Kitabı oku: «Handeln mit Dichtung», sayfa 8
3.2.3 Multimediale Anfänge
Bis jetzt wurde unterschlagen, dass der Prolog im Codex Upsaliensis nicht der eigentliche Anfang des Werks ist. Als einzige Handschrift der Prosa-Edda stellt er vor die Vorrede eine Rubrik, die in der Forschung grosse Berühmtheit erlangt hat:
Bók þessi heitir Edda. Hana hefir saman setta Snorri Sturluson eptir þeim hætti sem hér er skipat. Er fyrst frá ásum ok Ymi, þar næst skáldskápar mál ok heiti margra hluta. Síðast Háttatal er Snorri hefir ort um Hákon konung ok Skúla hertuga.1
Dieses Buch heisst Edda. Snorri Sturluson hat es in der Form zusammengesetzt, wie es hier geordnet ist. Als erstes wird von den Asen erzählt und von Ymir, als nächstes von der Sprache der Dichtung und Bezeichnungen von vielen Dingen. Zuletzt das Vermassverzeichnis, das Snorri über König Hákon und Herzog Skúli gedichtet hat.
Der eigentliche Prolog beginnt wie oben gezeigt, unterhalb der roten Überschrift mit einer grossen grünen Initiale A für Almatigr Guð (Allmächtiger Gott).
Abbildung 1:
Anfangsrubrik (DG 11 4 to, 2r)
Die Rubrik ist die einzige Quelle für die Verfasserschaft Snorris und auch der Titel Edda ist nur hier überliefert. Bereits vielfach wurde auf das mediale Bewusstsein hingewiesen, das in der Rubrik sichtbar wird: Das Werk ist ein in und für die Schriftlichkeit konzipiertes Buch, d.h. ein materielles Objekt, und es wird bewusst als solches bezeichnet:
Der Schreiber der Notiz legt in seiner – höchst stereotypisierten – Formulierung gleich am Anfang Gewicht auf den Umstand, dass ein (mittelalterlicher) Text zusätzlich zu seiner thematisch-ästhetischen Seite immer auch eine materielle Dimension aufweist und referiert darauf die Entstehungsgeschichte des Werks, nimmt eine Zuschreibung an einen als bekannt vorausgesetzten Autor/Kompilator vor, versieht den ganzen Text sowie einzelne Teile mit Titeln […] und gibt einen Überblick über seine Gliederung. Dazu bedient er sich mit setja saman für „kompilieren“, im Sinn von „zusammensetzen, zusammentragen, zusammenstellen“, und yrkja für „dichten, komponieren“ einer spezifischen poetologischen Terminologie.2
Über den Verwendungszweck wird hier aber nur implizit (wenn überhaupt) etwas gesagt. Indem der Inhalt aufgelistet wird, wird eine Kategorisierung von Wissen vorgenommen und der enzyklopädische Charakter des Gesamtwerks kommt bereits ganz zu Beginn des Werks zum Vorschein, auf den im Folgenden der vorliegenden Arbeit immer wieder zurückzukommen sein wird.
Die Rubrik (wie auch der darauffolgende Prologtext) gibt vor, einen eindeutigen Rahmen für das Kommende zu stiften. Aber dieser Rahmen generiert durchaus Mehrdeutigkeiten: Es fehlt beispielsweise eine Erklärung, was Edda bedeutet und bis heute ist die Etymologie des Wortes ungeklärt:
[…] von den verschiedenen Deutungsversuchen – zu óðr, „Dichtung“, das auch mit Óðinn in Verbindung zu bringen ist; zum isländischen Hof Oddi, auf dem Snorri Sturluson ausgebildet wurde, evtl. mit der Bedeutung „Buch von Oddi“; zum altisländischen Wort edda für „Urgrossmutter“; zum lateinischen edo im Sinn von „sammeln, herausgeben“ – hat sich keiner richtig durchgesetzt.3
Alle Erklärungsversuche haben bis zu einem gewissen Grad ihre Berechtigung. Auch mit einer Perspektive, die nach dem Performativen in der P-E fragt, gibt es keine deutliche Präferierung für eine der Möglichkeiten. Sowohl die Herleitung von lat. edo (ich gebe heraus, verfasse), als auch von altnord. óðr (Dichtung) weisen auf eine Reflexion der eigenen Konstruiertheit zurück und sind in diesem Sinne performativ zu verstehen. Das Gleiche gilt aber auch für die Deutungen Edda (Urgrossmutter) und Oddi (von Oddi). Die erste verweist auf die mündliche Tradierung von Wissen aus der Vergangenheit, die zweite kann als Legitimationsstrategie durch Verweis auf eine bedeutende örtliche Herkunft gedacht werden. Hier liefert der Begriff des Performativen keine neuen Einsichten.
