Kitabı oku: «TITANROT», sayfa 4
Totschlag
Sonnenwind, auf dem Weg nach Amarok
Der Frachtraum im Bug sah aus, als sei eine Bombe explodiert. Zehn Jahresrationen an Nährstoffkartuschen, Kalorieneinheiten und Aromen klebten als gelbbraune Schmiere an jedem Quadratzentimeter. Eine nach Vanille riechende Wolke aus feinem Puder und abgerissenen Metallteilen wirbelte im Zug der Lüftungsanlage.
Lena atmete etwas von dem klebrigen Staub ein und hustete. Er schmeckte süß und hinterließ ein pelziges Gefühl im Rachen. Widerlich.
Unter der Bugklappe, direkt über ihrem Kopf, hing eine gelbliche Wasserblase von fünf Metern Durchmesser. Anscheinend war mindestens einer der Wassertanks geplatzt und hatte mehrere Tonnen seines kostbaren Inhalts ins Lager entleert. Werkzeuge und abgerissene Kistendeckel schwebten darin, wie eingefroren. Lena schnalzte mit der Zunge. Sie wusste nicht einmal, wo sie anfangen sollten, diese Sauerei aufzuräumen.
Das Shuttle von Lehrsinn-Bode hing ebenfalls an der Blase. Mit der Bugspitze auf dem Wasser dümpelnd, sah es wie der Schwimmer einer Angelrute auf der Wasseroberfläche aus. Teile zerquetschter Vorratskisten klebten immer noch an der Außenhülle der Fähre, die vergleichsweise unbeschädigt wirkte. Abgesehen von dem Riesenloch in der Backbordseite. Und den Metallstreben der alten Bettgestelle, die hier drin eingelagert worden waren und nun wie Speere in den Scheiben des Cockpits steckten.
Durch die Öffnung in der Seite erspähte sie Nance, die mit dem Rücken zu ihr vor einer Sitzreihe schwebte und sich über etwas beugte. Die orangefarbene Notbeleuchtung des Shuttles ließ die grünen Zöpfchen der Programmiererin schwarz wirken.
Lena stieß sich kräftig vom Boden ab und schwebte mitten durch die Puderwolke auf Nance zu. Der gelbe Staub verfing sich in ihren Haaren und geriet in ihre Augen. Halb blind suchte sie Halt an den Rändern der Außenhülle. Ein Stromschlag fuhr durch ihre Fingerspitzen und knallte dumpf in ihre Schulter. Ihr ganzer Arm fühlte sich taub an. Sie schüttelte ihn, um das Gefühl zu vertreiben. Es half nichts.
Der Staub verklumpte mittlerweile zu scharfkantigen Traumsandkrusten in ihren Augenwinkeln. Immerhin sah sie so wieder etwas. Benommen wischte sie mit dem Handrücken die Verkrustungen aus ihren Augen und betrachtete den Rand des Loches. Die aufgerissene Außenhülle wimmelte dort, als versuchten miteinander verworrene Würmchen, sich ständig neu zu ordnen. Die Autoreparatur versuchte, die Hülle wieder instand zu setzen. Allerdings nahm das Loch mit etwa drei Metern Durchmesser die halbe Backbordseite ein. Der Materialvorrat reichte nicht aus, um es zu stopfen.
»Komm rein, Lena!«, rief Nances Stimme aus dem Shuttleinneren. Lena benutzte die Füße, um sich von der Außenhülle abzustoßen und hineinzufliegen. Sie war lernfähig. Noch einen Stromschlag brauchte sie nicht. Der Erste ließ ihre Finger immer noch pochen.
Nach dem hell erleuchteten Frachtraum kam ihr die orangefarbene Beleuchtung im Shuttleinneren dunkler vor, als ihr Beschleunigungstank. Nances winzige Gestalt schwebte nur wenige Meter unter dem Cockpit der Fähre. Ihre Zöpfchen umwaberten ihren Kopf wie Seetang. Neben der Programmiererin lugten zwei Helme über die Rückenlehnen einer Bankreihe. Dahinter zog Dans dürre Gestalt direkt unter der Lampe des Cockpits einen dritten Helm ab und legte Tians Glatze frei. Der große Mechaniker rührte sich nicht.
