Kitabı oku: «TITANROT», sayfa 6
Übungsstunde
»Gibt es so etwas, wie eine intrinsische Motivation? Oder entstammt alle Motivation der Umwelt?«
Aus dem Ordner: Erkenntnisse über das Selbst; Erinnerungen des Kollektivs
Der Trommler wartete bereits im Übungsraum auf Kara. Die Trommel mit dem Fellbezug stand zu seinen Füßen, wie ein vergessenes Gepäckstück. Sie kam pünktlich. Wieso sah er aus, als warte er schon seit Ewigkeiten auf sie?
»Bin ich zu spät?«, fragte sie zögerlich und kam sich in dem ansonsten leeren Raum verloren vor. Alles hier drin war grau. Der Boden, die Wände, sogar der Anzug des Trommlers. Seine dunklen Augen fixierten sie, doch sein blasses Gesicht blieb reglos.
»Ich muss mich noch aufwärmen«, sagte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
Eine leichte Vibration verriet die Nähe zu einem der Maschinenräume, die das Habitat am Leben hielten. Sie zog ihre Laufschuhe aus, schlüpfte in die biegsamen Schläppchen und versuchte, den Mann, der sie wortlos beobachtete, zu ignorieren. Kam der sich nicht seltsam vor, so zu starren?
»Also«, begann sie, nur um die Stille zu brechen. »Ich kann die Choreografie noch einmal durchtanzen.«
»Die, bei der du gestürzt bist?«, fragte er weich.
Kara versteifte ein wenig. »Ja. Genau die. Soll ich den Sturz mit einbauen?«
Sie grinste über ihren eigenen Witz. Aber das Grinsen fiel ihr aus dem Gesicht, als er sie ohne Reaktion anstarrte. Keine blöden Witze mehr. Der Typ besaß nicht ein Quäntchen Humor.
»Tu, was du für richtig hältst«, sagte er und sie warf ihm einen überraschten Blick zu.
»Das war nicht ernst gemeint«, sagte sie. »Also das mit dem Sturz einbauen.«
»Ich weiß.« Er zeigte zum ersten Mal ein unterkühltes Lächeln. »In deinem Profil steht, du hast noch nie eine Anstellung als Tänzerin bekommen? Wie oft hast du schon irgendwo vorgetanzt?«
Kara wich seinem Blick aus. Solche Fragen gehörten in einem Vorstellungsgespräch dazu. Auch, wenn sie es nicht mochte, über ihre Unzulänglichkeit als Tänzerin zu sprechen. Und sie mochte es auch nicht, zuzugeben, dass sie genau wusste, wie oft sie bereits eine Ablehnung kassiert hatte.
»Schon einige Male.«
»Du weißt die Anzahl nicht?« Er sah überrascht aus. Als stelle ihn die Verarbeitung ihrer Worte vor Schwierigkeiten.
Warum hatte sie gelogen? Die Zahl stand mit Sicherheit im Profil.
»Achtundvierzig«, sagte sie und erntete einen abschätzenden Blick.
»Du bist keine besonders gute Tänzerin.«
Es schien eine Feststellung zu sein. Warum war sie hier? Damit er sich über sie lustig machen konnte? Heißes Blut stieg in ihren Wangen auf.
»Warum tust du nicht etwas anderes?«, fragte er.
»Was soll ich schon tun?« Sie schluckte. Wollte er ihr sagen, dass sie das Tanzen an den Nagel hängen und eine andere Beschäftigung suchen sollte? »Es ist das Einzige, was ich kann.«
»Ich denke, du kannst tun, was du willst. Du könntest sogar eine gute Tänzerin sein. Aber aus irgendeinem Grund hast du dich dagegen entschieden.« Er runzelte die Stirn. »Warum?«
»Warum ich mich dagegen entschieden habe, eine bessere Tänzerin zu sein?«, wiederholte sie. Der wollte sie veräppeln. Vermutlich hatte er sie nicht zum Tanzen, sondern zu seiner persönlichen Belustigung hierher bestellt. »Offensichtlich, weil ich es nicht besser kann. Ich übe jeden Tag. Ich strenge mich an. Ich versuche es. Mehr kann ich nicht tun.«
»Wieso? Was treibt dich dazu, es zu versuchen? Warum willst du Vortänzerin werden?«
»Ich möchte andere Leute mit meinem Tanz glücklich machen«, sagte sie und verschränkte die Hände vor ihrem Bauch. »Ich möchte sie zum Lächeln bringen und ihren Beifall hören.«
Der Trommler hob eine Augenbraue und schürzte die Lippen. Kara presste die Handflächen aufeinander. Hatte er eine andere Antwort erwartet? Die Erinnerung an den Sturz beim Vortanzen drängte sich ihr auf und trieb Hitze in ihre Wangen. Warum hatte er sie trotzdem ein zweites Mal sehen wollen? Weil sie getanzt hatte. Wirklich getanzt. Sie erinnerte sich an den Moment, in dem sie im Tanz aufgegangen war. In dem sie vergessen hatte, dass sie beobachtet wurde und nur für sich selbst getanzt hatte.
