Kitabı oku: «Handeln mit Dichtung», sayfa 17
4.3.2 Texthafte Bilder
Der Traktat denkt die visuellen Unterstützungsmöglichkeiten noch weiter und geht über eine reine textuelle Umsetzung von Bildern hinaus. Zwei raumfüllende graphische Umsetzungen der abstrakten sprachtheoretischen Inhalte sind in den kurzen Text eingefügt. Sowohl das sogenannte Ring-Diagramm wie auch das Symphonia-Diagramm stehen ohne vergleichbare bekannte andere Diagramme in der altnordischen Überlieferung da. Der Codex Wormianus weist in seiner Version des 2. GTR keines der beiden Diagramme auf.
Aber nicht nur das plötzliche und einmalige Erscheinen der beiden Diagramme ist interessant, sondern auch ihr changierender medialer Status irgendwo zwischen Text und Bild. Es ist schwierig, den Text ohne die visuelle Umsetzung in Diagrammform zu verstehen und auch umgekehrt würde es nicht funktionieren. Ohne Text kann das Diagramm kaum verstanden werden.1 Die zwei Diagramme stehen an einer Schnittstelle von materieller und textueller Ebene der Handschrift: Einerseits gehören sie in ihrer visuellen Ordnungsstruktur auf die materielle Seite, andererseits ist ihr Inhalt sprachtheoretisch und besteht aus Buchstaben und ihnen verwandten Zeichen. Diese Ambivalenz ist in der Forschung noch nicht thematisiert worden. Bislang wird meist nur darauf verwiesen, dass der Text die Diagramme nur sehr knapp und wenig zufriedenstellend erläutert.2 Das ungenügende Zusammenspiel der beiden medialen Formen mag ein Grund dafür sein, weshalb der Verfasser des 2. GTR in W die Diagramme nicht in den Text eingefügt hat.
Trotz ungenügenden textuellen Erläuterungen tragen die Diagramme ihren Teil zur Bedeutungsstiftung des Traktats bei. Beides sind aussergewöhnliche Bilder, die im Gedächtnis bleiben und helfen, abstraktes Wissen zu systematisieren bzw. überhaupt erst zu denken.
Das Ring-Diagramm ist aufgeteilt in fünf Kreise mit je zwölf Feldern.3
Abbildung 10:
Ring-Diagramm (DG 11 4to, 46r)
Die Darstellung folgt auf den ersten Abschnitt des Traktats und nimmt die obere Hälfte von Blatt 46r ein. Direkt unterhalb folgt der Text mit den Beschreibungen des Diagramms. Der Text ist eine Ausformulierung der einzelnen Ringe. Der erste Ring wird z.B. wie folgt beschrieben: „Í fyrsta hring eru fjórir stafir. Þá má til enskis annars nýta en vera fyrir ǫðrum stǫfum: q, v, þ, h.“4 (Im ersten Ring sind vier Buchstaben. Diese können für nichts anderes gebraucht werden als vor anderen Buchstaben zu sein: q, v, þ, h.) Für die weiteren Ringe fallen die Erläuterungen ausführlicher aus, auf einige Beispiele wurde oben schon verwiesen.
Die schwarzen Linien des Diagramms sind rot nachgefahren, ein Sektor auf der rechten Seite ist grün. Ob (und wenn ja wofür) das als Hervorhebung gedacht war, lässt sich nicht sagen, da der Text keinerlei Bezug auf die Farben nimmt.