»Und?«, fragte Lena. In ihrer Kehle steckte ein Eisklumpen, der ihre Stimme an dem einen Wort zerbrechen ließ. Sie räusperte sich und sprach lauter weiter. »Wie geht’s ihnen?«
»Tian und Kroll sind bewusstlos, aber lebendig«, erklärte Nance. Die großen Augen der Programmiererin glitzerten.
»Wirklich?« Lenas Herz hüpfte vor Aufregung in ihrer Brust. Wenn Kroll und Tian noch lebten, dann war sie nicht zu schnell gewesen. Dann hatte sie es geschafft, sie zu retten.
Mit einem kräftigen Stoß flog sie hinauf zum Cockpit und kam neben Nance zum Halten. Die Programmiererin deutete, ohne hinzusehen, auf eine Gestalt, die zusammengesunken auf einem der Sitze saß. Lena erkannte Glenn selbst in dem schnieken Anzug von Lehrsinn-Bode. Die Gurte hielten seinen Oberkörper in Position. Doch sein Kopf hing in einem unnatürlichen Winkel in der Luft. Seine Augen starrten in die Leere.
Zwischen ihren Ohren entstand ein Druck, als pumpe jemand ihren Kopf auf, wie einen Luftballon. »Ist er …«
»Ich glaube, sein Genick ist gebrochen. Nichts allzu Schlimmes. Der Medisarg schafft das.« Nance klang nicht besonders überzeugt und Lena legte der jungen Programmiererin eine Hand auf die Schulter.
»Ganz sicher kriegt der das hin, Nance. Aber wir sollten ihn vorsichtig bewegen, wenn wir ihn ins Krankenzimmer bringen. Und den Anzug vorher nicht ausziehen. Hier drin sieht man ja die Hand vor Augen nicht.«
»Ist reine Gewöhnungssache«, rief Dan aus dem Cockpit. »In ein paar Minuten kannst du hier drin Bedienungsanleitungen lesen.«
Er zog Tian aus dem Pilotensitz und begann, den Rest des Anzugs vom Mechaniker abzustreifen. Die Finger dessen linker Hand standen in alle Richtungen ab und sein tätowiertes Gesicht wirkte selbst im orangefarbenen Schein seltsam fahl. Er schlug die Augen auf und fing an zu brummen, als er Lena sah.
»Wenn du uns umbringen wolltest, hättest du den Job den Konglos überlassen sollen, Prinzessin«, lallte er und zeigte mit seiner lädierten Hand auf Lena.
»Ich bringe Tian ins Medizimmer.« Dan zog den Mechaniker runter Richtung Loch.
»Wenn er sich noch darüber beschweren kann, dass ich ihm den Hintern gerettet habe, geht’s ihm gut genug«, sagte Lena. »Warte noch, bis wir nach Kroll gesehen haben.«
Als Tian und Dan sich bewegten, schaukelte Glenns Kopf im Luftzug. Lena schluckte. Der Medisarg bekam das wieder hin. Ganz sicher. Ihr Magen schien sich trotzdem mit Eiswasser zu füllen. Sie presste die Lippen aufeinander und wandte den Blick ab.
Nance löste die Verschlüsse von Krolls Helm und öffnete das Visier. Frischer Schweißgeruch, gemischt mit dem Duft eines Aftershaves, entstieg dem Anzug. Der Wissenschaftler sah genauso aus, wie auf dem Profilbild seiner Akte. Nur etwas blasser um die schiefe Nasenspitze und seine schwarzen Locken klebten feucht an der Stirn. Verkrustetes Blut hing unter seinen Nasenlöchern und seine Augen verdrehten sich so weit, dass nur das Weiße zu sehen war.
