Kitabı oku: «Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext», sayfa 6

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2.2.1.1 Genet und die Funktion des intellektuellen Mediators

Genets Relation zum intellektuellen Engagement kommt besonders ausgeprägt in einem scheinbar unverfänglichen Artikel von 1974 über zeitgenössische maghrebinische Autoren zum Ausdruck.1 Darin legitimiert er seine eigene Intervention durch die mangelnde Präsenz der Intellektuellen und grenzt sich virulent von Sartre ab, den er in insgesamt vier Textpassagen offensiv kritisiert:

Il faut donc que je parle, et je reparlerai de ces voix plus lucides que plaintives puisque nos intellectuels, ceux qu’on appelle encore bêtement nos maîtres à penser, se dérobent, ceux qu’on supposait les meilleurs se taisent, l’un des plus généreux, Jean-Paul Sartre, semble avoir fait faillite, se complaire dans sa faillite. Il n’ose pas prononcer un mot, un nom qui pourrait aider ces voix de Tahar Ben Jelloun et d’Ahmed. Il avait pourtant si admirablement commenté le livre de Fanon. Il semble refuser de dire les paroles non d’apaisement mais celles qui apporteraient une aide réelle. Il refuse de parler d’eux, comme s’il avait peur, ma parole, d’en avoir les mains sales! Mais Sartre n’est déjà plus le maître à penser de personne sauf d’une très pittoresque bande déjà débandée.2

Genets hier geäußerter Vorwurf, dass Sartre seiner Funktion als Intellektueller nicht nachkomme und sich in Hinblick auf die Probleme der Immigranten in Stillschweigen hülle, mündet in einer Entthronung des Intellektuellen schlechthin. Mit der impliziten Anspielung auf den Begriff der mauvaise foi und Sartres Theaterstück Les mains sales, „comme s’il avait peur […] d’en avoir les mains sales“3, in dem der Konflikt zwischen politischem Pragmatismus und revolutionärer Ideologie behandelt wird, unterstellt er Sartre mit ironischem Unterton ein inkonsequentes und in Sartres Verständnis inauthentisches Verhalten. Genet bewertet das fehlende Engagement der Intellektuellen als Zustimmung zur Situation der Unterdrückung, in welcher die Immigranten in Frankreich lebten, und betont die Ersetzbarkeit der Intellektuellen:

Évidemment, les intellectuels aussi ont un rôle dans une situation semblable, mais en refusant de hurler avec les opprimés, ils hurlent avec les loups. Mais puisque aucun écho, aucune résonance ne vient d’eux pour porter les voix, les faire entendre à ceux qui ont presque la même vie, les mêmes misères, il faut bien qu’on s’adresse directement au public: Sartre ne compte plus. Qu’il ne parle pas, que d’autres esthètes du silence ne parlent pas: on se passera d’eux.4

Genet stellt in Aussicht, dass die gesellschaftliche Funktion Sartres bzw. des Intellektuellen substituiert werden müsse und eine direkte Kommunikation mit der Arbeiterschicht jenseits einer intellektuellen Transferinstanz stattfinden solle, wie durch die Aussage „il faut bien qu’on s’adresse directement au public“5 untermauert wird. Die durch den Doppelpunkt eingeleitete Satzfolge „Sartre ne compte plus“6 verzichtet bewusst auf einen konjunktional gesicherten, kausalen Sinnzusammenhang, demzufolge man sich direkt an die Öffentlichkeit wenden müsse, weil Sartre seine Bedeutung verloren habe. So kann man die Feststellung, dass Sartre nicht mehr zähle, auch als eigentliche Botschaft für die Öffentlichkeit bewerten, wodurch dessen Bedeutungsverlust gleichsam zur Hauptaussage des Textes avanciert. Genets Ansprache ist explizit an die Arbeiter adressiert, die das Schicksal der Immigranten teilen und hat eine appellierende Funktion. Tatsächlich fordert Genet dazu auf, den Stimmen der Immigranten eine Zuhörerschaft zu bieten: „Ces voix qui brûlent avec des phrases presque en lambeaux, si les intellectuels refusent de les entendre, je demande aux ouvriers de les écouter.“7 Die offene und vehemente Kritik an den Intellektuellen verschleiert dabei, dass Genet selbst in seiner Ansprache das intellektuelle Interventionsschema bedient. Dieser Eindruck wird durch seine Ankündigung, „on se passera d’eux [des intellectuels, S.I.]“8, verstärkt. Durch die Verwendung des unpersönlichen Personalpronomens ‚on‘ bleibt unklar, wo Genet sich selbst situiert. Der zusätzliche Gebrauch der futurischen Zeitform des reflexiven Verbs ‚se passer de‘ dient dazu, das, was man in diesem Diskurs als Genets persönliche politische Intervention klassifizieren könnte, hinter einer auf grammatikalischer Ebene unpersönlichen Zukunftsprojektion zu verschleiern. Seine eigene öffentliche Funktion bleibt dadurch unkenntlich.