Die graphische Gestaltung macht aber sichtbar, dass solche Diagramme als Schnittstelle zwischen der Produktions- und der Rezeptionsebene des Textes verstanden werden können. Der Verfasser kann mit Hilfe der schriftbasierten medialen Möglichkeiten auf der Handschriftenseite Wissen neu anordnen und somit systematisieren. Ein ähnliches graphisch-layouterisches Experiment in U stellt Skáldatal dar. Anstatt die Listen der Herrscher und ihrer Skalden linear und rein horizontal darzustellen, wird dort eine neue Darstellungsweise ausprobiert und die Herrscher vertikal auf der Seite angeordnet.5
Eine aussergewöhnliche Darstellung wie das Ring-Diagramm hilft aber nicht nur dem Verfasser beim Ordnen der Gedanken, sondern fördert auch das Verständnis des Rezipienten. In Verbindung mit dem Text (möglicherweise auch ohne Text) übt das Bild einen haptischen Reiz aus: Der Rezipient fährt die einzelnen Linien oder Felder mit dem Finger ab, um die abstrakten Inhalte zu erfassen. Ein Diagramm lässt den Verfasser Neues denken und hilft gleichzeitig dem Rezipienten leichter zu verstehen und zu erinnern.
Dasselbe gilt auch in Bezug auf die zweite Abbildung, das Symphonia-Diagramm. Beide Diagramme sind auf ein gedankliches Bild ausgerichtet, geben aber vor, sich auf einen Gegenstand in der realen Welt zu beziehen.6 Die Anschaulichkeit im Abschnitt mit dem Symphonia-Diagramm ist dadurch erhöht, dass die verschiedenen Sinne zusätzlich angesprochen werden. Das Symphonia-Diagramm befindet sich auf Blatt 47r unterhalb der letzten textuellen Beschreibungen zum Ring-Diagramm. Es ist gross und nimmt ca. drei Viertel der Seite ein.
Abbildung 11:
Symphonia-Diagramm (DG 11 4to, 47r)
Auf der folgenden Seite wird das Symphonia-Diagramm beschrieben, wobei der Text nicht sehr hilfreich ist und sich teilweise wiederholt. Es wird aber klar, dass das Diagramm das Zusammenspiel von Buchstaben zu reimenden Silben visualisiert und ihre verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten zeigt. Das zur Veranschaulichung herangezogene Bild ist das einer sogenannten symphóníe, einem Instrument, das wohl am besten als Drehleier beschrieben wird. Die Funktionsweise des Instruments dient im Text als Erklärungsmodell für die lautlichen Vorgänge, im Diagramm wird das Instrument zu einer Art Tabelle umgeformt.
Der Text führt zuerst in das Bild der Drehleier ein und setzt die „stafa setning sjá sem hér er rituð“7 (die Aufstellung der Buchstaben, welche hier geschrieben ist) mit der Musik in Bezug. Im Anschluss daran wird erklärt, wie das Diagramm zu lesen ist:
Hér standa um þvert blað ellifu hljóðstafir, en um endilangt blað tuttugu málstafir. Eru þeir svá settir sem lyklar í simphoníe, en hljóðstafir sem strengir. Málstafir eru tólf þeir sem bæði hafa hljóð hvárt sem kipt er eða hrundit lyklinum. En átta þeir er síðarr eru ritaðir hafa hálft hljóð við hina. Sumir taka hljóð er þú kippir at þér, sumir er þú hrindir frá þér.8
Hier stehen quer auf der Seite elf Vokale, und auf längs auf der Seite 20 Konsonanten. Sie sind arrangiert wie die Tasten einer Drehleier, und die Vokale wie die Saiten. 12 Konsonanten haben sowohl Laut, wenn die Tasten gezogen, als auch wenn sie gestossen werden. Aber die acht, die danach geschrieben sind, haben die halben Laute von den anderen. Einige nehmen Laut an, wenn du sie zu dir ziehst, einige, wenn du sie von dir wegstösst.
Der Traktat endet darauf mit der Auflistung der verschiedenen Vokale und Konsonanten:
Þessir hjóðstafir standa um þvert: a, e, i, o, y, v, ę, ǫ, av, ey. Þessir eru tólf málstafir: b, d, f, g, k, l, m, n, p, r, ſ, t. Þessir eru málstafir ok hafa hálft hljóð við hina: ð, þ, z, y, c, h, x, q.9
Diese Vokale stehen quer: a, e, i, o, y, v, ę, ǫ, av, ey. Dieses sind die 12 Konsonanten: b, d, f, g, k, l, m, n, p, r, ſ, t. Dieses sind die Konsonanten, welche die halben Laute der anderen haben: ð, þ, z, y, c, h, x, q.
