Spitze in der Tischplatte dicht vor dem Teller des Schwagers, der, blass vor Angst, mit offenem Mund zittert und es nicht wagt, aufzustehen. Maminka bricht das selbstgebackene Fladenbrot an.
»Eine schöne Feier war das! Eine schöne Feier!«, wiederhole ich, ruhig wie sie, und ich erinnere mich nicht mehr an den Grund dieses Ausbruchs. Die »roten Ärsche« waren sicherlich schuld daran, und die roten Ärsche sind die Kommunisten, das weiß ich mit Sicherheit; aus Djados Flüchen geht immer hervor, dass es die Kommunisten sind. Etwas in mir zieht mich gewaltig zum Boden hinab, etwas möchte reißen und mir einen befreienden Schrei bescheren, aber der Schrei bleibt aus. Nur mein schlechtes Gewissen hält sich die Ohren zu und kauert sich unter den Tisch. Beiläufig versetze ich ihm einen knappen Fußtritt in den Hintern.
»Alles war schön, nur Baba Minka, die Schwägerin, hatte zu viele Peperoni ins Essen gegeben ... ihr wisst ja, wie scharf sie kocht!«
13
So wie es ein »anderes Zimmer« gab, gab es auch die »andere Großmutter«, Vaters Mutter, zu der ich in den Sommerferien fuhr.
»Da war die Sache mit den Pilzen«, fing ich eines Tages an, »die ich niemandem erzählen werde, noch nicht mal, wenn mich die Faschisten auf den elektrischen Stuhl fesseln würden, würde ich darüber reden.«
Und Mara lächelte spöttisch:
»Warum sprichste denn davon, wenn du es mir doch gar nicht sagen willst ...?«
Und ich schwieg.
Es geschah in den ersten Schulferien, die ich bei Baba Dotschka, der »anderen Großmutter«, verbrachte. Ich wurde von unserer Nachbarin Kaka Welitschka zum Abendbrot eingeladen. »Du kannst auch bei mir schlafen«, und ich war überglücklich. Mir war, als würde ich bei Mutter schlafen. Kaka Welitschka war eine schöne, schwarzhaarige junge Frau mit ganz heller Haut und pechschwarzen Augen. Sie ähnelte meiner Mutter erstaunlich in ihrer ganzen Erscheinung, in ihrer zärtlichen Art. Bloß die Augen waren anders. Mutters Augen waren hell wie Honig. Kaka Welitschka war für mich an jenem Abend meine Mutter, die ich seit einem Monat nicht mehr gesehen hatte, und ich war bereit, alles für sie zu tun, alles, wozu sie mich nur aufforderte, ich wollte nur brav und glücklich sein.
Ihr Haus war für mich jahrelang der Inbegriff eines großen städtischen Hauses, obwohl es im Dorf stand. Es war sauber, kühl, ordentlich, mit einer Freitreppe, Kacheln davor, und mit einer richtigen Holztreppe innen, die zum Obergeschoss führte. Es gab dort große Schränke mit dunkler Politur und winzigen gehäkelten Deckchen darauf, es gab sogar Blumen in Blumentöpfen, die ich kaum kannte. An unseren Fensterbänken in der Stadt würde nicht mal Unkraut gedeihen, seitdem uns das neue Wohnhaus vors Fenster gebaut worden war und uns den letzten Rest Sonne wegnahm, und bei Maminka wuchs nur Tomaten- und Paprikasaat an den Fenstern. Hin und wieder gab es dort eine Geranie, die aber schnellstens in den Garten verpflanzt wurde, sobald die Sonne warm genug war. So wuchsen Blumen und Gemüse nebeneinander, und das Blumenzüchten wie in Kaka Welitschkas Haus war mir unbekannt. Welch einen Aufwand sie beim Tischdecken trieb! Weiße Tischdecke, ein großer flacher Teller vor mir, darauf eine kleine hübsche Porzellanschüssel für die Suppe.
»So eine Verschwendung«, sagte ich, »du hast wohl viel Zeit!«
Bei uns zu Hause in der Stadt wurde der Tisch nur am Sonntag auf diese Weise gedeckt. Sonst wurde ein Papierbogen oder eine Zeitung auf dem Tisch ausgelegt. Das Papier fing die Suppentropfen und die Brotkrümel auf. Das Tuch blieb sauber, und die zusammengeknüllte Zeitung wanderte in den Mülleimer. Diese weiße Decke, das feine Geschirr, das viele Geschirr für das bisschen Essen ... So ein Unterschied zu dem Henkelmann, den meine Eltern aus der Schulmensa mit nach Hause brachten! Ich hätte Kaka Welitschka gerne gefragt, was sie eigentlich war, was für einen Beruf sie hatte, aber ich konnte es nicht. Die Bäuerinnen mit ihrer ledernen Haut und die Frauen aus der Stadt mit ihrem gehetzten Blick ... Kaka Welitschka schien ganz anders zu sein mit ihren ruhigen Bewegungen, mit ihrem Blick, der »Ich habe viel Zeit!« zu sagen schien. Ich wollte sie nicht fragen, und ich fragte sie doch.