Albert Dichy bemerkt in seinem Kommentar zu diesem Text, dass die Polemik gegen Sartre nicht alleine aus den Divergenzen im israelisch-palästinensischen Konflikt resultieren könne, da sie zu vehement und frontal gegen den Philosophen gerichtet sei.9 Er betont, „que, par un curieux paradoxe, l’aventure politique de Genet dont on peut penser qu’elle ne serait pas tracée de la même façon sans le modèle sartrien, se sera fait contre lui.“10 Die hier geäußerte Vermutung eines paradoxen Zusammenspiels aus Modell und Gegenmodell, an dem Genet seine gesellschaftliche Positionierung ausrichte, erklärt die Unmöglichkeit der Zuschreibung eines festen Handlungsmodells und -konzepts. Genet postuliert die Substitution Sartres, ohne jedoch dessen gesellschaftliche Funktion als Sprachrohr unterdrückter Bevölkerungsgruppen tatsächlich ausfüllen zu wollen.

Insbesondere sein Engagement für die Black Panthers zeigt jedoch, dass Genet durchaus jene Mediatorenfunktion ausübt, die für Sartre eine bedeutende Komponente des intellektuellen und literarischen Engagements konstituiert. Wie sich in seinem frühen Text über den Rassismus in den USA mit dem Titel „Lettre aux intellectuels américains“11 manifestiert, versucht er als Mediator zwischen jenen Gruppierungen, deren politische Ziele er unterstützt, und den Intellektuellen zu fungieren. Der Titel indiziert die Intellektuellen als Adressaten des Textes und richtet sich de facto an ein anonymes, lediglich als „les Blancs“ determiniertes „nous“, dem sich Genet in diesem Text selbst zuzurechnen scheint. Genet nimmt eine vermittelnde Rolle zwischen den ‚weißen‘ Intellektuellen und den Black Panthers ein, indem er auf die nicht tolerierbare Situation der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA sowie exemplarisch auf die Verhaftung des Vorsitzenden der Black Panthers Bobby Seale aufmerksam macht. Stärker als in seinem späteren Text von 1974 steht 1970 das Moment der Solidarität mit den Intellektuellen im Zentrum, was sich in Hinblick auf die gemeinsamen Aktionen in diesem Zeitraum erklären lässt. So etwa mobilisierte Genet zu diesem Zeitpunkt auch andere Intellektuelle für die Bildung eines Aktionskomitees für George Jackson und organisierte ein Petitionsschreiben, für das er etwa Derrida, Barthes, Duras oder Sollers gewinnen wollte.12 Auch in seiner „May Day Speech“ 1970 appelliert er unter Anwendung eines Analogieschlusses mit der Dreyfus-Affäre in Frankreich an die amerikanischen Intellektuellen:

Naturellement, ce parallèle avec l’affaire Dreyfus ne peut pas se poursuivre point par point. Et je dois reconnaître qu’en Amérique, jusqu’à présent, il n’y a aucun Clemenceau, aucun Jaurès, ni surtout, parmi les intellectuels, aucun Zola pour écrire ‚J’accuse‘. Un ‚J’accuse‘ qui porterait condamnation contre la magistrature de votre pays et contre la majorité des Blancs restés racistes.13

Seine Rede zum Ersten Mai rechtfertigt er durch seine Mittlerfunktion, welche die Kommunikation zwischen den Black Panthers und den amerikanischen Intellektuellen unterstützt: „L’entreprise du Black Panther Party ne cesse de s’étendre, le public est de plus en plus nombreux à les comprendre et les intellectuels blancs vont peut-être les soutenir: c’est pourquoi je suis parmi vous aujourd’hui.“14 Wie auch bereits der Text von 1974 demonstriert, positioniert sich Genet jedoch stets in einem nicht definierten Zwischenraum zwischen, in diesem Fall, der revolutionären Gruppierung der Black Panthers und jenem Publikum, um dessen Aufmerksamkeit er wirbt.

Dennoch kennzeichnen jene um 1970 entstandenen Texte Genet als vermittelnde, öffentliche Instanz und sind ihrer Bestimmung nach vornehmlich als pragmatisch zu charakterisieren, da Genet hier meist auf die finanzielle Unterstützung und das Engagement der Adressaten für die Black Panthers abzielt – nämlich „populariser le mouvement et ramasser de l’argent“15, wie er selbst in einem Interview mit Michèle Manceaux unterstreicht. Es scheint kaum überraschend, dass Éric Marty, der die Verstrickung von Poesie und Politik in Genets Werk mit dem Vorwurf der Amoralität grundsätzlich kritisiert, die Unterstützung der Black Panthers als kohärentestes politisches Engagement bezeichnet, welches in Konkurrenz zu Jean-Paul Sartre stehe.16

Der Einsatz seines Namens, der Transfer seines literarischen Prestiges in den gesellschaftspolitischen Bereich und vor allem die handlungsorientierte und gesellschaftsrelevante Ausrichtung seiner Reden und Texte formen eine bedeutende Schnittmenge mit der intellektuellen Interventionsform. Genet selbst verlautbart in seiner „May Day Speech“, „dans mes interventions, aucune irréalité ne doit se glisser, car elle serait préjudiciable au Black Panther Party, et à Bobby Seale, qui est bel et bien dans une prison réelle, de pierre, de ciment et d’acier“17, und distanziert sich von einer auf dem Prinzip der Irrealität basierenden Aktionsform, die sich nachteilig für die Black Panthers auswirken könnte. Dieses Phänomen zeigt sich auch in der Modifikation des sprachlichen Codes, den er an die Handlungsziele seiner Reden für die Black Panthers anpasst, wie auch aus Jacques Derridas Anmerkung hervorgeht:

I don’t mean to say he was without irony, but it wasn’t at all the same code. I remember seeing him address a meeting in Paris, during which he asked for money […] and then he expressed himself truly with a great passion and anger and even a certain hostility toward the people from whom he was demanding money – but then he wasn’t playing.18

Dieses paradoxe Verhältnis zwischen einer pragmatischen und fiktiven Verhandlung der realen Zustände in seinen Interventionen resultiert aus der bewussten Opazität der öffentlichen Positionierung und erschwert darüber hinaus auch die Klassifizierung der intervenierenden Texte, deren Affinität zur militanten Literatur Jerôme Neutres betont: „[L]es textes qui accompagnent cette période d’action n’échappent pas toujours aux écueils de la littérature militante.“19 Dennoch erscheint Neutres eine Klassifizierung jener „textes contemporains de son action, les dits et écrits qui cherchent à être performatifs, à provoquer une action“20 unproblematischer, als die des posthum erschienenen Werks Un captif amoureux, da erstere sich nicht als Literatur präsentierten.21