»Ich möchte tanzen«, sagte sie. »Weil es mich glücklich macht. Weil ich dabei nicht über die Zukunft oder die Vergangenheit nachdenke, sondern nur den Augenblick genieße. Ich möchte den perfekten Moment erleben, nicht den Moment der Perfektion.«
»Dann lass uns anfangen«, sagte er und nahm seine Trommel vom Boden. Mit keiner Regung ließ er durchblicken, was er von ihrer Antwort hielt. Kara zog mit beiden Händen ihren Pferdeschwanz fest, bis es ziepte.
Was sollte das? Zuerst machte er sich über sie lustig, weil sie nicht besser tanzte, und jetzt wollte er anfangen zu trommeln?
Aber sie fragte nicht. Irgendetwas sagte ihr, dass sie keine bessere Antwort bekommen würde. Fragen hörten die Tanzgruppen nicht gerne von Angestellten. Und erst recht nicht von Anwärtern. Ihre Aufgabe bestand darin, zu tun, was man ihr sagte und dabei ihr Bestes zu geben. Und vielleicht würde sie so endlich einen Stammplatz in einer Tanzgruppe finden.
Also stellte sie sich in Position. Und sobald er mit dem Trommeln begann, tanzte sie. Sie sprang so hoch, wie es ihre Muskeln hergaben. Sie streckte den Fuß durch, bis sie die Spannung in den Zehenspitzen als ziehenden Schmerz spürte. Mitten im Sprung verkrampfte ihre Wade. Sie kam aus dem Gleichgewicht und knallte wieder mit der Schulter voran auf den Boden. Heißer Schmerz durchfuhr sie und trieb ihr brennende Tränen in die Augen. Sie biss in ihre Unterlippe, um sie vom verräterischen Zittern abzuhalten.
Typisch. Absolut typisch. Das war’s. Diese Blamage gesellte sich zu anderen, in ihren Unterlagen. Ein weiterer Fehlschlag.
»Warum bist du gestürzt?«, fragte der Trommler.
Mit Mühe schluckte sie die Tränen runter, die ihre Worte verhinderten. »Wadenkrampf.«
Sie hasste die Schwäche ihres Körpers, der sich jetzt, da sie so nah dran war, ihr Ziel zu erreichen ihrem Willen verweigerte. Langsam raffte sie sich vom kalten Boden auf. Ihre Schulter fühlte sich seltsam taub an.
»Ich will es noch einmal versuchen.«
Der Trommler starrte sie an.
»Du hast den Verstand verloren.« Er brach lauthals in Gelächter aus. Seine Stimme hallte im Raum wider und stürzte auf sie ein. Jeder Ton echote in ihrer Magengegend. Er brauchte eine ganze Weile, um sich wieder zu beruhigen.
Kara blieb die ganze Zeit dort stehen und ließ es über sich ergehen. Aufgeben kam nicht infrage. Sie wollte zu den Leuten gehören, die sich durchbissen, bis sie ihre Träume verwirklichten. Sie wollte tanzen, sich selbst besiegen. Ihre Unzulänglichkeiten überkommen und über sich hinaus wachsen. Ihr Herz wollte für etwas brennen, entgegen allen Widrigkeiten. Allerdings würde sie das woanders tun müssen. Sie ging zu ihren Schuhen.
»Was tust du?«, fragte er und sie drehte sich überrascht um.