»Scherben«, flüsterte er im Halbschlaf. »Glas. Rucksack.«
Dank ihres Bremsmanövers lebte der Felsenkleber noch, und Glenn saß hier mit gebrochenem Genick. Sie schloss die Augen. In Gewissensbissen konnte sie später suhlen. »Wir müssen entscheiden, wer den Medisarg zuerst benutzt.«
»Wer ihn zuerst benutzt?« Tian schaffte es, gleichzeitig zu lallen und wütend zu klingen. »Du hast den Käpt’n auf’em Gewissen. Willst du jetzt auch noch seine Wiederbelebung rauszögern? Das Kommando gefällt dir wohl zu gut.«
Lena holte tief Luft, damit sie ihn nicht anfauchte. Obwohl ihr der Blutdruck in den Ohren sauste, antwortete sie mit ruhiger Stimme. »Ohne mich könntest du dich jetzt in das Heer der Konglos einreihen, die für Luft und Wasser mit ihrer Freiheit bezahlen.«
»Da die anderen beiden noch leben, können sie ruhig einige Tage warten, bis sie in den Medisarg kommen«, sagte Nance etwas zu laut. »Ich steck’ den Käpt’n mal zuerst rein, damit die Verwesung nicht einsetzt. Magst du nicht mitkommen, Lena?«
»Vielleicht hast du’s noch nicht kapiert. Aber du hast den Käpt’n umgebracht, Prinzessin«, rief Tian. Er schwebte neben Dan und fuchtelte mit seiner abgeknickten Hand in ihre Richtung. »Warte, bis ich mich besser fühle, dann dreh ich dir höchstpersönlich den Hals um. Verdammte Navigatorenbrut. Die Träumer wissen, was sie euch ins Hirn gepflanzt haben, mit euren …«
»Wir kommen mit ins Krankenzimmer, Nance. Du steckst den Käpt’n in den Medisarg und ich such die Schmerzmittel für Tian«, sagte auch Dan in übertriebener Lautstärke. Er legte einen Arm um Tians Schulter und zog ihn sanft von Lena fort. »Vielleicht kannst du dich um Kroll kümmern, Lena? Setz ihn bei Bedarf einfach unter Drogen.«
Tian und Lena tauschten einen düsteren Blick aus, ließen es aber zu, dass ihre Mannschaftskollegen sie voneinander trennten. Nance schob Glenns reglosen Körper vor sich her. Jedes Mal, wenn sie die Richtung änderte, wackelte sein Schädel hin und her, als sei der Hals aus Gummi.
»Pass auf seinen Kopf auf, Nance«, sagte Lena. Ihr Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Es stimmte. Sie hatte Glenn umgebracht.
»Asche ist Metall. Vom Dreck trennen. Atmosphäre ausgesetzt. Im Rucksack. Vielleicht noch zu retten«, sagte Kroll von der Seite.
Lena blinzelte ihn an. Der Mann schälte sich gerade umständlich aus seinem Raumanzug.
»Asche ist Metall?« Sie fuhr sich mit einer Hand über die Locken. Der Mann hatte ordentlich einen auf den Schädel bekommen. Er nickte begeistert. Hatte der Kerl sie überhaupt verstanden? »Kommen Sie. Ich zeige Ihnen Ihre Kajüte.«
Kroll hielt sich mit beiden Händen an einer Rückenlehne fest und machte keinerlei Anstalten, sich vom Fleck zu bewegen. »Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen aus dem Shuttle.«
Der Wissenschaftler winkte ab. »Schwerelos. Nicht zum ersten … nicht zum ersten Mal.« Er runzelte die Stirn und schielte wieder. »Ich …«
Lena seufzte. In dem Zustand brauchte er einen Aufpasser, bis der Medisarg für den nächsten Einsatz bereitstand. Und das nahm einige Tage in Anspruch. Tote aufzuwecken gehörte zwar zur Routine, brauchte aber seine Zeit. Sie hätte Nance aufhalten sollen. Welches Problem den Wissenschaftler auch plagte, einige Stunden reichten sicher, um es zu beheben. Vorausgesetzt, er lebte. Solange konnte Glenn im Kühlbad warten.