Gerade der Umstand, dass auch der Titel den Rezipienten mit mehreren Deutungsoptionen zurücklässt, könnte – ist es denn eine bewusste Verfasserstrategie – auf den uneindeutigen literarischen Status des Werks deuten.4 Ist es ein unbeabsichtigter Effekt, d.h. ging die Bedeutung verloren – wäre es ein ironischer Zufall der Rezeptionsgeschichte, dass ausgerechnet die Bedeutung des Namens für das Werk, das über die Wichtigkeit der richtigen sprachlichen Bezeichnungen berichtet, vergessen gegangen ist.5
Obwohl diese Arbeit eine umfassende Behandlung des Werks, so wie es in der Handschrift vorliegt, fordert, scheint eine solche Lektüre durch die Anfangsrubrik nicht bestärkt zu werden: Sie beschränkt die Inhalte der P-E auf einige wenige Teile. Es besteht somit eine Diskrepanz zwischen der textuellen Inhaltssetzung und der materiellen Gestaltung der Handschrift. Nur von „ásum ok Ymi“ (Asen und Ymir), von „skáldskápar mál“ (der Sprache der Dichtung) und von „heiti margra hluta“ (der Bezeichnung vieler Dinge) ist die Rede. Die Inhaltsangabe bildet die Reihenfolge der Einzelteile relativ gut ab, der letzte Teil ist das Versmassverzeichnis Háttatal, das als einziger Teil als von Snorri „gedichtet“ (hefir ort) bezeichnet wird, die vorherigen Teile wurden von ihm „zusammengesetzt“ (saman setta). Man könnte nun „die Bezeichnung vieler Dinge“ sehr weit ausdehnen, um alle im Codex Upsaliensis enthaltenen Bestandteile miteinzubinden. Das scheint wenig sinnvoll, besser ist es, das unfeste Wesen des mittelalterlichen Textes anzuerkennen und die spezifische Ausgestaltung im Codex Upsaliensis als eine Version der Prosa-Edda zu verstehen. Daneben können problemlos weitere – medial unterschiedlich gestaltete – Versionen bestehen, einige sind bekannt, andere nicht. Die Anfangsrubrik (wie auch die weiteren Rubriken) kann aus einer dieser anderen Versionen übernommen, jedoch nicht an den Textkörper angepasst worden sein. Die gegenteilige Erklärung sieht die Rubrik als Innovation des Verfassers von U an und die Textbestandteile als ohne Anpassung übernommen.
In der vorliegenden Rubrik zeigt sich, dass paratextuelle Rahmen performative Strategien sind, die Bedeutung stiften, gleichzeitig dadurch aber auch offenlegen, dass diese Bedeutung dem „Inhalt“ nicht bereits inhärent ist, sondern zusätzlich beigegeben werden muss. Sie macht sichtbar, wie paradox derartige literarische Verfahren eigentlich sind: Sie verleihen Bedeutung und wirken auf das „Innere“ bzw. das Gerahmte. Aber das Innere wirkt zurück und hat durchaus Einfluss auf den äusseren Rahmen.
Zu paratextuellen Rahmen gesellen sich teilweise auch Rahmen nicht-sprachlicher Art. So kann der Anfang des Prologs in U um eine weitere Stelle nach vorne verschoben werden. Noch vor der eben besprochenen Anfangsrubrik weist der Codex Upsaliensis auf Blatt 1v eine weitere Eigenheit auf: Sie zeigt eine die ganze untere Blatthälfte einnehmende und relativ sorgfältige Zeichnung eines Mannes mit den Insignien eines Bischofs.
