Kitabı oku: «Klausjäger», sayfa 2
Valérie ging ihm nach. «Alles okay mit Ihnen?»
«Nichts ist okay. Lassen Sie mich in Ruhe!»
Valérie legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. «Kommen Sie.» Sie zog ihn mit sich. «Setzen Sie sich wieder. Ich weiss, es ist kein guter Zeitpunkt, um zu reden. Aber es muss sein. Alles, woran Sie sich erinnern, ist wichtig für die Polizei.» Sie wandte sich an Patrick. «Hatten Sie etwas Verdächtiges festgestellt, bevor der Schuss fiel?»
«Nein, ich erinnere mich nicht», sagte Patrick. «Wir gingen neben Konrad. Adrian links von ihm, ich rechts; Max schräg hinter uns. Wir hielten Ausschau nach flegelhaften Kindern. Denen drohen wir manchmal mit der Rute … zum Spass natürlich.»
«Du hast doch dieser Livia gedroht», unterbrach Adrian seinen Bruder.
«Wer ist Livia?», fragte Valérie.
«Patricks Ex. Sie befand sich unter den Zuschauern.»
«Und ihr habt sie trotz der Dunkelheit gesehen?»
«Sie stand handbreit neben der Parade.»
Valérie notierte. «Ich brauche die Adresse von dieser Dame.» Sie zögerte. «Woran erinnern Sie sich noch?»
«Nur an den Schuss neben meinem Ohr», sagte Patrick. «Es fühlt sich jetzt noch taub an.»
Das allerdings nahm Valérie ihm nicht ab. Einbildung, wusste sie, fabrizierte manchmal die absonderlichsten Überzeugungen.
«Konrad sank neben mir auf den Boden», sagte Adrian. «Er hatte nicht einmal Zeit, etwas zu sagen. Ich wurde mit etwas getroffen … Ich glaube, es war sein Blut. Ich habe noch immer einen Rostgeruch in der Nase.»
Valérie verkniff sich eine Bemerkung. Da musste wohl seine Phantasie mit ihm durchgegangen sein.
«Haben Sie eine Ahnung, woher der Schuss kam?»
Mit dieser Frage stiess sie auf Unverständnis. War abzusehen. Zudem hatten die Männer unmittelbar nach dem tödlichen Angriff ihre eigene Haut gerettet, indem sie sich auf den Boden warfen. Hatte der Schuss etwa einem der Schmutzlis gegolten? Oder sogar einem der Iffelen? «Wer ging hinter Ihnen?»
«Die Fackelträger», sagte Adrian. «Und Max.» Er nahm seinen Cousin in die Arme und drückte ihn an sich. «Dürfen wir jetzt nach Hause?»
«Ja, das ist wohl am besten», sagte Valérie. «Aber bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung. Ihre Aussagen werden in den nächsten Tagen protokolliert. Zu diesem Zweck werden Sie noch eine persönliche Vorladung bekommen.»
Die Polizei hatte es geschafft, den Tatort weiträumig zu sichern. Die Leute blieben zwar hinter den Absperrungen zurück, reckten jedoch ihre Hälse, um sich nichts entgehen zu lassen. Zwischenzeitlich waren die letzten Hörner verklungen, die Geisseln und Treicheln niedergelegt. Ein anderer Ton durchdrang die Nacht. Ein Martinshorn.
Blaulicht fegte über die Fassaden und durch den Nebel, der sich wie eine kochende Suppe ausgebreitet hatte. Vom Bahnhof her fuhren zwei Camions des Kriminaltechnischen Dienstes. Ihnen folgte die Ambulanz. Die Schaulustigen machten nur widerwillig Platz.
Timing, dachte Valérie und beendete das Gespräch mit den drei Männern.