Zum einen muss jedoch angemerkt werden, dass auch die in L’Ennemi déclaré versammelten politisch-pragmatischen Texte, anders als Jérôme Neutres hier behauptet, kein homogenes Korpus darstellen, wie sich besonders prägnant am Beispiel seiner im Kontext der gegenkulturellen Proteste in Chicago entstandenen journalistischen Beiträge im dritten Kapitel zeigen wird. Denn während Genet in den Texten um 1970 im Rahmen des G.I.P. und des Kampfes für die Black Panthers eine zwischen Intellektuellen und Revolutionären vermittelnde Position ausfüllt und damit selbst zumindest aus strategischen Gründen das Interventionsschema einer zwischengeschalteten intellektuellen Transferinstanz übernimmt, bleibt er in anderen Texten, wie beispielsweise den hier genannten journalistischen Artikeln, auch auf stilistischer Ebene stärker seiner Rolle als Poet verpflichtet. Zum anderen verwundert es, dass sich Neutres dann insbesondere auf Un captif amoureux bezieht, um Genets Interventionsform mit Sartres Engagement zu vergleichen.

Zwar eröffnet Neutres’ Ansatz eine interessante Gegenstimme zu jenen zahlreichen Untersuchungen, denen zufolge sich Genets gesamtes Werk durch eine eigentümliche Verschränkung des Literarischen und des Politischen auszeichne und unabhängig vom Entstehungszeitpunkt nicht zwischen politischen und literarischen Werken unterschieden werden müsse.22 So nämlich untermauert Neutres zu Recht den Zusammenhang zwischen den politischen Interventionen und Un captif amoureux, dessen Genese sich nicht ohne diese beschreiben lasse, und betont dabei, dass sich Un captif amoureux durch seinen literarischen Status radikal von den politischen Interventionen unterscheide.23 Doch Genets politische Aktivitäten grenzt Neutres dann gerade in Bezug auf Un captif amoureux von Sartres Konzept des literarischen Engagements ab und er orientiert sich dabei an Goytisolos Vorstellung einer „littérature compromise“:

Pour Goytisolo, comme pour Genet et avant eux, Marx et Trotski, la littérature engagée, l’écriture mise au service d’une cause politique concrète, d’une organisation ou d’un mouvement n’a jamais donné le jour à une œuvre de valeur. Les livres engagés se révèlent illisibles dès l’oubli ou la disparition des circonstances qui les ont motivés. L’écriture compromise se distingue de la littérature engagée par un investissement radical de l’écrivain dans uns réalité politique. N’est plus engagée seulement une facette de l’écrivain – son opinion politique sur telle ou telle cause – mais tout son être.24

Diese Form des literarischen Engagements geht über die Positionsergreifung in einem spezifischen politischen Kontext hinaus und manifestiert sich in einer absoluten politischen Verpflichtung des Schriftstellers, in der auch sein Werk aufgehe. Jene hier angedeutete Verflechtung von Politik und Ästhetik bei Genet konstatiert auch Moreno, ohne jedoch dabei zwischen Genets Früh- und Spätwerk zu unterscheiden: „Le politique n’est pas un aspect extérieur à l’œuvre, il est inséparable de sa recherche esthétique: il fait partie de sa littérarité.“25 Gerade jene Studien, in denen keinerlei Differenzierung zwischen dem Status des literarischen Frühwerks, den Interventionen und dem aus diesen hervorgegangenen letzten Werk vorgenommen wird, können Genets politisches Engagement nur unvollständig erschließen, da die Beleuchtung des Status der intervenierenden Texte nicht nur Aufschluss über Genets öffentliche Position liefert, sondern auch über die Klassifizierung von Un captif amoureux. Neben Neutres konstatiert auch Sylvain Dreyer in seiner Untersuchung zu engagierten Texten und Filmen aus den 1960er und 1970er Jahren den Einfluss Sartres als „contre-modèle“26 auf die in dieser Zeit aktiven Autoren und Regisseure, darunter Genet, bezieht sich jedoch in seinem Fall ausschließlich auf Un captif amoureux. Letzteren Text wählt er in seiner exzellenten Studie über die Entwicklung einer an Sartres Modell ausgerichteten Form des selbstkritischen literarischen und filmischen Engagements als Endpunkt der Ausdifferenzierung jener von ihm als „œuvres engagées critiques“27 bezeichneten Werke. Dreyer blendet dabei die Bedeutung aus, die der werkimmanenten Evolution von Genets politischen Texten hin zu Un captif amoureux zukommt. So ist nämlich fraglich, inwieweit Genet diesen überhaupt noch als Intervention konzipiert und ob dieser nicht vielmehr sein politisches Detachement bestätigt, wie im vierten Kapitel näher beleuchtet wird. Genets ablehnender Rekurs auf Sartres Interventionsmodell prägt sich stärker in seinen pragmatischen Texten aus, wie sich nachfolgend beispielsweise auch anhand seiner Vorworte aufzeigen lässt.