Sie legte den Kopf in den Nacken. Wieso hatte sie das nicht gesagt? Wieso hatte sie sich von Tian aus dem Konzept bringen lassen? Dieses Kommandoding lag ihr nicht.
Kroll sah sich um. »Wo?«
»Sie befinden sich auf der Sonnenwind«, sagte sie betont ruhig und fasste ihn am Oberarm. »Kommen Sie mit ins Krankenzimmer. Sobald Dan mit Tian fertig ist, wird er sich mal Ihren Kopf anschauen.« Und sie konnte nach Glenns Zustand schauen.
»Kopf?«, fragte Kroll und schielte so hart, dass es schmerzhaft aussah. Sein linkes Augenlid zuckte.
Vorsichtig zog sie an seinem Arm, um ihn aus dem Shuttle und Richtung Krankenzimmer zu schieben. Doch er schlug um sich und traf sie mit dem Ellbogen im Gesicht. Der Schlag katapultierte sie zwei Meter in die Luft, bevor sie eine Lehne zu packen bekam und ihren Flug stoppte. Ihre Oberlippe erhitzte sich dort, wo er sie getroffen hatte. Unter ihr wand Kroll sich in einem Anfall. Seine Zunge hing aus seinem Mund und ein schmatzendes Geräusch erklang. Er drehte sich angetrieben von seiner Hampelei um die eigene Achse. Blutiger Schaum sammelte sich in einer größer werdenden Blase in seinem Mundwinkel. Seine Augen rollten unkontrolliert in alle Richtungen.
Lena stieß sich von der Decke ab und flog zu ihm runter. »Doktor Kroll! Hören Sie mich?«
Der Mann warf seinen Kopf hin und her. Er verfehlte sie nur um Zentimeter mit einer Kopfnuss. Sie zog sich ein Stück zurück und aktivierte das Kom mit einer Handbewegung.
»Nance?«, fragte sie. »Habt ihr Glenn schon in den Medisarg gesteckt?«
»Aye.« Die Programmiererin klang besorgt. »Wieso?«
»Schick mir Dan vorbei. Kroll hat einen Anfall. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Aye«, meldete sich der Funker. »Bin schon auf dem Weg.«
Doch sobald sie das Gespräch beendete, beruhigten sich Krolls Zuckungen. Seine Augen hörten auf, sich zu verdrehen. Er rotierte immer noch um seine eigene Achse, aber sonst bewegte sich nur die Blutschaumblase, die an seinem Mundwinkel waberte.
»Doktor Kroll?«, fragte sie und schüttelte den Mann an den Schultern. Ein Teil der Blase löste sich und flog wobbelnd davon. Sie tastete mit zittrigen Fingern seinen Hals ab. Kein Puls. Eine allumfassende Schwärze verschluckte die Welt vor ihren Augen.
»Nance?«, fragte sie mit dünner Stimme. »Wie lange braucht der Medisarg, um Glenn zu heilen?«
»Sieben Tage«, antwortete Nance. »Wieso?«
Lena schnappte nach Luft, als sei sie von einem Tauchgang an die Wasseroberfläche zurückgekehrt. Zu lange. Sie konnten Kroll selbst im Kühlbad nicht sieben Tage lang der Verwesung überlassen, bevor sie ihn in den Medisarg steckten. »Wir werden Kroll auf Eis legen.«
»Was?«, fragte Nance. »Das kannst du nicht machen. Wir können ihn hier nicht mehr auftauen.«
»Er ist tot. Vermutlich ein Schlaganfall«, sagte Lena. Sah so ein Schlaganfall aus? Sie hatte nie zuvor einen miterlebt. »Mir bleibt nichts anderes übrig.«
»Tot?«, fragte Nance. »Das heißt …«
»Das heißt, wir müssen ihn als Frostfleisch bei seinem Bruder abgeben«, beendete Lena den Satz. Und das würde dem Bruder mit Sicherheit nicht gefallen. Das Dröhnen in ihren Ohren übertönte alle anderen Geräusche. Zwei. Sie hatte heute zwei Leute umgebracht. Und der Medisarg konnte nur einem helfen.