Dieser Schluss kann als Beispiel für das etwas unklare Verhältnis des erklärenden Texts und des Diagramms stehen. Anstatt nach den allgemeineren Erläuterungen zur Funktionsweise das Diagramm für sich sprechen zu lassen, führt der Text nochmals die einzelnen Buchstaben auf, diesmal einfach in der gängigen linearen Form. Der Traktat scheint nicht völlig von der Vermittlungskraft des Diagramms überzeugt, der Text alleine reicht für die angemessene Umsetzung aber offenbar auch nicht aus.
Die Drehleier (symphóníe oder auch Organistrum) ist ein aus dem Früh- und Hochmittelalter bekanntes Instrument, das sowohl in der Kirche als auch bei Hof gespielt wurde.10 Es war auch in Skandinavien verbreitet, was durch bildliche Darstellungen z.B. in Kirchen und in verschiedenen Dokumenten bezeugt ist. Auch in der Sagaliteratur kommt die symphóníe vor. Beuerle beschreibt das Instrument folgendermassen:
Die Symphonie ist ein Saiteninstrument mit Tasten. Während ein Rad die Saiten zum Klingen bringt, können die Tangenten, meist kleine Holzzungen am Ende der Taste, gegen die Saiten gedrückt werden, wodurch die unterschiedlichen Tonhöhen erzeugt werden.11
Sie fügt an, dass die Tasten der Symphonie häufig auch mit Buchstaben bezeichnet waren, um das Spielen zu erleichtern. Das könnte auf die Gestaltung des Diagramms inspirierend gewirkt haben. Üblich waren drei Saiten, wobei jedoch nur eine als Melodiesaite diente, während die beiden anderen mitschwangen.12 Auf das sprachliche Bild, das im Traktat hergestellt wird, passen diese Beschreibungen des realen Instruments relativ gut. Doch das Diagramm kann nicht als Abbild einer tatsächlichen Drehleier verstanden werden – es sind viel zu viele Saiten und Tangenten. Der Verfasser benutzt das Instrument und seine Funktionsweise als Assoziationsrahmen und wandelt es für seine Zwecke ab. Beuerle vermutet aber, dass er sehr genaue Kenntnis des Instruments hatte, da er zwei verschiedene Mechanismen verband, die nebeneinander existierten, aber wohl nicht im selben Instrument vorkamen:
Wenn der ZG also davon spricht, dass die Tangenten die Saite ‚reissen‘ (kippa), spielt er damit auf den Mechanismus der Zugtangenten an, bei denen, um die Tonhöhe zu markieren, die Taste nach oben gezogen wurde, so dass ein Holzpflöckchen auf der Tangente von unten gegen die Saite drückte. Spricht er hingegen vom ‚stossen‘ (hrinda) der Saite, bezieht er sich auf die Stosstangenten, bei denen, gerade umgekehrt, ein Holzpflöckchen von oben auf die Saite drückte, wenn die Taste nach unten gestossen wurde.13
Wer genau die beiden Diagramme konzipiert hat und wie sie schliesslich in den Traktat in U gelangten, ist unbekannt. Bis jetzt gibt es keine Anhaltspunkte, ob der Textschreiber auch für die Diagramme verantwortlich war oder nicht.14 Wie aus anderen Handschriften bekannt ist, können visuelle Hervorhebungen (Rubriken etc.) oder Illustrationen auch von einem darauf spezialisierten Schreiber hinzugefügt werden.
