Kitabı oku: «Handeln mit Dichtung», sayfa 14
3.4.1.4 Zwischenfazit
It is the same with both the genealogy and the list of lawspeakers, that it is difficult to see what business they have in a textbook on poetry. The most likely explanation is that someone in the Sturlung family was having material collected into a single volume that lay in booklets or on loose leaves and was connected with the family, or was relics of Snorri.1
Mit einer derartigen Meinung steht Pálsson nicht alleine da, häufig wird Codex Upsaliensis als eine blosse Ansammlung von verschiedensten, mit den Sturlungen bzw. Snorri Sturluson zusammengehörigen, Materialien betrachtet. Dass sich durchaus auch intertextuelle Verbindungen im Material zeigen, wird zumindest für die „Literaturgeschichte“ Skáldatal angenommen. Aber auch die beiden anderen Verzeichnisse können sinnvolle Zusätze für eine ars poetica darstellen. Genealogien können als grundlegende Denkformen der Wissensorganisation bestimmt werden. Sie stellen basale kulturelle Ordnungen her, z.B. im familiären oder rechtlichen Bereich.2 Diese Ordnungen verleihen Geltung, sie können ein Werk wie die Prosa-Edda (und auch die mit ihr verknüpften Personen) damit aufladen.
Bei den drei Verzeichnissen handelt es sich um drei verschiedene Arten von (genealogieähnlichen) Listen. Einmal ein aussergewöhnlich gestaltetes Layout, eine komprimierte Prosaerzählung in Listenform sowie schliesslich ein narrativ etwas ausführlicheres Verzeichnis der Gesetzessprecher. Die drei Listen zeigen unterschiedliche Möglichkeiten, Verwandtschaftsverhältnisse und andere Abhängigkeitsbeziehungen schriftlich darzustellen. Sie stehen folglich nicht nur wegen ihrem Inhaltswissen in U, sondern dienen auch als beispielshafte Erzählungsmuster von genealogischem Wissen. Man könnte sogar so weit gehen, die drei Listen selber als untereinander in einem genealogischen Verhältnis stehend zu beschreiben: Sie stehen in einem genealogischen Verhältnis des Schreibens.3 In der Inszenierung und Reflexion des Denkmodells wird dessen Bedeutung hervorgehoben und somit auch auf die poetologische Dimension übertragen.
3.4.2 Gylfi multimedial: Ein rahmendes Ende
Die Rahmengeschichte von Gylfis Reise zu den Asen wurde bereits diskutiert und ihre mehrschichtige Dialogform hervorgehoben. Doch es gibt eine weitere Dimension der Erzählung, die sie aus dem rein textuellen in den visuellen Bereich transferiert. U zeigt Gylfi im Gespräch mit den drei Asenkönigen auch in gezeichneter Form. Die Abbildung auf Blatt 26v ist berühmt geworden und hat in der modernen Beschäftigung mit der Prosa-Edda einen wichtigen Platz erhalten.1 Wenige Untersuchungen weisen dabei darauf hin, wo in U die Zeichnung genau platziert ist. Anders als vielleicht häufig angenommen, ist sie nicht in direkter Nähe zu Gylfaginning zu finden. Sie folgt auf die Liste der Gesetzessprecher und steht damit vor dem dichtungstheoretischen Teil, der in der dazugehörigen Rubrik als Skáldskaparmál bezeichnet wird. Es stellt sich die Frage, was diese distanzierte Platzierung bedeutet. Einige Untersuchungen sehen darin die Eröffnung für den folgenden Text, Skáldskaparmál, andere jedoch eine rein zufällige Platzierung, weil sich da gerade ein freies Blatt in der Handschrift befand.
Abbildung 5:
Gylfi und die Asen (DG 11 4to, 26v)
Mit einer performativen Perspektive wird die berühmte Zeichnung zu einem rahmenden Abschluss für die in Liber primus zusammengestellten Inhalte. Es werden verschiedenste Aspekte noch einmal angedeutet und zugleich mit einer neuen medialen Umsetzung versehen.
Dass sich die Illustrationen aber nicht nur als Rahmung, sondern auch mit den beiden weiteren Aspekten literarischer Performativiät – Sagen als Tun und Wiederholung/Wiederholbarkeit – beschreiben lassen, soll nun gezeigt werden.