Wiederauferstehung
Sonnenwind, auf dem Weg nach Amarok
Glenn träumte von einem Trümmerfeld. Einem, das so weit draußen in der Schwarzen See lag, dass nur wenige vor ihm es besucht hatten. Selbst nach ungezählten Jahrhunderten gab es hier noch Wertvolles zu holen. Rohmaterialien, Ersatzteile, Raumanzüge und ungeöffnete Vorratskisten warteten zwischen zerschossenen Schiffsrümpfen und abgerissenen Wohnmodulen auf neue Besitzer. Versteckt hinter den Trümmern entdeckte er sogar die Umrisse eines unversehrten Schiffes. Niemand vor ihm hatte es gefunden. Niemand hatte es auf der Suche nach verborgenen Schätzen ausgeweidet. Selbst eine Atmosphäre besaß es noch. Aber die Besatzung fehlte. So wie es auch im restlichen Trümmerfeld keinerlei organische Überreste mehr gab. Als hätte jemand alles Menschliche ausgeräumt und anderweitig entsorgt.
Das Bild entglitt ihm. Geräusche aus der echten Welt drangen in seinen Traum ein. Irgendwoher hörte er das Rascheln von Kleidung. Während sein Bewusstsein beim Aufwachen zurück in die Wirklichkeit rutschte, tauchten die Bilder unter die Oberfläche seiner Gedanken ab.
Hinter seinen geschlossenen Lidern nahm er das grelle Leuchten von Lampen wahr. Er betastete die glatte, kühle Oberfläche unter seinen Fingerspitzen. Zwischen seinem Rücken und einer weichen Unterlage staute sich klebrige Hitze. Breite Gurte spannten über seiner Brust, den Handgelenken und Oberschenkeln, um ihn in Position zu halten. Er lag in einem Medisarg. Dem Wunder der Technik, in dem selbst Tote wiederauferstanden. Sofern genügend Hirn übrig blieb.
Er lebte. Sein Denkkasten hatte die Flucht aus dem Gewächshaus überlebt. Hatten die Konglos ihn erwischt? Erneut raschelte Kleidung und er hielt die Luft an. Jemand anderes befand sich mit ihm im Raum. Die Gerüche nach Metall, salzigem Beschleunigungsgel, beduftetem Haaröl, Mungobohnen und Vanille krochen ihm in die Nase. So roch die Sonnenwind. So roch Zuhause. Abgesehen von der Vanille.
»Du bist wach.« Die Stimme seiner Navigatorin klang ungewöhnlich sanft. Die Schärfe fehlte. Anscheinend musste er nur dem Tod von der Schippe springen, um sie milde zu stimmen.
»Ich bin zu Hause«, flüsterte er. Sein Rachen kratzte vor Trockenheit, als hätte er Mehl eingeatmet. Mehl mit Metallgeschmack. Er leckte seine rissigen Lippen. »Wie habt ihr mich aus der Forschungsstation geholt?«
»Wir haben dich aus einem Shuttle geholt«, antwortete Lena. Sie klang besorgt. Er wollte sie in den Arm nehmen und ihren Kummer vertreiben. Dummkopf. Er war derjenige, der gestorben und wiederauferstanden war. Sie sollte seine Sorgen vertreiben. Nicht umgekehrt.
»Ich erinnere mich nicht.«
»Erinnerungslücken können nach einer Wiederbelebung vorkommen«, sagte sie. »Du hattest einen Genickbruch.«
»Was ist mit Tian und Kroll?«, fragte er, ohne die Augen zu öffnen. Selbst durch seine Lider blendete die Deckenbeleuchtung und er zögerte es hinaus, sich der Helligkeit zu stellen.