Betrachtet man das Symphonia-Diagramm aus rezeptionsästhetischer Sicht, so wird wie beim Ring-Diagramm deutlich, dass hier eine neue Art von Geltungsstiftung angestrebt wird. Der musikalische Assoziationsrahmen leitet den Rezipienten implizit dazu an, das Instrument bzw. das Diagramm selbst zu spielen: Die verschiedenen Klangkombinationen können selbst – laut ausgesprochen – hervorgebracht werden, die fixierten Schriftzeichen werden so wieder zu stimmlichen Lauten. Auch eine taktile Dimension kommt hinzu, die Saiten und Tasten können auf der Handschriftenseite „gestossen“ und „gerissen“ werden, sie bilden eine Steigerung der Möglichkeit, mit dem Finger dem linearen Text auf der Seite nachzufahren. Der visuelle zweidimensionale Schriftraum wird so zu einem akustisch und taktil wahrnehmbaren Raum erweitert.
Das Diagramm als Medium der Anschauung und der Erkenntnis hat eine lange Tradition und kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Interessante Ansatzpunkte für weitere Untersuchungen finden sich z.B. bei Sibylle Krämer. Sie definiert Diagramme und ihre verwandten Formen als „Spielfelder des Denkens und Erkennens.“15 Dass sich diese Bezeichnung gerade mit der Spielfeld-Metapher des 2. GTR trifft, ist ein spannender Zufall. Krämer will – anders als die bereits zahlreich vorhandenen Studien zu verschiedensten Formen von Diagrammen – eine allgemeine Theorie diagrammatischer Darstellungen und ihrer epistemischen Rollen finden.16 Für eine neue Perspektive auf den 2. GTR, der bislang praktisch nur linguistische Beachtung fand, ergeben sich daraus interessante Ansätze. Krämer definiert Diagramme als eine Form von bestimmten operativen Visualisierungen, die zur Wissenserzeugung dienen:
Wir können nun eine Leitidee formulieren, die dieser Studie zugrunde liegt: So, wie der kartographische Impuls eine Strategie ist, Orientierungsprobleme unserer praktischen Mobilität zu lösen, so verkörpert die Kulturtechnik flächiger Inskriptionen in Gestalt von Schriften, Diagrammen, Graphen und Karten eine Strategie, Orientierungsprobleme unserer theoretischen Mobilität zu lösen.17
Mit der Hilfe von diagrammatischen Formen lassen sich Wissensbestände nicht nur auf eine vom Text verschiedene Art anordnen, sie ermöglichen auch das Weiterdenken:
Denkoperationen [werden] ermöglicht, die anders kaum zu vollziehen sind. Flächige Inskriptionen können in Bewegungsräume des Denkens und Erkennens, der Einsicht und des Verständnisses, der Komposition und des Entwurfs und nicht zuletzt: der Wissensübermittlung verwandelt werden.18
Ein Diagramm stellt eine Form dar, die für ein enzyklopädisch interessiertes Werk wie die P-E sehr geeignet ist. Auf kleinstem Raum lassen sich grosse Wissensbestände sammeln und strukturieren. Sie sind eine Art externes Gedächtnis, das man nur mit Kenntnis der Funktionsweise nutzen kann. Diagramme besitzen somit grosses performatives Potenzial: Sie wirken durch ihre innovative Form. Einem Diagramm ist Sinn und Bedeutung immer bereits eingeschrieben, wie auch Krämer sagt: „Beweiskraft zu haben, eine Einsicht im Medium der Visualisierung zu erzeugen, ist eine so frühe wie charakteristische Aufgabenbestimmung diagrammatischer Inskriptionen.“19
Weil die Diagramme des 2. GTR die Schrift und die Sprache selbst betreffen (und nicht z.B. geometrische Abbildungen oder Sternbilder o. ä. sind), sind sie besondere Beispiele für Diagramme und machen einen weiteren poetologischen Moment innerhalb der P-E von U sichtbar. Auf einer diskursiven Ebene ermöglichen die Diagramme die Diskussion, wie Schrift und Sprache zusammengehören und wie sie sich auf einer zweidimensionalen Ebene am besten darstellen lassen.