Olof Thorell bezeichnet die ganzseitige Zeichnung Gylfis als die älteste in U, sie stamme von ca. 1300.2 Anders als die weiteren Zeichnungen ist sie also wahrscheinlich keine spätere Zutat, sondern gehörte schon relativ früh zur Handschrift. Die vier grossen Figuren zeigen eine Gesprächssituation: Eine Figur in Umhang mit Kapuze steht gestützt auf einen Stock vor drei auf Thronen übereinandersitzenden Figuren, die auch durch ihre Kronen als höhergestellt als die stehende Figur identifiziert werden können. Die Figuren sind aufeinander ausgerichtet und ihre Handgesten deuten darauf hin, dass sie miteinander sprechen. Der Zusammenhang mit Gylfaginning scheint offensichtlich. Doch so eindeutig ist die Sache nicht: Es gibt weitere Zeichnungen in U, die keinen so klaren Bezug zu einem der Texte aufweisen.3 Auch die Platzierung mit einigem Abstand zum Text von Gylfaginning macht den direkten Zusammenhang nicht wirklich klar, darauf wird zurückzukommen sein.
Die Illustration eröffnet eine weitere mediale Dimension für die Geschichte und kann als Hervorhebung eines ihrer wichtigsten Aspekte verstanden werden: Sie stellt eine mündliche Gesprächssituation als Medium für die Wissensvermittlung aus. Visuell wird dabei nicht unterschieden zwischen einem gelehrten Dialog oder einem eddischen Wissenswettstreit4, sondern es wird das ihnen Gemeinsame markiert: Beides sind mündliche Situationen, die körperliche Präsenz erfordern und ihre Geltung davon ableiten.
Nach mehreren Jahrhunderten scheint die Zeichnung aber nach einer Erklärung verlangt zu haben: Die Figuren wurden mit Text überschrieben, den Thorell so liest:
Till vänster ovanför teckningen finns en anteckning, troligen från 1600-talet, möjligen av Guðmundur Ólafssons hand: „Her er Har, Jampnhar ok Þriþi sem segir i Gylfa ginning.“ Jfr härmed anteckningen på innersidan av bakre pärmen, troligen av samma hand: „Her er Har, Jafn Har ok Þriðe, swa sem stendur i Gylfwa Ginning, pa. 50.“ Över Gangleri-figuren står: „gangleri spyrr“, skrivet av samma hand som stroferna på bl. 1 r.5
Links über der Zeichnung befindet sich eine Notiz, wahrscheinlich aus dem 17. Jahrhundert, möglicherweise von Guðmundur Ólafsson: „Hier sind Har, Jampnhar und Þriþi, von denen in Gylfa Ginning erzählt wird.“ Über der Notiz auf der Innenseite der Rückseite, wahrscheinlich von derselben Hand: „Hier sind Har, Jafn Har und Þriðe, so wie es in Gylfwa Ginning, Seite 50 steht“. Über der Gangleri-Figur steht: „Gangleri fragt“, geschrieben von derselben Hand wie die Strophen auf Bl. 1 r.
Ganz ähnlich wie die eddischen Strophen jeweils durch Formeln eingeleitet werden, wird hier auch die Illustration erläutert: „[…] sem segir i Gylfa ginning.“ ([…] wie es in Gylfaginning heisst) – nur, dass Gylfaginning hier selbst zum Zitierten wird. Die Verweissituation ist zweiseitig: Die Illustration kann als eine sinnstiftende Referenz an eine vormals körpergebundene Wissensvermittlung gelesen und so ähnlich wie der Einsatz von eddischen Strophen in die Prosa verstanden werden. Später braucht die Illustration ihrerseits wieder Erläuterung und wird rückbezogen auf den Text Gylf.
Die Überschrift „Gangleri fragt“ ist eine eigentliche Doppelung des Bildes, hier lassen sich Fragen, die ein Medienwechsel auslösen kann, beobachten. Das Handschriftenblatt als Erzählraum wird auf seine verschiedenen Möglichkeiten erprobt: Ist die körperliche Präsenz einer mündlichen Gesprächssituation nicht mehr gegeben, so versucht man sie durch „sprechende Illustrationen“ zu fingieren. Diese Körper scheinen auf dem Pergament aber nicht genügend Wirkmacht zu besitzen, weshalb die Schrift als zusätzliches Medium angefügt wird.