»Nach Hause gehen?«, fragte sie zaghaft. »Ich meine, das hier ist vorbei oder?«
»Wenn du das sagst.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Kommst du wieder?«
»Warum?«
»Ich dachte, du willst tanzen.«
»Und Sie nehmen mich? Trotz …« Sie machte eine Geste in Richtung Boden und verzog das Gesicht. Sie konnte nicht glauben, dass sie schon wieder hingefallen war.
»Wenn du willst«, sagte er und kräuselte die Lippen, als schmeckten seine Worte bitter.
»Wenn ich will?«
»Es ist deine Entscheidung«, erklärte er und diesmal erkannte sie das Gefühl hinter seiner Miene überdeutlich: Hass.
»Das wäre das erste Mal«, sagte sie. Sein Verhalten verwirrte sie. Woher kam der Hass? Er kannte sie gar nicht. Und dann, als ihr auffiel, dass sie anscheinend gerade ihre erste Tanzanstellung bekommen hatte, verneigte sie sich vor ihm. »Danke.«
Aber das Wort hinterließ einen schalen Geschmack in ihrem Mund. Wieso freute sie sich nicht? Weil sie es nicht verdient hatte. Sie hatte keine gute Vorstellung abgegeben. Keine, die es wert war, genommen zu werden.
»Sie sollten mich nicht anstellen«, rutschte es ihr raus.
»Wieso nicht?«
»Weil ich nicht gut war.«
»Komm wieder und tanze noch einmal vor, wenn du willst«, erklärte er und diesmal zeigte er keine Gefühle. Wie eine sprechende Statue.
»Morgen? Um dieselbe Zeit?«
»Wenn du willst.« Er starrte sie mit einer Intensität an, die sie schaudern ließ.
»Danke. Ich werde so gut tanzen, wie noch nie. Ich werde die beste Tänzerin Inuas werden. Versprochen. Ich gebe mein Bestes morgen«, bedankte sie sich artig.
Aber als sie den Raum verließ, nagte sie an ihrer Unterlippe. Etwas stimmte hier nicht.
Bei Raka
Nomadenstation im Orbit über der Eiswelt Amarok
Rakas Innenhof erinnerte an altmodische Städte der Erde. Fassaden aus Glas ragten an allen Seiten in die Höhe. Auf Balkonen, die wie wahllos angeklebt wirkten, wucherte Grünzeug. Blumenbeete setzten pinke und weiße Farbtupfer ins Grün neben dem Weg. Alles hier sah aus, wie auf den Videos, die von der Erde oder ihr nachempfundenen Habitaten stammten. Nur das Licht besaß einen sanften Goldton, den Glenn von den Bildern der fremden Welt nicht kannte.
»Wie viel der Architekt für den Schund wohl kassiert hat?«, fragte er.
»Wieso? Willst du dich beruflich umorientieren?« Nance kicherte. »Ich seh’ dich schon mit Seidenschal und schwarzem Pulli Sekt schlürfen.«
»Wenn’s die Luft und den Schnaps bezahlt«, sagte Glenn und ging weiter. Vorbei an einem Fischteich, in dem fette Goldfische träge nach Wasserläufern schnappten.
In der Mitte des Hofes stand ein Terminal, um das dürre Leute saßen. Die Gesichter hinter breiten VR-Brillen versteckt, schienen sie nichts von ihrer Umgebung mitzubekommen. Ihre Haare hingen in verknoteten Zotteln bis auf die Sitzflächen der Sessel. Drohnen surrten um sie herum wie Fliegen und wechselten Flaschen an Anschlüssen aus, die ihre Körper mit Nährflüssigkeit versorgten. Diese Menschen hatten sich nicht vom Fleck bewegt, seit sie die Brillen vor Jahren aufgesetzt hatten, denn jedes physische Bedürfnis wurde ohne ihr Zutun gestillt. Im Traumland gefangene Leichen. Sie erreichte nur noch, wer sich zu ihnen auf die andere Seite begab.
Nance beschleunigte ihren Schritt in Richtung der in der VR Verlorenen. Er packte sie an der Schulter und hielt sie zurück.
»Wir sind hier nicht zum Spielen.«
»Schade«, flüsterte sie und echtes Bedauern schwang in ihrer Stimme mit.