Abbildung 2:
Bischof (DG 4to, 1v)
Der Mann trägt eine Kutte oder Umhang und eine Mitra. In der linken Hand hält er einen Krummstab, mit der rechten Hand weist er mit dem ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger auf Blatt 2r. Olof Thorell schätzt die Abbildung als eine spätere Zutat ein: „Biskop med biskopstav; höger arm upplyft och ett par fingrar utsträckta. Knappast äldre än 1400-talet“6 („Bischof mit Bischofsstab, rechter Arm erhoben und ein paar Finger ausgestreckt. Kaum älter als 15. Jahrhundert“).7 Aðalheiður Gúðmundsdóttir vermutet die Entstehung zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert und begründet die Einschätzung mit der Ausgestaltung der Mitra und des Krummstabs.8
Wirklich sicher kann folglich nicht bestimmt werden, wann die Zeichnung in die Handschrift kam. Dennoch kann man sie als Bestandteil und gegebenenfalls als frühes Rezeptionselement betrachten und in eine Lektüre miteinbeziehen. Aðalheiður Gúðmundsdóttir fragt nach ihrer Funktion: „The question arises whether the bishop on fol. 1v was drawn for a particular purpose, or whether it is simply an exercise in draughtsmanship that happens to be here. Could it be that the bishop was intended as ‚blessing‘ the heathen content of the manuscript […]?“9 Dass der Bischof einen deutlichen christlichen Rahmen für das Werk aufmacht, ist nicht zu bezweifeln. Nimmt man dabei den Medienwechsel von Text zu Bild in den Blick, lässt sich das auch ohne Interpretation als Abwehr des heidnischen Inhalts verstehen. Eine Segnung könnte auch als rein textueller Zusatz hinzukommen, hier ist es aber eine visuelle Darstellung der Institution Kirche. Durch die zeigende Geste des Bischofs wird der Leser direkt zum Textbeginn geführt, er wird zum Lesen und Hören gleichzeitig aufgefordert. Seine Handgeste weist einerseits auf den Prolog, andererseits auf die gelehrte Schriftdimension des Werks hin. Der lesende Rezipient bekommt gleich zu Beginn visuell von einem kirchlichen Vertreter eine Leseaufforderung. Der „unpersönliche“ Text schafft so eine direkte und unmittelbare Ansprache des Rezipienten. Die Zeichnung inszeniert gleichzeitig aber auch eine mündliche (gelehrte) Kommunikationssituation, deutet man die Handgeste des Bischofs als Bitte um Aufmerksamkeit bzw. Stille. Der Rahmen wirkt so in mehrfacher Hinsicht bedeutungstiftend für den folgenden Inhalt.
Eine kleine Überschrift oberhalb des Bischofs erweitert dieses Spektrum noch. Klein geschrieben steht da: Hier er vnder pyramvs konvngr10 (Hier unten ist König Priamus). Bis jetzt hat erst Jürg Glauser eine Deutung dafür vorgeschlagen. Die Überschrift fügt dem kirchlichen Rahmen eine weitere Dimension hinzu und zeigt beispielhaft, wie vernetzt und verwoben die einzelnen Bestandteile der Prosa-Edda im Codex Upsaliensis zu verstehen sind. Bemerkenswert sei an der Notiz, dass sie den gezeichneten Bischof explizit mit dem trojanischen Hauptkönig Priamus identifiziere, der im Prolog als Schwiegervater von Menon genannt wird.11 Eine erste Verbindungslinie führt so direkt von der Bischofszeichnung in den Prologtext hinein. Aber Glauser weist auf eine weitere Vernetzung hin:
Der mittelalterliche Bischof repräsentiert somit in der (möglicherweise durchaus nicht unironisch gemeinten) Notiz den antiken Hauptkönig. Auf diesen findet sich in dem weiter hinten im Codex Upsaliensis befindlichen kurzen Abschnitt ‚Ættartala Sturlunga‘, d.h. der genealogischen Herleitung des isländischen Geschlechts der Sturlungen ein weiterer Hinweis […].12