Aber nicht nur textuelle Erklärungen bzw. Doppelungen oder Wiederholungen gibt es auf dem Blatt, sondern auch visuell ausgestaltete: Neben den zwei grossen Figuren von Gylfi und den Asen fügen sich kleinere, gleichaussehende Figuren an. Vor allem Gylfi scheint als Kopiervorlage sehr beliebt gewesen zu sein, sind auf der Seite doch noch mindestens vier kleinere Versionen von ihm (in unterschiedlicher Ausführung) zu sehen. Jürg Glauser hat sich medientheoretisch mit der Illustration und ihren Kopien auseinandergesetzt und stellt fest, dass „das Prinzip des verdoppelnden Zitierens und Kopierens in dieser ‚Prosa-Edda‘ Handschrift sowohl auf der Text- wie der Bildebene eingesetzt wird mit dem klaren Ziel, undeutliche, ambigue Verhältnisse zu schaffen.“6 Waren die literarischen Verfahren einmal bewusst auf die Schaffung uneindeutiger Verhältnisse ausgelegt, so fügen nun auch die Transmissionsvorgänge je eigenen Sinn hinzu, was in einem noch grösseren Bedeutungsgeflecht endet. Auch im visuellen Bereich zeigt sich der Mythos produktiv: Wie schon der Text Gylf vom Wiedererzählen handelt und das Wiedererzählen anregt – z.B. in Form einer Illustration – löst auch die visuelle Szene weitere Wiederholungen aus: Während ein Lehrer vielleicht seinen Schülern die grosse Illustration zeigt, animierte sie offenbar einen oder mehrere Leser zum Zeichnen eigener Gylfis.
Solches „Wiederholungs-Potenzial“ führt manchmal zu Rezeptionssituationen, die so wahrscheinlich nicht intendiert waren: Ein Beispiel dafür kann die kleine Zeichnung rechts oben neben dem Kopf von Þriði sein. Der Kopf ist anders als alle anderen Köpfe auf dem Blatt eher etwas wackelig geraten. Er wurde bereits als Teufelsfratze oder Dämon interpretiert.7 Jürg Glauser denkt ihn als etwas misslungene Kopie eines der Königsköpfe, ganz ähnlich der Gylfi-Kopien. Die Doppelung funktioniere als Kommentar, der die drei Könige in den Bereich des Dämonischen stelle.8
Wie solche – künstlerisch vielleicht weniger gelungene – Momente dennoch ihr ganz eigenes Leben entwickeln können, zeigt Lukas Rösli anhand eines Vergleichs verschiedener frühneuzeitlicher Edda-Handschriften, die die mittelalterliche Rede-Szene bildlich weitertradieren. Der kleine gekritzelte Kopf wird als festes Element der visuellen Umsetzung verstanden und bleibt durch die Jahrhunderte hindurch präsent.9 Die Zeichnung der gesamten Szene ist so mit Bedeutung aufgeladen, dass sie wieder und wieder verwendet wird. Dabei wird aber auch klar, dass „Wiederholbarkeit“ nicht gleich „direktes Zitat“ ist, sondern jede Wiederholung immer für den jeweiligen Zweck angepasst wird. Das Bild bleibt sich gleich und wird in seiner Deutung doch völlig anders.
Durch die Platzierung der Illustration von Gylfi und den Asen wird der Text von Liber primus im Codex Upsaliensis in zwei grosse visuelle Rahmen gefasst: Durch den Bischof zu Beginn des Prologs und durch die Asen und Gylfi am Ende nach den drei Listentexten.10 Die zwei Momente von Medienwechsel kommen nicht einfach bloss als dekorative Visualisierungen in den Blick, sondern sind bedeutungsvolle Sinneinheiten: Sowohl der Bischof mit seiner deutlichen Handgeste als auch die Asen und Gylfi stellen je eine mündliche Kommunikationssituation aus, die das direkte Gespräch als Medium für die Weitergabe von Wissen inszeniert. Damit fassen sie die abstrakten erzählerischen Modelle in prägnante Rahmen, die Präsenz stiften und auf sich selbst bzw. die eigene Schriftlichkeit zurückverweisen.