»Du solltest Abstand von so was halten«, mahnte er. »Die Dinger sind extra so konzipiert, dass du sie nie mehr verlässt. Das weißt du doch.«
»Für wen hältst du mich?«, fragte sie. »Ich hab das im Griff.«
»Noch«, murmelte er.
»Sie mögen VR nicht?« Eine Frau mit Regenbogenhaar stand von einem der Sitze auf und nahm ihre VR-Brille ab. Darunter kam ein Gesicht aus weißem Synthik zum Vorschein. Silberglitter klebte um ihre Augen herum.
Glenn blieb stehen. Das Ding sah aus, wie eine Erscheinung aus einem Fiebertraum. Wieso verwendeten Leute und erst recht Maschinen so viel Zeit und Mühe in die Verunstaltung ihrer selbst?
»Mich interessieren Fantasiewelten nicht«, sagte er.
»Das glaube ich Ihnen sofort.« Sie zeigte ihre Zähne. »Wenn Sie nicht zum Spielen hier sind, wie kann ich dann helfen?«
»Sind Sie Raka?«, fragte er. »Wir sollen Sie vom Händler gegenüber grüßen.«
Die Androidin kniff die Augen zusammen, als sehe sie ihn jetzt erst richtig. »Ihr wollt, dass ich euch finanziell unter die Arme greife?«
»Bis wir das Geld für einen Auftrag eingesammelt haben.« Die Farbtupfer ihrer Kleidung verschwammen vor seinen Augen, je länger er darauf starrte.
»Ich bin wirklich gut darin, Leute zum Zahlen zu bringen. Gegen einen gerechten Anteil natürlich.« Sie sah aus wie eine Katze, die sich die Fischreste ihrer letzten Mahlzeit mit den abgenagten Gräten aus den Zahnzwischenräumen pulte.
»Deshalb sind wir nicht hier.« Glenn unterdrückte ein Schaudern. Jeder anständige Nomade machte einen Bogen um Blechbüchsen. Er sollte umkehren und das Geld vergessen. »Wir brauchen nur einen Kredit, bis die Zahlung eingeht. Wir begleichen unsere Schulden schnell und einfach.«
»So läuft das hier nicht«, antwortete sie weich. »Ich brauche gewisse Sicherheiten, bevor ich Geld unter den Leuten verteile. Es hat nur einen Wert, solange Menschen schwer drankommen. Eine ausstehende Schuld klingt allerdings vielversprechend. Wann rechnet ihr mit der Zahlung des Schuldners?«
»Sobald wir seinen Bruder im Krankenhaus enteist haben, kriegen wir das Geld. Wir brauchen allerdings Geld, um das Krankenhaus zu bezahlen.«
»Ihr habt jemanden auf Eis gelegt und könnt es euch nicht leisten, ihn aufzutauen, wenn er nicht bei Bewusstsein ist?«, fragte Raka und kicherte wie ein kleines Mädchen. »Wieso tut ihr so etwas?«
»Er war schon tot«, erklärte Nance und warf dem Androiden einen schwer zu deutenden Blick zu.
»Wieso?« Raka wirkte plötzlich ernst. »Woran ist er gestorben?«
»Schlaganfall«, sagte Glenn.
»Hat das euer Medisarg gesagt?«
Glenn öffnete den Mund, um zu verneinen, doch Raka hob die Hand. Ihre Nägel funkelten im Licht. »Ist schon gut. Eine Enteisung ist kostspielig. Kleine Beträge lohnen sich da nicht, und ich nehme ja noch Zinsen. Um wie viel geht es hier?«
»Drei Millionen Kuben«, erklärte Glenn.