Ausgangspunkt der Sturlungen-Genealogie ist der biblische Adam, mit Priamus bekommt die Linie zusätzlich Anschluss an die Antike. Blatt 1v zeigt diese mehrfache Bedeutungsanhäufung intermedial ausgestaltet – Rahmen und Inhalt bedingen sich gegenseitig.13
Auf Bl. 1r ist eine etwas weniger deutlich erkennbare Zeichnung zu finden. Thorell beschreibt sie unsicher als „Djur (?), med människohuvud. Väl knappast centaur?“14 (Tier (?), mit Menschenkopf. Wohl kaum ein Zentaur?). Lukas Rösli sieht darin „das Bild einer Chimäre, die aus einem menschlichen Kopf und dem Hinterteil eines Tieres, wohl eines Pferdes oder Hirschs, zusammengesetzt ist.“15
Abbildung 3:
Figur mit Menschenkopf (DG 11 4to, 1r)
Weil man nicht genau sagen kann, worum es sich handelt, ist Rösli zuzustimmen, dass dem Bild kein zu grosses Gewicht für die Gesamt-Edda beigemessen werden kann. Anders als z.B. der Bischof ist es nicht gross und sieht auch nicht sehr sorgfältig gezeichnet aus. Einen Bezug zwischen dem mythologischen Wesen der Chimäre und der mythologischen Erzählungen der P-E herzustellen, ist schwer, „da Chimären nicht wirklich zum Figureninventar der eddischen Mythen zählen.“16 Ist es denn eine Chimäre und wollte man daraus einen paratextuellen Zusammenhang zum Handschrifteninhalt herleiten, so wäre er evtl. in der Uneindeutigkeit des mythologischen Wesens und den ebenso in der Schwebe gehaltenen Bedeutungen der Prosa-Edda zu suchen.
Bl. 1r weist aber auch Text auf, der wegen seiner erschwerten Lesbarkeit noch schwieriger einzuordnen ist als die kleine Zeichnung. Thorolf meint dazu: „På blad 1 r har en okänd hand från 1400-talet eller 1500-talet nedskrivit tre skaldestrofer (rimligtvis s.k. lausavisor).“ (Auf Blatt 1r hat eine unbekannte Hand aus dem 15. oder 16. Jahrhundert drei Skaldenstrophen niedergeschrieben, eigentlich sogenannte lausavísur). Die erste Strophe scheint unabhängig zu sein, Strophe 2 und 3 gehören zusammen.17 Die Übersetzung ist umstritten, es scheint keinen direkten Zusammenhang zum Inhalt der Handschrift zu geben. Pálsson konstatiert denn auch: „They are merely a sign that empty spaces called for something to be written or drawn.“18 Das stimmt zwar häufig, allerdings muss gerade für den Codex Upsaliensis gesagt werden, dass sehr viel Leerraum auf den Blättern zu finden ist. Längst nicht überall wurde dieser zu späterer Zeit mit Ergänzungen ausgefüllt. Einen indirekten Bezug ergibt sich allenfalls durch die Form des Textes als skaldische Strophen. Das könnte als Hinweis auf die Weitertradierung bzw. Weiterkomposition skaldischer Dichtung über eine lange Zeit dienen.19 Der Rezipient aus dem späteren Jahrhundert zeigt sein dichterisches Können direkt im Dichtungshandbuch.
Aus heutiger Sicht sind solche Bestandteile, die dem „eigentlichen“ Text einer Handschrift vor-, dazu, oder hintenangestellt sind, nur schwer einzuordnen.20 Sie gehören aber zur jeweiligen Handschrift bzw. Werk dazu und können ihnen neue Bedeutungsdimensionen eröffnen. Für den Codex Upsaliensis zeigt sich so ein starkes Bewusstsein für die multimediale Umsetzung von Rahmungen bereits ganz am Anfang der Handschrift. Nimmt man diese paratextuellen Voraussetzungen mit in eine Lektüre der Hauptteile, so erkennt man ein selbstreflexives Spiel: Rahmen sollen Eindeutigkeit stiften, tun es aber nicht immer.