Dr. Res Stieffel persönlich traf ein. Er streifte Valérie mit einem verachtenden Blick. Sie hatte ihn im Sommer nach einem Mittagessen abblitzen lassen und seinen Avancen dadurch keine Chancen gegeben. Zu nahe war er ihr gekommen. Hatte sie wohl bereits in seinem Bett gesehen. Gross war seine Enttäuschung gewesen, als sie ihm bloss ihre Freundschaft anbot. Das allerdings war ihm zu wenig, nachdem er sie in ein teures Gault-Millau-Restaurant eingeladen hatte. Valérie fand ihn sympathisch. Mehr nicht. Sie hatte erfahren, dass Res verheiratet und Vater von zwei Kindern war, es aber mit der Treue nicht so genau nahm. Vielleicht hätte er Valérie als weitere Errungenschaft abgehakt.
Valérie wunderte sich, warum er bereits vor Ort war.
Die Begrüssung fiel distanziert aus. Dr. Stieffels Hand blieb in seinem Sakko verschwunden. Valérie zog ihre wieder zurück. Sie räusperte sich und musste an ein trotziges Kind denken. Selbstverständlich hatte sie ihm damals das Du angeboten. Dass er sie jetzt wieder siezte, liess sie unkommentiert, fand aber, dass sie das Du nicht wieder rückgängig machen wollte. Aus ihrer Sicht gab es keinen Grund. Sie fragte, warum er so schnell in Küssnacht gewesen sei.
Dr. Stieffel liess die Bemerkung fallen, dass er jedes Jahr zum Klausumzug fahre. Valérie nahm es kommentarlos zur Kenntnis. Sie verwies ihn an den Amtsarzt und wandte sich an den Kriminaltechniker Franz Schuler, der mit einer zehnköpfigen Truppe eingetroffen war. «Wie hast du es bloss geschafft, so schnell so viele Leute aufzubieten?»
Schuler, blass wie ein Käse, was eindeutig seinen Genen zuzuschreiben war, näherte sich den Polizisten, die sich um den Leichnam aufgestellt hatten. Sie versuchten so, den Blick auf den Toten zu verhindern.
«Schneller ging es nicht.» Schuler setzte ein gefrorenes Lächeln auf. «Und, was haben wir?»
«Gemäss ersten Zeugenaussagen wurde der Mann von einem Geschoss getroffen.» Valérie blieb stehen und warf den Kopf in den Nacken. Sie liess ihre Augen zu den Fenstern an den dunklen Fassaden wandern. «Der Schuss muss aus einem der Häuser abgefeuert worden sein.»
«Das sind erste Vermutungen, nehme ich an.»
«Eine logische Überlegung», sagte Valérie. «Der Sankt Nikolaus ging nicht zuvorderst, sondern folgte einer Gruppe von Iffelen. Meines Erachtens war es fast nicht möglich, ihn aus der Richtung der Strasse oder des Trottoirs zu erschiessen. Ich gehe davon aus, dass du auch aus diesem Grund eine so umfangreiche Truppe mitgebracht hast.»
«Richtig. Die Häuser werden jetzt inspiziert.» Schuler wies die Polizisten weg, damit die Kriminaltechniker ein Zelt aufstellen konnten. Er sah auf das Opfer am Boden. Die Mitra war von dessen Kopf gerutscht, das Gesicht zur Seite gedreht, die Augen standen fast fragend offen, als hätte er vor seinem Tod noch etwas vom Schmutzli zu seiner Linken wissen wollen. Der weisse Bart hatte sich vom Gesicht gelöst. Die pelzbesetzte Stola war durchtränkt von Blut, wich in der Farbe jedoch kaum ab vom roten Samt. «Täusche ich mich, oder hat man den Toten bewegt?»
«Du kannst dir etwa vorstellen, was hier abging», antwortete Valérie. «Dass Panik ausbrechen würde, damit musste man rechnen. Ich traf zwar erst zwanzig Minuten nach der Tat ein, aber es gibt Leute, die befürchteten einen Amoklauf. Denen war es egal, ob sie dabei Spuren verwischten. Ehrlich gesagt, war selbst mir etwas mulmig zumute, als ich hier ankam. Wer denkt an so etwas, mitten in dieser traditionellen Parade. Andererseits könnte der Terror auch Küssnacht schon erreicht haben.»