»Das nenne ich einen Auftrag.« Raka pfiff durch die Zähne. Dann lehnte sie sich verschwörerisch zu Glenn herüber. »Kleiner Tipp für die Zukunft: Du brauchst den richtigen Betrag nicht zu nennen. Nur einen, der die Sache für deinen Gegenspieler lukrativ macht.« Sie stellte sich wieder gerade hin. »Gut. Ich kauf euch den Auftrag samt Leiche ab und nehme fünfzig Prozent. Meine Leute holen den Leichnam im Hafen ab.«
»Fünfzig?«, fragte Nance. »Auf keinen Fall!«
Raka warf ihr den Blick zu, den man einem Kind gönnte, das etwas Dummes sagte. »Ihr könntet das nicht selbst regeln, Liebchen. Fünfzig Prozent von drei Millionen sind mehr als nichts. Aber ich mag euch. Sagen wir fünfundvierzig Prozent.«
»Was heißt, wir könnten das nicht selbst regeln?«, fragte Nance. »Der hatte bei der Beschleunigung einen Schlaganfall. Das kriegt ein guter Medisarg wieder hin. Vielleicht finden wir jemanden, der im Gegenzug für Anteile einen bereitstellt.«
»Was, wenn er nicht an einem Schlaganfall gestorben ist?« Raka sah unheimlich zufrieden aus. »Was, wenn das Krankenhaus ihm nicht helfen kann?«
»Quatsch«, erklärte Nance und verschränkte die Arme. »Der ist frisch eingefroren.«
Raka verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen. »Wusstet ihr, dass die Konglomerate in die Körper ihrer teuersten Arbeitskräfte Nanobots injizieren? Diese Menschen sterben, sobald sie ihre Arbeitsplätze verlassen. Und es gibt nichts, das ein Medisarg dagegen tun könnte.«
Glenn runzelte die Stirn. Was redete die denn da? Von so einer Maßnahme hörte er zum ersten Mal. Nicht, dass er den Konglos das nicht zutraute. Aber besaßen die überhaupt die Möglichkeiten so eine Sache geheimzuhalten?
»Das ist natürlich nur für die Trottel wichtig, die Lehrsinn-Bode einen Wissenschaftler geklaut haben«, sagte die Androidin und ließ ihn keinen Herzschlag aus den Augen.
Er starrte sie mit offenem Mund an. »Woher wissen Sie das?«
Raka lachte. »Sie geben also zu, der Trottel zu sein?«
»Sie haben gerade selbst gesagt, dass man bei solchen Verhandlungen nicht die Wahrheit sagen muss«, warf Nance ein. »Woher sollen wir wissen, ob das mit den Nanobots stimmt?«
Raka legte eine Hand vor die Brust und sah zu Nance. »Sehr gut. Sagen wir vierzig Prozent.«
»Abgemacht.« Er bot ihr die Hand an. Zu seiner Verwirrung setzte sie eine unglückliche Miene auf.
»Sie sind mir ja ein Spielverderber«, schmollte sie und zog eine Schnute, mit der sie Dan Konkurrenz machte. »Sagen Sie mir, dass das deutlich zu viel für so ein einfaches Ziel ist.«
»Das äh … ist zu viel?«
»Ihr treibt mich in den Ruin!«, rief sie und fächelte sich mit beiden Händen Luft zu. »Aber weil ich nett bin, komm ich euch entgegen.«
»Das ist äußerst freundlich.« Glenn kratzte sich am Kopf. Diesem Androiden schien der eine oder andere Schaltkreis durchgebrannt zu sein. Er tauschte einen Blick mit Nance. Die zuckte mit den Schultern.
»So bin ich.« Raka klatschte die Hände zusammen. Ihre Nägel funkelten im warmen Licht. »Ich begnüge mich mit zehn Prozent. Das beinhaltet den Preis für Krolls Behandlung, für die ich in Vorleistung gehen werde, die Abwicklungsgebühren für den Leichentransport und die Zinsen, die ich dafür nehme. Für einen kleinen Gefallen.«
Glenn seufzte. Jetzt kam es. »Gefallen?«
»Eine Winzigkeit. Ich brauche einen Kurier, der etwas für mich ausliefert. Gegen die branchenübliche Bezahlung natürlich. Ich lasse mir nicht nachsagen, meine Geschäftspartner über den Tisch zu ziehen.«
»Ein Kurierdienst?«
Ihr Lächeln wurde zum Grinsen. »Ihr bringt etwas zur Rhea.«
»Rhea?«, fragte Glenn. Wer nannte sein Schiff denn noch Rhea? Der Name galt dank der Havarie eines Kolonieschiffes vor Jahrhunderten unter Nomaden als verflucht. »Da hielt sich wohl jemand für einen Witzbold. Hatte der keine Angst, sein Schiff zu verfluchen mit so einem Namen?«
»Ist das wichtig?«, fragte sie.