3.2.4 Zwischenfazit
Die Lektüre des Prologs macht bereits deutlich, wie gewinnbringend eine sprach- und dichtungstheoretische Perspektive für die gesamte Prosa-Edda sein kann. Auf der Erzählebene bestimmt der Prolog einerseits Wesen, Herkunft und Potenzial von Sprache, macht aber andererseits auch auf die damit verbundenen Gefahren aufmerksam. Sprache stammt von Gott, die christliche Welt entstand durch das Sprechen Gottes und sie ist eine schöpferische Kraft. Nur durch diese Sprache hat der Mensch Zugang zu Gott – vergisst er sie, bzw. vergisst er den Namen Gottes, so bleibt ihm der Zugang zur göttlichen Erkenntnis verwehrt. Die menschliche Sprache kann die Welt erfassen, indem ihr und den Dingen darin Namen gegeben werden. Nur so kann man sie einordnen und verstehen.1 Sprache, so zeigt sich im Prolog auch, ist das Mittel für die Erinnerung. Spricht man nicht mehr von etwas, vergisst man den Namen und es hört auf zu existieren.
Die Sprache des christlichen Glaubens wird über etymologische (d.h. sprachliche) Verfahren als Ausgangspunkt für die Herkunft der nordischen Sprache bestimmt. Übertragen wird sie durch herausragende Menschen, die von den nordischen Herrschern als höhergestellt anerkannt und schliesslich als Göttern ähnlich angesehen werden. Darin zeigt sich die grosse Macht, die von der Beherrschung der richtigen Sprache ausgeht.
Auf einer diskursiven Ebene legt der Prolog damit indirekt die Begründung für das Verfassen der P-E vor: Die eigene Sprache hat göttlichen Ursprung, ihre Bedeutsamkeit ergibt sich aus ihrer Funktion als Kulturträger und Wissensvermittler und der damit einhergehenden Deutungsmacht. Das Vergessen der Sprache bedeutet wiederum, dass man vom rechten, also christlichen, Weg abkommt und gefährlichen Täuschungen erliegt.
Ulrike Strerath-Bolz fasst die allgemein anerkannte Argumentation für die Entstehung des Prologs zusammen:
In der Betonung des sprachlichen Aspektes scheint die Hauptverbindung zwischen dem Prolog und den folgenden Teilen der Edda zu liegen. Snorri gibt hier die Erklärung für die Herkunft der in Gylfaginning gesammelten Mythen und der in Skáldskaparmál aufgezeichneten poetischen Sprache. Der gesamte Aufbau des bisher betrachteten ersten Teils spitzt sich zu auf eine religions- und sprachphilosophische Theorie, die in den Hauptteilen des Skaldenhandbuchs ihre Wirkung entfalten wird: Dichterische Sprache und skaldische Dichtkunst insgesamt sind Erbstücke aus heidnischer Zeit. Wenn sie bewahrt werden sollen, muss sich zumindest der (angehende) Dichter ihres religiösen Hintergrundes bewusst sein. In Snorris Sinne bedeutet das auch, dass der Dichter den vor-, nicht anti-christlichen Charakter dieses Hintergrundes kennt und richtig einschätzt, damit er ihn sich weder selbst zu eigen macht noch verdammt.2
Man sollte aber noch weitergehen und den Prolog auf alle Bestandteile des Codex Upsaliensis bezogen lesen: Das Wissen um die eigene Sprache und die Kultur der Vorfahren (z.B. in Form der Skaldik) ist von grosser Bedeutung, da es göttlichen Ursprungs ist. Daher darf es nicht verloren gehen und muss dafür aktualisiert, d.h. (hier) gerahmt werden. Die Skaldik bzw. die eigene Sprache und die in ihr überlieferten Erzählungen sind Wissensspeicher und verleihen der eigenen Herkunft Bedeutung.
Die bók als Schriftträger der P-E ist der zeitgemässe Versuch, das Wissen über Sprache zu sammeln und durch die Niederschrift vor dem Vergessen zu bewahren.