So wie U heute überliefert ist, stellt der Bischof als eröffnender Sprecher das Nachfolgende in einen angemessenen Kontext. Die christliche Ordnung eröffnet das Werk und wie sich in vielen Aspekten zeigt, wirkt das strukturierende und kategorisierende Ordnungsprinzip durch die gesamte Handschrift.
Wie aber bereits mehrfach gezeigt werden konnte, steht der christlichen Ordnung eine zweite, weniger auf Fixiertheit und Abgeschlossenheit bedachte Ordnung gegenüber: der Mythos. Die beiden Ordnungen werden so komplex miteinander in Verbindung gebracht, dass häufig Mehrdeutigkeiten das Ergebnis sind, wo eigentlich Eindeutigkeit erwartet würde. Die beiden rahmenden Illustrationen sind dabei keine Ausnahme: Die Gesprächsszene von Gylfi und den Asen ruft nochmals das mythologische Denken auf, das in Gylfaginning seinen Platz hatte. Es zeigte sich, dass die (mythologische) Welt zyklisch aufgebaut ist und auch nur im wiederholenden Erzählen entstehen und existieren kann.11 Die Illustration ist Wiederholung und Ausgangspunkt neuer Wiederholungen in einem.
Dem ist anzufügen, dass die Illustration als rahmendes Ende von Liber primus die drei genealogischen Listen deutlich in den gesamten Text einfügen und darauf aufmerksam machen, dass sie immer in eine Lektüre miteinbezogen werden sollten.
Wie bereits angetönt, gibt es in U noch weitere Zeichnungen. Über die ganze Handschrift verteilt, finden sich an den Rändern mal grössere, mal kleinere menschliche Figuren. Besonders viele davon sind rund um den Text von Skáldatal platziert:
Abbildung 6:
Figuren (DG 11 4to, 25r)
Über die Zeichner ist nichts bekannt, die Illustrationen werden meist als spätere Hinzufügungen bestimmt und sind wenig erforscht.12 Einzig Aðalheiður Guðmundsdóttir setzte sich mit ihnen auseinander und interpretiert sie aufgrund ihrer speziellen Körperhaltung als Figuren von Tänzern.13 Neben diesen Figuren findet sich auch ein Mann in Ritterrüstung auf einem Pferd sowie eine kleine Hand. Es ist schwierig, eine Deutung all dieser Illustrationen vorzunehmen und sie nicht bloss als Dekoration einzustufen. Sind es tatsächlich Tänzer, Gaukler und Ritter, so scheint fast ein höfisches Umfeld aufgerufen zu werden – im weitesten Sinne könnte an „performances“ gedacht werden, bei denen auch Inhalte der Edda inszeniert werden. Das läuft aber der schulbuchkonformen Konzeption von Codex Upsaliensis zuwieder. Allerdings sind es spätere Hinzufügungen und die Funktion der Handschrift kann sich geändert haben. Vielleicht zählt Codex Upsaliensis für die Zeichner nicht mehr als gelehrter Text für die Schulstube, sondern ist Stoffsammlung für Unterhaltung, wie das eben auch Tänzer oder Ritterspiele sein können.14
Abbildung 7:
Ritter (DG 11 4to, 37v)
Abbildung 8:
Hand (DG 11 4to, 41v)
3.5 Fazit Liber primus
Die Lektüren von Liber primus machen ein Bedürfnis nach Vollständigkeit und Eindeutigkeit sichtbar, dass aus der gelehrten christlichen Schriftkultur gespeist wird. Dieses Bedürfnis führt zur Einordnung und Strukturierung der vielfältigen mythologischen Erzählungen hin zu einer umfassenden nordischen Mythologie. Mit dem Prolog und den genealogischen Listen wird die eigene Vergangenheit für die christliche Gegenwart aktualisiert. Dazu verwendet das Werk performative Verfahren wie z.B. Rahmungen oder intertextuelle Zitate auf unterschiedlichen medialen Ebenen. Über solche Verfahren soll sowohl der zu bewahrende Stoff (die Mythologie) als auch das diesen Stoff vermittelnde Werk selbst legitimiert werden. Den Texten von Liber primus ist eine enzyklopädische Grundtendenz eigen, welche die Welt in möglichst vielen Bereichen erfassen will. Immer wieder reflektieren die Texte, dass diese Welt eigentlich nur im Erzählen entstehen kann – Erzählen dient dementsprechend nicht nur der Welt-Erfassung, sondern auch der Welt-Verfassung.