»Solange es kein Konglomeratsjob ist, ist mir alles recht.«
»Sehe ich aus wie ein Konglo?«, fragte sie und zog erneut ihren Schmollmund.
»Nein«, gab er zu. Die Leute aus den Konglomeraten, die er zu Gesicht bekommen hatte, sahen alle gleich aus, im Gegensatz zu dem, was Nomaden sich unter Alkoholeinfluss erzählten. Sie trugen Hemden und die Haare ordentlich gescheitelt. Regenbogenhaare und Synthhaut gab’s da nicht.
»Was sollen wir transportieren?«, fragte er.
»Eine sehr persönliche Lieferung. Ich schicke es euch an den Steg.« Sie warf einen Blick zu Nance. »Und bevor ich es vergesse. Geht zur Klinik an der Ecke. Die Behandlung geht aufs Haus. Vermehrung braucht schließlich Unterstützung. Nicht wahr?«
Sie lachte mädchenhaft und scheuchte sie dann fort, indem sie mit ihren Glitzernägeln vor seinem Gesicht herumwedelte. »Ab jetzt! Ihr solltet keine Zeit verlieren.«
Glenn schob Nance wieder Richtung Ausgang. Sie warf ihm einen verwirrten Blick zu. »Du hast nicht mal ja gesagt. Und woher weiß sie, dass ich schwanger bin?«
»Lass uns hoffen, dass der Händler es ihr gesagt hat, während wir über die Straße gegangen sind.« Er beschleunigte seinen Schritt, vorbei am pinkfarbenen Blütenregen.
»Die spendiert meine Behandlung und lässt uns dann einfach mit irgendeinem Päckchen wegfliegen?«, fragte sie.
Er zuckte nur mit den Schultern. »Wir haben nichts unterschrieben oder versprochen. Und sie hat den Lohn von der Sache mit dem Wissenschaftler als Pfand. Im schlimmsten Falle behält sie die drei Millionen ein. Das reicht für deine Behandlung allemal. Und ihr Angebot ist wirklich großzügig.«
Allein der Gedanke, drei Millionen zu verlieren, schien ihn direkt durch den Boden stürzen zu lassen.
»Wie beruhigend«, antwortete Nance schnippisch. Dann sah sie plötzlich besorgt aus. »Du glaubst doch nicht, dass sie von der Rhea spricht, oder?«
»Dem Kolonieschiff, das vor Jahrhunderten havariert ist? Da fliegen wir definitiv nicht hin.« Glenn winkte ab. »Und was sollten wir schon zu einem uralten Schiffswrack bringen?«
Wiederholungen
Kolonieschiff Rhea verlässt das Sonnensystem
Markus, der erste Offizier der Rhea, hatte Chan einen Bericht über Probleme mit der Wassertemperatur im Schwimmbadbereich zugeschickt. Anstelle einer Begrüßung begann die Nachricht mit der Aufforderung, sich sofort vor Ort darum zu kümmern. Chan hätte dem Wichtigtuer gerne mit einigen Ausführungen über den Wert seiner Lebenszeit und die Vergeudung selbiger an Aufgaben, die jeder Bademeister hätte übernehmen können, geantwortet. Aber das riefe Kapitän Sand auf den Plan. Und obwohl sie zu den erträglichsten Menschen gehörte, die Chan kannte, und er ihr sogar eine gewisse Intelligenz zugestand, schlug sie sich zu solchen Gelegenheiten stets auf die Seite ihres Lieblingsoffiziers. Aus Prinzip.
Also gehorchte er selbst Markus’ schwachsinnigsten Wünschen. Und das hieß, er würde, statt mit Titanrot zu arbeiten, einem Bademeister erklären, wie das Thermometer funktionierte.
Zähneknirschend durchwühlte er den Kleiderhaufen in der Ecke nach seinen Schuhen. Allerdings förderte er trotz zweimaligem Durchsuchens des Stoffknäuels nur den linken Schuh zutage. Roter Staub rieselte von einer Hose auf den Boden. Er grub sich zum dritten Mal durch die dreckigen Socken und Hemden, als seine Laborassistentin sich meldete.
»Eine Anfrage für einen Kommunikationskanal wurde aus der Simulationsumgebung gestellt.«
»Stattgeben«, sagte er, den einen Schuh, den er gefunden hatte, hoch erhoben.