«Dann lass uns jetzt unsere Arbeit tun.» Schuler sah sie nachdenklich an. «Wann sehen wir uns?»
Valérie stiess Luft aus. «Morgen auf dem Sicherheitsstützpunkt in Biberbrugg, zum Rapport. Um acht im Sitzungszimmer.»
«Auf dem SSB.» Schuler nickte.
Valérie zog den Ärmel an ihrem Mantel nach hinten, vergewisserte sich auf der Uhr, wie spät es war. «Louis wird bald eintreffen, der Staatsanwalt auch. Ich werde mich mit Henry Vischer auf den Weg zur Familie des Toten machen. Vielleicht sehen wir uns nachher noch einmal.»
Ein Blick auf den Toten. Dr. Stieffel hatte sich an die Arbeit gemacht. Valérie würde ihn nicht stören.
Sie sah zurück. Die Stableuchten der Spurensicherung sahen aus wie kalte Finger, deren Strahlen Lichtbänder in die Dunkelheit zeichneten. Halogenlampen wurden aufgestellt. In einigen Häusern war das Licht angegangen. Fenster standen jetzt offen, und Köpfe wurden sichtbar. Die Menschen dort oben hatten ihr Abendprogramm vor Augen und würden ihm beiwohnen, bis der letzte Polizist den Platz verlassen hatte.
***
Der Seemattweg erstreckte sich vom Seeplatz aus, wo sich die Kirche St. Peter und Paul befand, bis zur Kreuzung Breitenstrasse/Sagenweid dem linken Seeufer entlang. Der Nebel verschluckte auch hier das Licht der Lampen, die wie gebeugte Rücken am Strassenrand standen. Der Ort wirkte verlassen.
Valérie parkte ihren Wagen vor einem Einfamilienhaus, das mit einer Reihe von Lichterketten geschmückt war. Ein lebensgrosser rot leuchtender Weihnachtsmann thronte neben der Tür. Durch zugezogene Vorhänge schimmerte es ockergelb.
«Da scheint jemand zu Hause zu sein.» Valérie verliess den Wagen und näherte sich der Tür.
Henry folgte ihr unwesentlich später. «Redest du, oder soll ich?»
«Ich kann mich nicht davor drücken.» Valérie schniefte. «Das gehört genauso zu meinem Job wie alles andere Unangenehme. Danke, dass du bei mir bist. Vielleicht brauche ich später psychologische Unterstützung, je nachdem, wie die Hinterbliebenen reagieren.»
Tatsächlich wusste sie nie, was sie in so einer Situation erwartete. Zum Glück war das nicht die Regel. Die Nachricht in einem Todesfall zu überbringen, brauchte Überwindung. Wenn es um Mord ging, kam Valérie an ihre Grenzen. In Zürich hatte sie einmal erlebt, wie eine Mutter zusammenbrach, als sie ihr mitteilen musste, dass ihre sechsjährige Tochter tot war. Gefoltert, missbraucht und stranguliert. Sie hatte selbst fast geweint und versucht, den Kloss in ihrem Hals runterzuschlucken. Solche Ereignisse forderten sie.
Valérie drückte die Klingel. «Konrad Gross» stand auf dem Schild. Alsbald wurde die Tür aufgemacht. Eine magere Frau erschien unter dem Türrahmen. Sie hatte sich einen Kimono umgeschlungen. Das Muster darauf stellte einen vielarmigen Drachen dar. Nicht ganz passend zum Klausabend, ging es Valérie durch den Kopf.
«Ach, und ich dachte schon, meine Kinder seien zurück. Grüezi.» Sie schien nicht sonderlich überrascht zu sein.