Die Innovation der visuellen Darstellung bzw. Ordnung von Schrift hat auch eine ästhetische Dimension. Die einzelnen Schriftzeichen werden in den Diagrammen nicht nur linear auf die Handschriftenseite gesetzt, sondern in geometrischen Mustern inszeniert. Kreis und Rechteck wiederum sind schematische Umsetzungen von mentalen Bildern zweier Objekte in der Welt. Der Denkprozess bzw. die Denkleistung, die hinter der Diagrammkonzeption liegt, ist visuell „sichtbar“ und trägt zur Geltungstiftung bei.
Die beiden Diagramme wirken in gewisser Hinsicht auch geheimnisvoll und suggerieren durch die Abstraktion, dass nur bestimmte Personen das darin enthaltene Wissen entschlüsseln können. Durch die elitäre Wirkung und ihre spezielle Form könnte man die beiden Diagramme in U fast als visuelle Umsetzungen von kenningar auffassen.
Durch die Einfassung der einzelnen Buchstaben in die Linien des Diagramms wird jedes Zeichen für sich hervorgehoben. Der Buchstabe ist nicht mehr Bestandteil des Fliesstexts, sondern wird in all seinen Einzelheiten betrachtet. Das steigert seine Bedeutung: Jeder Buchstabe und jedes Zeichen ist für sich genommen wichtig, man muss es kennen, um Wissen zu erlangen. Oben wurde beschrieben, dass die im Diagramm gesetzten Buchstaben auch im linearen Text einzeln aufgereiht werden – beiden Darstellungsformen scheint es darum zu gehen, die Schriftzeichen für sich wirken zu lassen.20
Es stellt sich die Frage, woher der Verfasser des Traktats die Idee der diagrammatischen Darstellungen hatte. Im Bereich der grammatischen Literatur gibt es nichts Vergleichbares in der altnordischen Überlieferung. Allgemein weisen antike und mittelalterliche grammatische Abhandlungen keine Illustrationen oder Diagramme auf. Raschellá sagt dazu:
As is well known, it was not in the habit of ancient and medieval grammarians to elucidate their theories by means of illustrative figures. This was, instead, a characteristic feature of technical and scientific writings, and can be found, for instance – to mention a field with which the author of SGT was to all appearances quite familiar – in musical manuscripts, especially in those concerning the construction of musical instruments.21
Raschellà führt weiter aus, dass der Gebrauch von musikalischen Bildern und Konzepten in grammatischen Diskursen des Mittelalters sehr verbreitet war – jedoch seien keine Quellen bekannt, die damit so komplex umgehen (und sprachliche Bilder mit graphischen Darstellungen verbinden) wie der 2. GTR.22 Ein Vergleich mit der sog. Artes-Literatur, der Literatur zu den sieben freien Künsten, wäre interessant, gegebenenfalls gibt es da Entsprechungen zur Engführung von Sprache, Grammatik und Musik.23
Da der 2. GTR Musik als wichtiges Referenzthema hat, könnten auch musiktheoretische Texte eine mögliche Inspirationsquelle sein. Ob (und wenn ja welche) derartige Texte in Island oder Festlandskandinavien bekannt waren, ist allerdings schwierig zu sagen. Ein kurzer Blick in die Geschichte der Musiktheorie zeigt, dass im Kontext der christlichen bzw. klösterlichen Schriftlichkeit in Westeuropa auch viele musiktheoretische Traktate verfasst worden sind.24 Zuerst handelt es sich dabei um rein theoretische Abhandlungen, ab dem 9. Jahrhundert kommen auch praktisch orientierte musikalische Traktate hinzu. Die Traktate reflektieren u.a. Probleme, die sich bei einer Verschriftlichung von Musik durch den Medienwechsel ergeben. Neben textuellen Beschreibungsmodellen werden auch verschiedenste Arten der graphischen Fixierung von Klängen auf der Handschriftenseite erprobt.