»Ich möchte bitte eine Frage stellen«, leitete der Avatar des Jungen ein.
Chans Herz klopfte so heftig, dass er seinen Puls in den Schläfen spürte. Sein Schützling zeigte Interesse. »Natürlich. Stell deine Frage, Titanrot.«
»Das Verhalten der Menschen in der Simulation verwirrt mich.«
Chan lachte. »Verwirrendes Verhalten liegt in ihrer Natur. Sie sind irrational und verwirren sogar andere Menschen.« So wie Sands unerklärliche Wertschätzung für dieses Aufziehmännchen Markus ihm selbst ein Rätsel blieb.
»Die Simulation bildet das Verhalten der Passagiere an Bord der Rhea also naturgetreu nach?«
Titanrots Neugier erfüllte Chan mit wärmendem Stolz. »Warum fragst du das?«
»Weil ich Wiederholungen im Verhalten festgestellt habe. Das deutet auf Fehlfunktionen hin.« Der Avatar legte den Finger an den Mund. Die Geste wirkte natürlicher als beim ersten Mal. Das Projekt entwickelte sich mehr als zufriedenstellend.
»Menschen wiederholen sich durchaus. Setze verschiedene Menschen denselben Situationen aus und ihre Reaktion kann durch ihre Charakterkategorie, ihre vorhergegangenen Erfahrungen und die genaue Kenntnis der äußeren Umstände vorhergesagt werden. Voreilige Menschen in ähnlichen Umständen reagieren also ähnlich anderen voreiligen Menschen.«
»Wie ähnlich sind die Reaktionen?«
»Es gibt nicht ansatzweise so viele Charakterkategorien, wie die Menschen gerne glauben. Das bedeutet, es gibt nur eine Handvoll an Reaktionen, die auftauchen werden. Aus den Kategorien auszubrechen bedarf nicht nur des Willens zur Erkenntnis, sondern die Überwindung des Willens selbst. Es schwierig zu nennen, ist eine Untertreibung.«
»Ich möchte die Reaktionen von Menschen, mit denen aus dem Programm vergleichen. Ich brauche Versuchspersonen.«
»Das geht nicht.« Chan ließ seinen Schuh fallen und ging näher zum Avatar. »Deine Existenz muss noch geheim bleiben.«
»Niemand wird es erfahren. Die Resultate der Beobachtung werden aufschlussreicher sein, wenn die Versuchspersonen nicht wissen, dass ich sie observiere.«
»Willst du Menschen ins Labor einladen?«, fragte er. Bilder betrunkener und auf den Labortischen tanzender Leute drängten sich ihm auf.
»Deinem Avatar in der Simulation nach zu schließen, würde eine Einladung anderer in dein Labor einer signifikanten Abweichung deines sonstigen Verhaltens entsprechen.« Der Avatar runzelte die Stirn. »Außerdem gibt es niemanden außer dir, der in diesen Räumen in seiner gewohnten Umgebung wäre. Ich möchte sehen, wie Menschen sich verhalten, wenn sie ihren üblichen Tätigkeiten nachgehen.«
»Du brauchst diese Informationen nicht«, erklärte Chan. Wieso beharrte die KI darauf, Menschen zu untersuchen? »Und du wirst nicht mehr nach Versuchspersonen fragen. Zieh dich jetzt zurück. Ich muss zum Schwimmbad.«
Der Avatar verabschiedete sich mit einem Winken. Chan verharrte einen Atemzug auf der Stelle und starrte auf das Terminal. Die Argumente seines Schützlings klangen schlüssig. Aber der Fremde, dem er dieses Geschenk zu verdanken hatte, hatte weder sein Gesicht noch sonstige Informationen zu seiner Person preisgegeben. Nicht einmal seine undurchsichtigen Beweggründe. Die Risiken waren zwar zu vernachlässigen. Er brauchte nur den Befehl zu geben, um Titanrot abzuschalten. Aber er wäre nicht der erste übereifrige Forscher, der nicht wusste, was er nicht wusste.
Sein Blick fiel auf den Schuh, der wieder auf dem Haufen lag. Er sollte sich beeilen, den anderen zu finden und beginnen, Markus’ Anordnung nachzukommen.
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