Die Medialität des Erzählens selbst steht ebenfalls im Fokus von Liber primus: Die Texte und Illustrationen können auch als Zusammenstellung verschiedenster Vermittlungsformen für die Erfassung der Welt verstanden werden.
Der enzyklopädischen Denkform, die auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit ausgerichtet ist, steht der Mythos entgegen. Das mythische Denken ist durch seine unabgeschlossene Mehrdeutigkeit und fortwährende Veränderung gekennzeichnet, was die beiden Modelle schwer vereinbar macht. Beide Modelle werden zusammengebracht und es wird ausprobiert, wie sie am besten gemeinsam eingesetzt werden können. Die Texte und Illustrationen von Liber primus nehmen keine Wertung vor, gerade das Zusammenbringen der beiden Modelle führt immer wieder zu Sinnüberschüssen, die keine eindeutige Stellungnahme erkennen lassen. Die Uneindeutigkeit fordert den Rezipienten auf, sich selbst eine Meinung zu bilden. Gleichzeitig ist sie wohl auch ein Hinweis darauf, dass die poetologische und medientheoretische Diskussion an sich von zentralem Interesse zu sein scheint.
In Liber secundus wird diese Diskussion auf anderen sprachlichen Ebenen weitergeführt. Nachdem in Liber primus die Welt sprachlich er- und verfasst worden ist, soll nun auch die Sprache selbst in all ihren Facetten erfasst und systematisiert werden.
4 Welt verfassen – Welt erfassen: Performative Gelehrsamkeit
4.1 Lektüre der gelehrten Teile der Prosa-Edda
Man könnte annehmen, dass Aspekte literarischer Performativität nur in den erzählenden Teilen von U zu finden sind, wo einerseits der nordische Kosmos, andererseits eine einheimische Vergangenheit erschrieben bzw. verfasst werden. Da im zweiten Teil von U weniger erzählende, sondern stärker argumentative Texte zu finden sind, könnte man diese als „die Welt erfassend“ bezeichnen. Doch eine so deutliche Trennung von „Verfassen“ und „Erfassen“ gibt es nicht zwischen Liber primus und Liber secundus. Denn auch in den gelehrten Texten von Liber secundus wird Wissen einerseits systematisiert, andererseits aber auch zum ersten Mal „gedacht“ und als relevant inszeniert. Es handelt sich dabei um spezifisches Wissen über Sprache und Dichtung, das in dieser Form originär diskutiert und dargestellt wird. Zwar sind einzelne Bestandteile durchaus bereits vor der Abfassung der P-E als Teil eines gelehrten Diskurses bekannt – zusammengebracht und in einen umfassenden Kontext gestellt werden sie aber erst in den verschiedenen Handschriften der P-E.
Während in Liber primus von U u.a. verschiedene Arten von Erzählen im Vordergrund stehen, fokussiert Liber secundus stärker auf kleinere sprachliche Einheiten, die einen Bezug zur Dichtung haben (mehrheitlich skaldische aber auch eddische Dichtung). In der Anfangsrubrik von U werden zwei Teile hervorgehoben, die heute gängigerweise zur P-E gezählt werden: „skáldskapar mál ok heiti margra hluta“ (Sprache der Dichtung und Namen vieler Dinge) sowie das Gedicht Háttatal (Versmassverzeichnis).1 Doch an diese zwei Teile werden in U weitere Texte und andere mediale Formen angelagert. Einerseits bekommt Háttatal eine Art vorausgehendes Inhaltsverzeichnis, das einzelne Versmasse und sie exemplifizierende Strophen auflistet. Andererseits wird nach Skáldskaparmál der sogenannte 2. Grammatische Traktat (2. GTR) eingefügt, der wiederum zwei sehr interessante Diagramme enthält, die ausserhalb dieser Handschrift nicht bekannt sind.