Der Prolog rahmt dementsprechend das Folgende ein und steuert die Rezeption (man könnte ihn als institutionellen Rahmen für das Gelingen eines nachfolgenden Sprechakts bezeichnen). Paradoxerweise steigert er aber auch die Komplexität, da er nicht gängigen Prologkonventionen entspricht, sondern eigene Wege geht. Auch die zusätzlichen Rahmungen durch die Anfangsrubrik und die Zeichnungen fügen je eigene Bedeutungsdimensionen hinzu. Die Rubrik verweist auf die gelehrte Schriftlichkeit als adäquates Medium für die Überlieferung. Doch der Ursprung der Sprache liegt im mündlichen Sprechakt Gottes und auch die Zeichnung des Bischofs im Sinne einer Vergegenwärtigung der kirchlichen Legitimation weist darauf hin, dass nicht immer die Schrift der angemessene Vermittler von Wissen ist. Der Beginn des Codex Upsaliensis ist eine Art Anfangs-Inszenierung, die mehrere Strategien zur Sinnstiftung verwendet, dadurch aber nicht völlige Eindeutigkeit, sondern mehrschichtige Bedeutsamkeit herstellt und so auch das Streben nach Eindeutigkeit in Frage stellt. Im Zusammenspiel mit den weiteren Inhalten der P-E wird deutlich, dass es sich hier durchaus um eine bewusste Reflexion und ein Spiel mit der eigenen Verfasstheit handelt.
3.3 Gylfaginning – Die Welt erzählen
Gylfaginning (kurz: Gylf; Gylfis Täuschung) wurde bereits in zahlreichen Untersuchungen behandelt, es ist wohl einer der am häufigsten thematisierten altisländischen Texte. Das liegt daran, dass Gylf, nach dem einleitenden Prolog der zweite Teil der Prosa-Edda, eine der ausführlichsten Quellen für unser heutiges Wissen über die altnordische Mythologie darstellt, trotz aller Schwierigkeiten, die sich aus solch einer Zuschreibung ergeben.1
Die Popularität von Gylf zeigt sich in einer schier unüberschaubaren Forschungslage, die sich bis ins 18. Jahrhundert zurück erstreckt.2 Zu Beginn und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein interessiert die Frage, ob es sich bei den erzählten Mythen um Zeugnisse einer germanischen Religion bzw. Kultur und damit bei der P-E um eine Theologie oder einen „heiligen Text“ handle. Die Idee, dass Gylf ein Abbild der lebensweltlichen Situation darstelle und damit kultische und rituelle Praktiken der nordischen Kultur bzw. eines nordischen Glaubens zeige, ist in manchen neopaganen Bewegungen der Gegenwart ebenfalls präsent. Mit dem Aufkommen stärker religionswissenschaftlich orientierter Fragen und der Forschung zum Begriff des Mythos und seiner Funktionsweise (auch in verschriftlicher Form) hat sich dieses Bild in der neueren Forschung gewandelt und andere Themen sind in den Vordergrund getreten. Gylf wird nun auch unter literaturwissenschaftlicher Perspektive gelesen, Motive und Stoffe bzw. narratologische Aspekte rücken in den Fokus.
Seit etwa drei Jahrzehnten wird Gylf meist im Kontext der P-E gelesen und als Grundlagenwerk für angehende Skalden verstanden, die sich damit die notwendigen Kenntnisse der heidnischen Mythologie aneignen können.3 Für die Skaldendichtung ist mythologisches Wissen unabdingbar und muss von angehenden Dichtern, die christlich sozialisiert sind, erlernt werden, genauso wie beispielsweise die skaldischen Versmasse. Die mythologischen Erzählungen bilden die stoffliche Basis für kenningar und heiti, die aussergewöhnlichen dichterischen Umschreibungen der Skaldik. Vergleicht man allerdings die in Skáldskaparmál (Sprache der Dichtung) vorgestellten kenningar und heiti, so lassen sich diese nicht so einfach durch die Erzählungen in Gylf erklären, für viele davon gibt es keine passende Erzählung oder nur Ansätze davon. Für ein praktisches orientiertes Lehrbuch zur Skaldendichtung könnte man aber vermuten, dass direkte Parallelen zwischen mythologischen Erzählungen und den darauf beruhenden poetischen Umschreibungen gezogen werden. Darauf wird unten einzugehen sein.
Über die Jahre hat eine Diversifizierung der Verständnisperspektiven stattgefunden, die verschiedenste Lektüreansätze zulässt. Jan Alexander van Nahl macht dabei auf einen wichtigen Umstand aufmerksam:
Throughout the last decades, a plethora of interpretations has been put forward, focusing on literary, mythological, and societal questions on different methodological grounds. This multifaceted dimension makes us aware that no theory provides adequate methods on its own when dealing with medieval texts, and it reminds us that the task of understanding history by means of literature – and thereby the history of literature, too – is in need of an intensified dialogue between highly specialised medievalists from different research traditions.4
Insofern fügt die vorliegende Arbeit eine weitere Interpretation zur weitläufigen Forschungslandschaft hinzu. Sie hat das Ziel, durch ihren theoretisch-methodischen Zugang Basis für weitere Lektüren zu bieten.