Visuelles Denken scheint in musikalischen Traktaten des Mittelalters also durchaus gängig zu sein. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Symphonia-Diagramm zeigen laut Raschellà Illustrationen in bestimmten musikalischen Traktaten (z.B. in Boethius’ De musica): „The resemblance, however, is rather broad and does not imply a direct connection between these manuscripts and SGT.“25 Ob der Verfasser des 2. GTR vergleichbare Traktate kannte und/oder eine musikalische Bildung besass, darüber lässt sich nur spekulieren.
Zieht man auch andere mittelalterliche Sachtexte als Vergleich heran, wird die Situation nicht klarer. Rudolf Simek stellt in seinem umfassenden Werk zur altnordischen Kosmographie auch die wenigen bekannten Zeichnungen/Illustrationen aus dieser Literatur zusammen.26 Diese sind v.a. in astronomischen, geographischen und geometrischen Sachtexten zu finden, haben aber laut Simek nicht die Qualität einer Illumination und können damit wohl auch nicht als klassische Diagramme verstanden werden.
Bis auf Weiteres kann man dem Verfasser des 2. GTR eine einzigartige Experimentierfreude in Bezug auf die medialen Möglichkeiten innerhalb einer Handschrift statuieren. Der Text argumentiert innovativ und eigenständig – das kann ein möglicher Grund dafür sein, dass er vom Verfasser der P-E in die Handschrift integriert worden ist.
Nun wurden bereits mehrere Beispiele innovativer Sprachreflexion in U diskutiert, mit der abschliessenden Lektüre von Ht wird ein weiteres Beispiel hinzukommen.27
4.3.3 Zwischenfazit
Der 2. GTR in U ist ein weiteres Beispiel für einen Text, der über die Möglichkeiten und Grenzen der Schrift nachdenkt und dabei die Frage stellt, wie man Klang und Stimme auf einer Handschriftenseite darstellen kann. Weil es keine vergleichbaren Theoriemodelle gibt, muss der Text der Vermittlung besondere Aufmerksamkeit schenken: Am besten scheint ihm das richtige Verständnis durch Bilder und assoziative Rahmen gegeben. Da es sich um „neues Wissen“ bzw. um die gleichzeitige Generierung von „neuem Wissen“ handelt, muss der Text sich selbst legitimieren. Anders als in Gylf oder in Skpm kann das hier nicht mit Hilfe von intertextuellen Verweisen oder Zitaten als sinnstiftendes Verfahren geschehen. Der Text muss sich seinen Geltungsrahmen selbst schaffen und tut das, indem er über sprachliche Bilder Assoziationen weckt, die das Verständnis der abstrakten Inhalte fördern sollen. Es ist hier nicht die Anknüpfung an die Vergangenheit, die Bedeutung und Relevanz verleiht. Im 2. GTR dient das neue Medium der Schrift und seine innovative Verwendung der Legitimation. Skaldische Dichtung wird im Traktat mit Hilfe von visuellen Strukturierungsmodellen reflektiert.
Beuerle rechnet die Traktate in den P-E-Handschriften der grammatica practica zu und nicht einer abstrakt-theoretischen grammatica speculativa.1 Die Traktate würden sich alle einem speziellen Problem widmen, das gelöst werden soll und zeigten kein Interesse an philosophischer Sprachbetrachtung. Den 2. GTR sieht sie als eine Art „Arbeitstabelle für Skalden“.2 Es ist schwer abzuschätzen, inwiefern der Traktat tatsächlich praktische Hilfe bietet bzw. als solche aufgefasst worden ist. Insofern können gerade die multimediale Gestaltung des Traktats und die darin sichtbaren komplexen Denkformen auf ein philosophisches Interesse an Sprache hinweisen. Das diskursive Interesse lässt sich auch für die gesamte P-E in U festhalten: Ist sie wirklich ein Handbuch für angehende Skalden? Ist nicht vielmehr der umfassende theoretische Diskurs über die Sprache das, was das Werk eigentlich interessiert?