Werden diese Inhalte und Formen zusammengelesen, ergibt sich ein Bild eines gelehrten Werks, das (dichterische) Sprache in all ihren Facetten zu erschliessen versucht: Von der kleinsten sprachlichen Ebene, den sich reimenden Silben (2. GTR), über die Beschreibung bzw. Erfassung komplexer dichterischer Umschreibungen (Skpm) und verschiedenster Versmasse (Ht), deckt Liber secundus alles ab, was in Bezug auf sprachtheoretisches Wissen zu der Zeit behandelt werden sollte. Eine derartig umfassende volkssprachliche ars poetica ist vor der Abfassung von U im nordischen Mittelalter nicht bekannt und die intellektuelle Leistung wird noch bewundernswerter, weitet man die sprachzentrierte Lektüre auf Liber primus und die dortige Diskussion narrativer Modelle aus. Mit diesem Blick auf das Gesamtwerk wird klar, dass U sich mit möglichst allen Ebenen sprachlichen Denkens beschäftigt.
Die folgenden Lektüren sind den gelehrten Teilen der P-E in U gewidmet und von einer spezifischen Grundfrage geleitet: Wenn in Liber primus mit dem Mythos vom Dichtermet ausgesagt worden ist, dass gute Dichter bereits dichten können und deshalb von Óðinn den Met erhalten, wie legitimiert sich dann die P-E als Handbuch für junge Dichter? Dabei halten sich auch diese Lektüren vordergründig an die Reihenfolge der Texte, wie sie in U zusammengestellt sind. Skpm steht dabei etwas im Hintergrund, da dieser Text im Verhältnis zum 2. GTR und Ht bereits sehr viel Beachtung in der Forschung erfahren hat.
4.2 Skáldskaparmál – Wie skaldische Dichtung relevant bleibt
„Hér hefr skáldskapar mál ok heiti margra hluta“1 (Hier beginnt die Sprache der Dichtung und die Namen vieler Dinge), mit dieser Rubrik setzt nach der Illustration von Gylfi und den drei Asen in U der Text wieder ein. Wie bereits zuvor in der Form eines gelehrten Frage-Antwort-Dialogs werden verschiedene Arten der skaldischen Dichtung beschrieben und durch Strophenbeispiele illustriert. Der Verfasserkommentar, der in U bereits am Ende von Gylf angefügt wird, nennt die Erweiterung des Wortschatzes mit alten Bezeichnungen und das Verstehen „verhüllter Dichtung“ als Funktionen des Textes.2
Da mit dem Verfasserkommentar auch die längeren Erzählteile von Skpm in U nach vorne gestellt worden sind, ist der Dialog nun ohne klare Sprechfiguren, was ihn formelhafter wirken lässt als Gylf.3 Aber parallel zu Gylf arbeiten auch Skpm mit dem bedeutungsstiftenden Verfahren der Wiederholung und benützen Strophenzitate. Zum grössten Teil handelt es sich dabei um Zitate aus skaldischer Dichtung, aber auch einzelne eddische Zitate sind zu finden.4 Die eddischen Zitate sind wie in Gylf auch hier anonym und inszenieren eine Art Überzeitlichkeit oder zumindest eine lange Vergangenheit. Die skaldischen Strophen hingegen sind meist einem namentlich genannten Dichter zugeschrieben. Das Zitierverfahren weist wie bei den eddischen Strophen in Gylf in zwei Richtungen: Durch die explizite Benennung der Quelle wird den theoretischen Ausführungen Gewicht verleiht – grosse Skalden haben diese Umschreibungen verwendet, deshalb sind es wichtige Elemente, die nun auch theoretisch erfasst werden müssen. Umgekehrt setzen die theoretischen Ausführungen die Dichtkunst und damit auch die (historischen) Skalden als relevant für die Gegenwart.
Margaret Clunies Ross, eine der besten Kennerinnen von Skpm, hat die Bedeutung des Textes mit ihren Forschungen stark hervorgehoben.5 Zum Status des Textes sagt sie:
Within Iceland, Skáldskaparmál was arguably the most important, most copied and most imitated part of Snorri’s Edda in the late Middle Ages and well into the Renaissance. The extant manuscripts preserve it in varying forms, and, as we have seen earlier, Snorri may have been experimenting with different arrangements of its material without making a final decision on which version was best. It is likely to have been used as a text book in some Icelandic schools of the later thirteenth and fourteenth centuries, and perhaps more generally for purposes of private study.6
Der unfertige Charakter des Textes wird unten vertieft diskutiert. Bereits hier kann aber als These formuliert werden, dass die Beliebtheit und die breite Rezeption von Skpm möglicherweise auch mit dem offenen und damit leicht adaptierbaren Zustand zusammenhängen können. Der Text liefert eine bislang nicht vorhandene Zusammenstellung von Dichtungssprache: Es geht nicht wie in Ht um metrische Eigenschaften skaldischer Dichtung, sondern um die stilistische Gestaltung der Dichtung mit verschiedenen Umschreibungsformen, sogenannten kenningar und heiti. Die Umschreibungen werden anhand von Beispielen aus der skaldischen Dichtung vorgestellt und meist mit Strophenzitaten versehen. Die verschiedenen Begriffe werden in den Versionen von Skpm in unterschiedlicher Reihenfolge und je anders gewichtet aufgeführt.