»Tian hat sich das Handgelenk verknackst und wartet darauf, dass der Sarg frei wird. Er hatte Glück.« Lena sog die Luft hörbar ein. Irgendetwas schien sie wirklich zu beunruhigen. Er schlug die Lider auf. Das Licht stach in seine Augen und brachte sie zum Tränen. Langsam schälte sich Lenas schlanker Umriss aus dem Gleißen des Krankenzimmers. Alles an ihr verriet die Nomadenherkunft. Die langen Gliedmaßen, das fein geschnittene Gesicht, und vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der sie völlig reglos mitten im Raum schwebte. Felsenkleber und Stationsbewohner verloren selbst nach Jahren im All nie den Kontakt zu Wänden, Griffen und Gegenständen. Die Freiheit der Schwerelosigkeit schien ihnen Angst einzuflößen. Dabei lag der nächste Halt in den Aufenthaltsbereichen eines Nomadenschiffes nur in Ausnahmefällen mehr als eine Armlänge entfernt.
Die Kraushaare der Navigatorin ließen ihren Kopf im Vergleich zum dürren Rest gigantisch wirken. Sie stemmte die Hände in die Hüften, ohne sichtbare Ausgleichsbewegungen. Ein Kunststück, das kein Felsenkleber hinbekam.
»Was ist mit Kroll?«, fragte er und streckte seinen Rücken, so gut es in den Gurten ging. Etwas knackte an seiner oberen Wirbelsäule und er erstarrte. Genickbruch hatte sie gesagt. Vielleicht sollte er noch etwas Vorsicht walten lassen.
»Ich habe den Wissenschaftler auf Eis gelegt.« Sie schwebte neben den Medisarg, als bewege sie sich mit reiner Willenskraft fort. Ohne Kommentar begann sie seine Gurte zu öffnen und wich seinem Blick aus. Die schwarzen Riemen surrten zurück ins Gehäuse des Medisargs, sobald sie eine Schnalle geöffnet hatte.
»Du hast Kroll eingefroren?«, fragte er und richtete sich auf. Sein linker Arm wurde zurückgerissen. Er spähte zur Seite auf einen Gurt, der ihn noch immer gefangen hielt.
»Wieso legst du unseren Gast auf Eis?« Seine Worte schnitten die Luft. »Du weißt, dass wir für ihn bezahlt werden. Was glaubst du, wird der Bruder uns pfeifen, wenn wir ihm beschädigte Ware liefern?«
»Er hatte einen Schlaganfall. Vermutlich durch die Belastung in der Beschleunigung. Und unser Medisarg war bereits besetzt.« Sie drehte sich so in der Luft, dass sie über ihm schwebte. Ihre dunklen Augen sahen an ihm vorbei zum Gurt an seinem Arm, den sie aufschnappen ließ.
Ihre Nähe verursachte ihm eine Gänsehaut. Seine Haut kribbelte, als die Armhärchen sich aufstellten.
»Wir könnten ein Krankenhaus in Amarok aufsuchen«, schlug sie vor. »Die haben die besten Krankenhäuser des Sednagürtels dort.«
»Stimmt schon«, sagte er. »Die kriegen völlig zu Brei zermatschte Nomaden wieder hin. Auftauen ist für die ein Klacks. Aber wir brauchen das Geld vom Auftrag, um das zu bezahlen. Unsere Kuben reichen nicht einmal, um am nächsten Hafen die Luftfilter auszutauschen und die Nährstoffkartuschen aufzufüllen.«
»Ist das Geld wirklich so knapp?« Lena verschränkte die Arme und hob eine Augenbraue. Doch in ihrer Gestik lag eine ungewohnte Unsicherheit. Warum war sie überhaupt hier? Er brauchte kein Kindermädchen beim Aufwachen. Die Gurte, von denen sie ihn so gewissenhaft befreite, ließen sich per Stimmbefehl öffnen. Sie schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. Die Bewegung ließ ihre Löckchen wippen.