2.2.1.2 Genet als Verfasser von Vorworten

Die Textgattung des Vorwortes, derer sich Genet während seines politischen Aktivismus mehrfach bedient, konstituiert aufgrund ihrer liminalen Stellung einen Sonderstatus in Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen Pragmatik und Literarizität. Genet orientiert seine Rolle als préfacier an Sartres Modell.1 In seinem Text über zeitgenössische maghrebinische Autoren mit dem Titel „Sur deux ou trois livres dont personne n’a jamais parlé“ (1974) zeichnet sich seine Wertschätzung für Sartres Vorwort zu Frantz Fanons Les damnés de la terre2 ab, wobei er jedoch bemängelt, dass jener nichts dergleichen für Tahar Ben Jelloun oder Ahmed in der Aktualität unternehme: „Il [Sartre, S.I.] n’ose pas prononcer un mot, un nom qui pourrait aider ces voix de Tahar Ben Jelloun et d’Ahmed. Il avait pourtant si admirablement commenté le livre de Frantz Fanon.“3

Sartres Vorwort muss in Hinblick auf Genets eigene Funktion als préfacier bewertet werden. So verfasste Genet das Vorwort zu den Gefängnisbriefen von George Jackson4, zur vierten Broschüre des Groupe d’information sur les prisons über George Jacksons Tod im Gefängnis von Saint Quentin5 und zu den Gefängnisbriefen der Roten Armee Fraktion6.

Als literarische Kategorie repräsentiert das Vorwort auf textueller Ebene die vermittelnde Scharnierstellung, welche Genet zwischen den Black Panthers und den Intellektuellen bzw. der interessierten Öffentlichkeit einnimmt. Wie Jacques Derrida herausstellt, gehört es durch seinen Status der Vorrede bzw. des ‚avant-dire‘ „à la fois au dedans et au dehors du concept“7, welches im Werk selbst veranschaulicht wird. Diese Wechselbeziehung aus Werkinteriorität und -exteriorität kennzeichnet jene als „liminaire“ designierte Textsorte,8 wobei sich das der Textsorte inhärente Spannungsverhältnis zwischen Innen und Außen auch in Genets Mittlerfunktion widerspiegelt. Darüber hinaus repräsentiert der préfacier nach Genette nicht nur einen „‚parrain‘ littéraire ou idéologique“9, der unter Berufung auf seine Bekanntheit das Werk implizit empfiehlt, sondern er interveniert zudem auf gesellschaftspolitischer Ebene als porte-parole für ein bestimmtes politisches Ziel.10 Die gesellschaftspolitische Referentialität und Kontextualisierung des Vorwortes begründet auch die umstandsbedingte Notwendigkeit, welche das Erscheinen dieses Paratextes charakterisiert: „Les préfaces […] se multiplient d’édition en édition et tiennent compte d’une historicité plus empirique; elles répondent à une nécessité de circonstance.“11 Die Verankerung des Vorwortes in der politischen Aktualität sowie die auf den Haupttext vorausschauende Perspektive fundieren die Zeitform einer manifesten Gegenwärtigkeit, einer „présence manifeste“12.