»Ich bin das, was du hier siehst, Kleines ... das hier ...«, und sie schaute sich um und schwenkte den Arm durch den Raum. Der Bogen umfasste nicht nur das Wohnzimmer samt den Blumentöpfen, der geschwungenen Holztreppe und den gehäkelten Deckchen, sondern das ganze Haus von innen und außen samt Garten und Hof. »Ich bin eine Domakinja, eine Hausfrau, das bin ich!« Sie zuckte mit den molligrunden Schultern, als wären ihr Ameisen den Rücken hinaufgelaufen. Das Wort »Domakinja« kam mir immer fremd und geziert vor, es war mir immer peinlich, es auszusprechen.
»Heißt du denn so, weil du eine Frau bist, die bloß zu Hause sitzt: Haus-Frau?«
Kaka Welitschka schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel, genauso wie es die Bäuerinnen taten, wenn sie plötzlich erfreut oder überrascht waren, und ich wurde dieses peinliche Gefühl, das mir dieses fremde Wort verursachte, auf einmal los.
»Weißt du eigentlich, wie viel Arbeit es in einem Haus wie diesem gibt, Kind? Nimm doch nur den Abwasch ...« – sie füllte mir die Schüssel mit Suppe – »... wir sind ja vier Personen!«
Und auf meine Bemerkung: »Du hast aber auch viele Teller auf dem Tisch, kein Wunder, dass du so viel spülen musst«, lächelte sie nur.
»Hier, nimm von den Pilzen!«
Ich bekam einen Klacks Sauce mit Pilzen, dazu frisches Brot. »Der Schwiegervater hat sie in der Frühe selbst gesammelt.« Ich probierte vorsichtig das unbekannte Essen. Ich wusste nur: Pilze waren Mutters Lieblingsessen. Also schmeckten sie mir. Da ich die Hühnersuppe vorher gegessen hatte, probierte ich nur und ließ alles stehen.
Danach brachte Kaka Welitschka eine Schüssel voll Kirschen, klein und schwarz. Ich sah durch die offene Tür hinaus: Auf den Kacheln platzten bei jedem leichten Windstoß die kleinen schwarzen, überreifen Kirschen und hinterließen dunkelrote, fast blaue Kränze. Bienen und Wespen stürzten sich gierig darauf.
Die Schatten im Zimmer dehnen sich, werden schräger. Die Wände leuchten abendlich rot. Die Sonne platzt hinter dem Kirschbaum und hinterlässt rotblaue Kränze am Himmel. Die dunklen, süßen Früchte der Erwartung in mir sind auch zum Platzen reif. Mutter, die ich so lange nicht gesehen habe, lauert irgendwo in der Nähe, Kaka Welitschka reicht mir die Hand, jetzt ist es soweit, und wir steigen die Holztreppe hinauf. Durch das Treppengeländer sehe ich, wie die Schatten der Topfpflanzen mit den Schatten der Stuhllehnen eins werden: Das ist die Nacht.
Kaka Welitschka machte nur ein winziges Lämpchen an, streifte die Decke zurück und fing an, sich auszuziehen. Ich schämte mich wegen der Brüste, doch ich blickte hin und stellte fest, dass sie fast keine Warzen besaß. Mutters Brüste dagegen waren anders: Die Brustwarzen waren groß und braun. Vielleicht waren Mutters Brüste auch mal so rosig, so anders ... In ihrem weißen Nachthemd und mit den schulterlangen schwarzen Haaren sah ich Schneewittchen und Mutter zugleich. Mich fror es, und ich schlüpfte in die kühlen Laken, legte mich auf die Seite, machte mich klein und dachte, dass ich sie gar nicht berühren sollte, damit der Zauber nicht verging. Sie nahm mich aber in den Arm, küsste mich auf die Stirn:
»Gute Nacht, mein Kleines«, und ich sank in ihren Duft und schlief ein.
Ich sinke in eine Flut aus Haut und regelmäßigen Atemzügen. Ich sehe das Meer, spiegelglatt. Ich schwebe auf einer unsichtbaren Luftmatratze, schwebe über dem grünen Wasser und schlafe. Ich sehe, wie sich die Oberfläche des Meeres kräuselt, die Luftmatratze wird von einer Welle erfasst und beinahe umgeschmissen. Ich spüre die Welle von innen, in mir selbst, obwohl ich gleichzeitig sehe, wie sie aufsteigt und mich umzureißen droht. Da kommen neue Wellen auf mich zu, ich verliere das Gleichgewicht und werde irgendwohin geschleudert.
Mein Kopf dröhnt – werde wach – und tut weh, ich schreie, und übergebe mich.
Kaka Welitschka sprang auf, hielt mich fest. »Die Pilze! Die Pilze!« Ich zitterte am ganzen Leib. »Schwöre mir, dass du es niemandem sagst, Kleines!«, und mich schüttelte es, dass mir die Zähne klapperten. »Beim Leben deiner Mutter, sag nichts, bitte! Sag nichts, Kleines!« Meine Zähne klapperten weiter, und ich übergab mich mehrmals, bis ich völlig erschöpft ins Bett zurücksank.
Als ich die Augen endgültig aufschlug, massierte mich Kaka Welitschka mit einem heißen nassen Leinentuch. Sie bekreuzigte mich ein paarmal, und ich schämte mich wegen dieser Bewegung und wunderte mich, dass sie mich bekreuzigte, da ich doch nie im Leben mit Gott zu tun gehabt hatte.
»Ich sag’ wirklich nichts, ich schwöre es dir!« Später kam die Angst.
Heute weiß ich, dass es nicht die Angst vor dem Sterben war. Es war die Angst vor dem Umsonststerben.