»Du wirst den Auftraggeber anfunken und darum bitten müssen, dass er Frostfleisch nimmt«, sagte sie. »Gib ihm einen Rabatt als Entschädigung.«
»Rabatt?« Er stieß sich vorsichtig von seiner Unterlage ab und driftete in ihre Richtung. Das Krankenhemdchen klebte an seinem Rücken. »Er wollte seinen Bruder. Wir geben ihm seinen Bruder. Niemand hat gesagt, dass der noch atmen muss. Bei mir gibt’s keinen Rabatt!«
»Das wird sich schlecht in unserer Reputation machen.« Lena presste die Lippen zusammen. »Wir könnten einen Kredit aufnehmen, um das Krankenhaus zu bezahlen.«
»Diese Halsabschneider sehen von mir keinen Kub. Das ist deren Masche, um unser Schiff zu enteignen. Kommt gar nicht in …«
Er befeuchtete seine Lippen. Eigentlich war das keine schlechte Idee. Er musste sein Glück ja nicht bei einer Bank versuchen, die ihn vermutlich lieber an Lehrsinn-Bode verkaufte und sein Schiff einsackte, als Zinsen und Sicherheiten zu nehmen.
»Ich werde Dan mal fragen. Der kennt ja immer irgendwen.«
Lena sah ihn stirnrunzelnd an. »Wirklich? Dans dubiose Kontakte?«
»Willst du für immer mit Frostfleisch im Lager durch die Gegend fliegen?« Er winkte ab. »Hat Tian irgendwas zu unserer gelungenen Flucht gesagt? Ist bestimmt ‘ne tolle Geschichte.«
»War anscheinend erstaunlich einfach, mit dem Shuttle aus dem Hangar zu entkommen.«
»Einfach?«, fragte er und sah sie ungläubig an.
»Es hätte euch nicht möglich sein sollen, einfach ein Shuttle zu klauen und zu starten«, antwortete sie.
»Ich weiß ja nicht, was Tian erzählt hat. Aber ich wurde immerhin angeschossen« Glenn zeigte auf sein Bein und dann auf seinen Nacken. »Und ich hab mir das Genick gebrochen.«
»Das war ich.« Sie räusperte sich und sah zu Boden. »Ich hab euch zu schnell eingesammelt. Nur Tian hat das Manöver überlebt.«
»Du hast mich und Kroll umgebracht? Deinetwegen müssen wir Frostfleisch abgeben?«, fragte er. »Welcher Schatten hat dich geritten, so ein gefährliches Flugmanöver abzuziehen?«
Ihre Augen weiteten sich. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die Konglos haben eure Fähre zerschossen. Und da dachte ich, bevor die euch kriegen, nehme ich lieber Knochenbrüche in Kauf. Es tut mir so leid, Glenn. Unter den Umständen ging es nicht anders. Wenn ich dich nicht verlieren wollte!«
Schuldgefühle. Deshalb begrüßte sie ihn hier beim Aufwachen. Es tat ihm leid, dass er sie angefahren hatte, und er wünschte, sie hätte ihm nach dem Aufwachen einen Moment der Ruhe gegönnt. Er stellte sich vor, sie zu umarmen.
»Wir atmen alle noch. Also ist alles in Ordnung.«
»Kroll nicht«, sagte sie leise. »Es tut mir leid.«
Er seufzte. Sein Gehirn hätte für so eine Unterhaltung mehr Schlaf gebraucht. Er fühlte sich immer noch müde vom Heilungsprozess und dieser verdammte Metallgeschmack hing in seinem Mundraum, wie der Parfümgestank nach einem Puffbesuch.
»Wie habt ihr uns überhaupt gefunden?«
»Der Funkspruch, den wir gekriegt haben.« Ihre Mundwinkel zuckten.
»Was für ein Funkspruch?« Glenn hielt sich an einem Griff an der Decke fest und brachte sich in eine Position, die es ihm erlaubte, seiner Navigatorin direkt ins Gesicht zu sehen.
»Die Konglos haben in deinem Namen um Hilfe gebeten. Wir wussten gleich, dass ihr das nicht sein konntet.«
»Ja, so schnell rufe ich nicht nach Hilfe«, sagte er.
Sie bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. »Die haben viel zu höflich gebeten.«