In Sartres Vorwort zu Les damnés de la terre von 1961 wird die liminale Stellung dieser Textsorte anhand der Problematik der Adressateninstanz thematisiert. Während sich nämlich Fanons Text an die algerische Bevölkerung richtet und zur Befreiung von der französischen Kolonialmacht aufruft, schreibt Sartre sein Vorwort explizit für die Europäer, wie die zahlreichen Appelle unterstreichen, so beispielsweise „nous, les Européens, nous pouvons l’entendre [Frantz Fanon, S.I.]: la preuve en est que vous tenez ce livre entre vos mains“13 oder „Européens, ouvrez ce livre, entrez-y“14. Sartre rechtfertigt seine adressaten­orientierte Vorrede, indem er auf die – gerade für die okzidentale Gesellschaft bedeutsame – informative und auch bewusstseinsverändernde Charakteristik des Textes verweist: „Fanon révèle à ses camarades […] la solidarité des ‚métropolitains‘ et de leurs agents coloniaux. Ayez le courage de le lire: par cette première raison qu’il vous fera honte et que la honte, comme a dit Marx, est un sentiment révolutionnaire.“15 Sartre positioniert sich somit explizit als Vermittlerinstanz zwischen Fanons Text und dem okzidentalen Leser und beschreibt diese Mission mit Bezug auf die marxistische Dialektik als komplementären Bestandteil eines revolutionären Prozesses:

Ce livre n’avait nul besoin d’une préface. D’autant moins qu’il ne s’adresse pas à nous. J’en ai fait une, cependant, pour mener jusqu’au bout la dialectique: nous aussi, gens de l’Europe, on nous décolonise: cela veut dire qu’on extirpe par une opération sanglante le colon qui est en chacun de nous.16

Während Fanon den Bewusstseinsprozess der algerischen Bevölkerung vorantreiben möchte, zielt Sartres Vorwort darauf ab, den Leserkreis um die europäischen Leser zu erweitern. Der Philosoph nimmt die Funktion eines Fürsprechers an, der darüber hinaus die theoretischen Grundgedanken des Werks erklärt und interpretiert, was sich vor allem durch seine Kommentierung des Gewaltkonzeptes in Fanons erstem Kapitel offenbart.

Auch Genets erstes Vorwort zu George Jacksons Gefängnisbriefen wird durch jene Scharnierstellung determiniert, welche die Vorrede zwischen Haupttext und Leserkreis einnimmt. Wenn sich Sartre selbst jedoch jenem „nous“ zurechnet, mithilfe dessen er die potentiellen europäischen Leser adressiert, vermittelt Genet zwischen zwei Lagern, ohne jedoch sich selbst mit dem „vous“ zu identifizieren, das er auf diejenigen Leser anwendet, welche den Erfahrungshorizont Jacksons nicht teilen. Jene Haltung der offenen Distanzierung vom Leser knüpft an die narrative Struktur seiner frühen Romane an, in denen er gleichsam unter Rekurs auf die Personal- und Possessivpronomen „vous“ bzw. „votre“ eine Demarkation zur normierten Welt außerhalb von Kriminalität und Gefängnis markiert. Genet erhebt die im Gefängnis oder in der Reklusion entstandenen Texte, denen auch Jacksons Buch angehört, zu einer eigenen literarischen Kategorie, deren verbindendes Merkmal sich in einer Gleichgesinntheit zeige:

Si une même complicité noue les œuvres écrites en prison ou dans les asiles (Sade et Artaud se rejoignent dans la même nécessité de trouver en eux-mêmes ce qui, pense-t-on, doit les conduire à la gloire, c’est-à-dire, malgré les murs, les fossés, les geôliers et la magistrature, dans la lumière, dans des consciences non asservies), ces œuvres ne se rencontrent pas dans ce qu’on nomme encore la déchéance: se cherchant elles-mêmes à partir de cette déchéance exigée par la répression sociale, elles se découvrent des points communs dans l’audace de leur entreprise, dans la vigueur et la justesse de leurs idées et de leurs visions.17