In U beginnt es mit einem kurzen Abschnitt und wie als Einleitung mit kenningar für die Dichtung, diese werden jedoch nicht näher ausgeführt. Dann folgen Umschreibungen für Óðinn mit vielen Strophenzitaten: „Enn skal láta heyra dǿmin hvernig skáldin hafa sér látit líka at yrkja eptir þessum heitum ok kenningum.“7 (Weiter soll man Beispiele zu hören bekommen, wie es Dichtern zusagte zu dichten nach diesen heiti und kenningar.) Nach sehr vielen Beispielen mit Bezug zu Óðinn kehrt der Text zum Thema Dichtung selbst zurück: „Hér skal heyra hvernig skáldin hafa kent skáldskapinn eptir þeim heitum er áðr eru rituð.“8 (Hier soll man hören, wie die Skalden die Dichtung umschrieben mit diesen heiti, die vorne geschrieben sind.) Nun folgen wiederum einzelne Bezeichnungen für Dichtung (ähnliche, aber nicht exakt dieselben wie am Anfang) und schliesslich werden wie bei Óðinn viele verschiedene Zitate aus Skaldenstrophen angeführt.
Im Vergleich mit dem Anfangsabschnitt über die Dichtung wird klar, dass es sich nicht um eine versehentliche Doppelung handelt, sondern dass der Text nach der Illustration von Gylfi und den Asen einen passenden Einstieg findet, indem er Dichtung und dichterische Umschreibungen kurz als Grundthema des Folgenden aufruft, dann aber direkt – und ganz in Abstimmung mit Gylfaginning – zur wichtigsten mythologischen Figur für die Dichtung wechselt. Erst nach den Bezeichnungen für Óðinn kann die Dichtung selbst beschrieben werden. Nachher geht es weiter mit kenningar für die anderen Asen, für verschiedene Naturphänomene, für Männer und Frauen und schliesslich für Gold. Es folgen Umschreibungen für Kampf, Waffen, Schiffe, Jesus Christus, weltliche Könige und Adlige.9 Anschliessend an die kenningar werden heiti aufgelistet. Wieder beginnt es mit solchen für die Asen. Anschliessend kommen Bezeichnungen für Sonne und Mond sowie für den Menschen. Körperteile werden benannt, ebenso abstrakte Begriffe wie Sprache und Weisheit. Weiter geht es mit verschiedenen Tieren, Feuer und zum Abschluss heiti für Gold.10 Zwischen einzelnen Umschreibungen treten immer wieder diskursive Überlegungen und Definitionsversuche bestimmter dichterischer Verfahren sowie längere erzählende Einheiten, die als Erklärungen für bestimmte kenningar sowie heiti dienen. Bevor diese argumentativen Einheiten beleuchtet werden, zuerst einige Beobachtungen zur Medialität von Skpm.
Die verschiedenen umschriebenen Begriffe werden in U durch Rubriken genannt und eingeleitet, wobei häufig eine direkt anschliessende Frage den Begriff wiederholt.11 Derartige Wiederholungen können auf einen zweifachen Gebrauch des Textes hindeuten: Ein Leser nimmt die Rubriken als Titel auf und sieht sich durch die nachfolgende Frage in eine mündliche Situation versetzt. Ein vorlesender Lehrer hingegen überliest die Rubrik wahrscheinlich und braucht die einleitende Frage als „Titel“ (worauf er entweder selbst antwortet oder von den Schülern eine Antwort erwartet).12 Die multimediale Situation in den Skpm wird auch durch mehrere textuelle Hinweise hervorgehoben, wie bereits in den obigen Zitaten sichtbar wurde. So verweist der Text z.B. auf Voranstehendes: „sem fyrr er ritat“13 (wie es vorher geschrieben ist), schafft aber auch immer wieder einen mündlichen Kontext: „Hér heyrir at gull er kent […]“14 (Hier hörst du, dass Gold umschrieben ist […]).