Die moderne Hervorhebung der mythologischen Erzählungen von Gylf als vermeintlich interessantestem Teil der P-E widerspricht der mittelalterlichen Überlieferungssituation: Gylf wurde im Gegensatz zu anderen Werkteilen wie z.B. den Skáldskaparmál nie unabhängig überliefert und wurde wahrscheinlich nicht als für sich stehendes Werk betrachtet. Fragt man nach der Funktion des Werks zur Zeit seiner Abfassung, muss man Gylf entsprechend im Gesamtzusammenhang betrachten. Mit einer solchen Herangehensweise stellt sich diese Arbeit auch vielen Beiträgen entgegen, die sich einzig mit Gylf beschäftigen und die sie umgebenden Texte und Illustrationen nicht oder nur sehr punktuell miteinbeziehen.
In U wird Gylf anders überliefert als in den Handschriftenversionen RTW. Nicht das Ende der Rahmenerzählung von Gylfis Fahrt zu den Asen steht am Schluss, sondern weitere mythologische Erzählungen, die in RTW bereits zu den Skáldskaparmál gehören. Heimir Pálsson dazu:
In the Uppsala Edda four mythological narratives, those about the origin of the mead of poetry, the battle between Þórr and Hrungnir, the kidnapping of Iðunn and Þórr’s visit to Geirrøðargarðar, have been moved from Skáldskaparmál and made into the closing chapters of Gylfaginning. In doing this, the redactor seems to have been trying to separate the mythological narratives from the account of poetical language, and takes it further than the author had originally done.5
Entgegen Pálssons durchaus plausibler Argumentation könnte aber auch der umgekehrte Fall eingetreten sein: Die Erzählungen standen anfänglich in Gylf und wurden erst bei den anderen Handschriften in Skáldskaparmál integriert.
Eine der in den Handschriften wandernden Geschichten – nämlich die von der Herkunft der Dichtung – wird für die folgende Lektüre wichtig und zeigt, dass U mit dieser andersartigen Strukturierung deutliche Hinweise auf die Werksintention liefert.
Gylf ist eine systematische Mythographie über die Entstehung, den Aufbau und Untergang des nordischen Kosmos mit all seinen Bewohnern. Die Binnenerzählungen der verschiedenen kosmologischen Vorgänge und Göttergeschichten werden organisiert durch eine Rahmenerzählung, die als Gespräch gestaltet ist: Der im Prolog kurz eingeführte schwedische König Gylfi macht eine Reise nach Ásgarðr, der Heimat der Asen und will herausfinden, woher deren Macht stammt.6 Der heutige Titel des Textes, Gylfaginning (Gylfis Täuschung) wirft einige Fragen auf, da er nur in einer Rubrik des Codex Upsaliensis überliefert ist. Die Rubrik, auf die zurückzukommen sein wird, sagt: Hér hefr Gylfa ginning fra því er Gylfi sótti heim Alfǫðr með fjǫlkyngi ok frá villu ása ok frá spurningu Gylfi.7 (Hier beginnt Gylfis Täuschung, wie Gylfi Allvater mit Zauberei in Ásgarðr besuchte und von der Irrlehre der Asen und von Gylfis Fragen.)
Wie bereits für den Prolog festgestellt, wird auch in der bisherigen Forschung zu Gylf dem Thema Sprache und Erzählen wenig Bedeutung zugemessen.
Dabei lohnt es sich, ausgewählte Schlüsselstellen mit einem Blick auf poetologische Fragen zu lesen und so neue Verständnisperspektiven zu eröffnen. Eine derartige Lektüre soll wieder durch Begrifflichkeiten der literarischen Performativität geleitet sein – anders als im Prolog wird aber der Fokus hier nicht auf dem Aspekt der Rahmung liegen, sondern sich stärker mit den beiden anderen Aspekten Sagen als Tun und Wiederholung/Wiederholbarkeit beschäftigen.8