Wie in diesem Zitat deutlich wird, präsentiert sich Genets Vorwort als Literaturkritik, und er selbst figuriert als „‚parrain‘ littéraire ou idéologique“18 im Sinne Genettes, eine Rolle, zu der ihn seine eigene Gefängniserfahrung prädestiniert. Das Identifikationsmoment liegt für Genet folglich hier weniger im Programm der Black Panthers oder in der Problematik des Rassismus als in der literarischen Aufarbeitung jenes Momentes der Reklusion, welche an eine ganze literarische Tradition anknüpft, die auch durch sein eigenes Frühwerk repräsentiert wird. Es scheint daher kaum verwunderlich, dass auch seine beiden anderen Vorworte in den Kontext des Gefängnisses zu rücken sind. Damit unterscheidet sich Genets Initiative als préfacier maßgeblich von jener Sartres, wie sie in seinem Vorwort zu Les damnés de la terre manifest wird. Sartre rechtfertigt seine mithilfe des Vorwortes operierende Vermittlung, indem er auf einen ethisch intendierten Bewusstwerdungsprozess der europäischen Bevölkerung abzielt, wohingegen Genet sein Vorwort auf Basis seiner Affinität zur Thematik des Gefängnisses als Literaturkritik verfasst. Dadurch nimmt Genet eine ambigue Position ein, insofern in seinem Vorwort Jacksons politische Forderungen und dessen poetisches Konzept gleichgewichtet behandelt werden, denn, wie Genet betont, „Jackson est poète, mais il encourt la peine de mort.“19 Über die Darstellung der gesellschaftspolitischen Situation der Afroamerikaner in den USA hinaus erläutert Genet den für ein im Gefängnis entstandenes literarisches Werk eigentümlichen Stil und hält für jene „lecteurs non réprouvés, qui jamais n’ont été et n’iront en prison“20 einen Lektüreschlüssel bereit. Par excellence wird in diesem Text die Verquickung von Poesie und Politik inszeniert, durch welche auch Genet sein eigenes politisches Engagement legitimiert.21 So beschreibt er den „génie poétique“ als Quelle jeder revolutionären Unternehmung:

Si l’on accepte cette idée, que l’entreprise révolutionnaire d’un homme ou d’un peuple a sa source en leur génie poétique, ou, plus justement, que cette entreprise est la conclusion inévitable du génie poétique, il ne faut rien rejeter de ce qui permit l’exaltation poétique.22

Die unwissende Leserschaft warnt Genet vor, dass ihr der Inhalt von Jacksons Werk unmoralisch erscheinen könne, und er begründet dies mit den Worten, „c’est parce que l’œuvre tout entière refuse votre morale“23. Im Unterschied zu Sartre identifiziert sich Genet in seiner Vermittlerrolle nicht mit den Adressaten, sondern mit dem Autor, dessen Werk er nicht mit dem erklärenden Anspruch einer moralischen Instanz, sondern aufgrund seiner persönlichen Erfahrung kommentiert. Die Situation dieser Mediation zwischen Autor und Leserschaft durch die Gitterstäbe der Gefängniszelle hindurch, denn „c’est donc derrière une grille, seule acceptée par eux, que ses lecteurs […] devineront l’infamie“24, soll im Nachfolgenden vor dem Hintergrund des von Foucault gegründeten Groupe d’information sur les prisons und dem darin operationalisierten Konzept des Gegen-Diskurses näher beleuchtet werden. Zusammenfassend muss Genets offene Konkurrenz zu Sartre betont werden, auf dessen Interventionsmodell er stets negierend rekurriert. Als Mediator agiert er zwar strategisch für die politischen Zielsetzungen der Black Panthers, verortet sich selbst dabei jedoch nie eindeutig in deren oder etwa im intellektuellen Lager. Im textuellen Zwischenraum des Vorwortes für George Jackson positioniert er sich insbesondere durch die gemeinsame Gefängniserfahrung auf der Seite des Autors.

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