Die skaldische Strophe wird im Text meist eingeleitet mit der Formel: „Svá kvað“ (So dichtete). Durch das Verb kveða (sagen, sprechen, erklären, auf bestimmte Weise aussprechen, artikulieren, vortragen, (e. Dichtung) aufsagen, melodisch vortragen, dichten, e. Laut von sich geben, schreien)15 wird eine stark performative Dimension des Sprechens eröffnet, die sich auf eine individuelle dichterische Aufführung bezieht. Mit dem Verb segja (sagen, erzählen, berichten, beantworten, vortragen, erzählen, erklären, verkünden, heissen, bedeuten)16, das in Gylf meist als Einleitung für die Strophenzitate steht, scheinen eher allgemeine und nicht eindeutig auf Personen zuweisbare Zitate eingeführt zu werden.17
Der Text von Skpm wird durch die zahlreichen Rubriken, die auf die folgenden Themen verweisen, in viele kleine Abschnitte unterteilt. Der Verfasser scheint zu versuchen, Ordnung in die verschiedensten Inhalte (Strophenzitate, diskursive Kommentare, erklärende Erzählungen) zu bringen und alle Facetten eines Phänomens zu erfassen. Dass das aber nicht immer so einfach ist, zeigen u.a. einzelne Leerstellen oder auch zwei ungewöhnliche Rubriken, die nur den abstrakten Namen Capitulum tragen.18 Insgesamt lässt sich dennoch ein deutlicher Wille zur Leserunterstützung ausmachen. Neben den Rubriken gibt es zahlreiche Initialen, die jeweils die Fragen hervorheben und v.a. zu Beginn des Textes wird praktisch jedes Strophenzitat durch ein „v“ am Manuskriptrand hervorgehoben. Gerade am Anfang des Textes gibt es eine zweite Schicht solcher Markierungen. Teilweise werden nicht nur „v“ am Rand angefügt, sondern auch einzelne Anfangsbuchstaben des Fliesstextes.
Abbildung 9:
Marginalien (DG 11 4to, 28v)
Mit welcher Absicht (und für welche Stellen im Text genau) diese Marginalien dazukommen, ist nicht klar. Es könnte sich um ein weiteres Ergebnis der Systematisierungstendenz handeln, die im gesamten Text sichtbar wird. Die Lesehilfen nehmen im Verlauf des Textes aber ab, vielleicht aus dem Grund, dass so viele Zitate aufgeführt werden und Marginalien keine wirkliche Hilfe mehr darstellen würden. Vielleicht sollten sie aber auch später noch nachgetragen werden.
Alle oben beschriebenen Verfahren oder Phänomene lassen sich in der grundlegenden Dynamik, die Skpm charakterisiert, fassen. Es geht in dem Text darum, die skaldische Dichtung an zeitgenössische Anforderungen anzupassen, ihre kulturelle Geltung zu behaupten und ihr deshalb auch den Weg für weitere Überlieferung zu ebnen. Skaldische Dichtung funktioniert nicht mehr so, wie man sich im 13. und 14. Jahrhundert auf Island vorstellt, dass es bei den grossen Hofskalden der Wikingerzeit der Fall war.19 Skaldische Dichtung wird rückblickend als wirkmächtiger Sprechakt angesehen: Ein komplexes Gedicht hat ökonomischen Wert und kann als Erinnerungsmedium ewigen Ruhm (oder Spott) verleihen. Doch das Potenzial, die Welt bzw. das Leben des Skalden mit nur einem Gedicht zu verändern, scheint nicht mehr unmittelbar gegeben: Die sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen haben sich geändert. Skaldik braucht Vermittlung und die Möglichkeit dazu sehen Skpm in einer Übertragung und Anpassung an die Schriftlichkeit. Das ehemals mündliche Gedicht, dessen starke Wirkmacht auch durch die Präsenz seines Dichters und des jeweiligen Empfängers gegeben war, muss nun seine Geltung in der Schrift behaupten.