«Mein Name ist Valérie Lehmann, das ist mein Kollege Henry Vischer. Wir sind von der Kantonspolizei Schwyz.» Valérie zückte ihren Ausweis. «Sind Sie Frau Gross?»
«Ja, Rosita Gross. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?»
«Dürfen wir reinkommen?»
Rosita Gross hielt die Tür auf und liess ihre unangemeldeten Gäste eintreten. «Ist etwas mit meinen Mädchen? Die haben doch nichts angestellt, oder?» Sie kniff fragend die Augen zusammen, während sie rückwärts Richtung Wohnzimmer ging. «Bitte setzen Sie sich.» Sie selbst liess sich auf einem blauen Sofa nieder. Valérie und Henry blieben stehen.
Wohn- und Esszimmer waren durch ein Bücherregal voneinander getrennt. Wenige Bücher, dafür viel mehr verschiedene Nippes in Form von Mitbringseln aus den Ferien standen darauf. Es wirkte überladen. Die blaue Sitzlandschaft harmonierte wenig mit dem schwarzen Salontisch, auf dem Unordnung herrschte. Zeitungen, Hefte, Schreibstifte, ein geöffnetes Taschenmesser, ein gebrauchtes Taschentuch, eine aufgerissene Pillenschachtel. Valérie registrierte dies innerhalb von Sekunden.
Rosita Gross war ihrem Blick gefolgt. «Entschuldigen Sie bitte das Durcheinander. Ich habe nicht mit Besuch gerechnet.» Sie fuhr sich mit der Hand über ihre kurzen grau melierten Haare. Ein dunkles Augenpaar dominierte das helle Gesicht. «Wollen Sie sich nicht setzen?»
«Frau Gross … wir müssen Ihnen leider eine traurige Botschaft überbringen.» Valérie konzentrierte sich auf das Bild hinter Rosita Gross’ Kopf. Küssnacht vom See aus gesehen. Ein Raddampfer, der die Hälfte der Kirche verdeckte. Blauer Himmel. Eine heimatliche Idylle. Ihre Nachricht würde diese Idylle mit einem Mal zerschlagen.
«Aber nicht wegen der Mädchen, oder?» Es war das Einzige, was Rosita Gross herausbrachte. Sie erhob sich schwer schluckend. Ihre Hände griffen wieder und wieder in ihre Haare.
«Ihr Mann wurde heute Opfer einer … Schiesserei.» Das war zwar nicht die ganze Wahrheit. Über Mord zu sprechen, schien Valérie nicht angebracht. «Hat man Sie noch nicht kontaktiert?»
Rosita Gross stiess einen spitzen Schrei aus, erhob sich und eilte in die Küche, die ans Esszimmer grenzte. Sie kam mit ihrem iPhone zurück. «Vier Anrufe in Abwesenheit», stellte sie lapidar fest. «Ich habe das Gerät nie auf laut gestellt.» Sie blieb stehen. «Was sagten Sie?»
«Ihr Mann hat es nicht überlebt.» Valérie streckte ihre Hand nach dem iPhone aus. «Darf ich mal sehen?» Sie wollte in Erfahrung bringen, von welchen Nummern die vier Anrufe gekommen waren. Sie nahm ihren Notizblock aus der Manteltasche und schrieb die Nummern auf.
«W… was?» Rosita Gross’ Gesichtsausdruck versteinerte sich. «Das ist ein Irrtum, oder? Konrad ist der Sankt Nikolaus … er geht gerade durch Küssnachts Strassen. Der Umzug müsste bald fertig sein …»
Valérie und Henry sahen sich schweigend an.
Rosita Gross hielt sich an einer Stuhllehne fest. «Sagen Sie, dass es nicht wahr ist … sagen Sie es!»
Henry griff ein. «Bitte setzen Sie sich, Frau Gross.» Er führte die Frau zurück zum blauen Sofa.
«Wo halten sich Ihre Kinder auf?» Valérie hoffte, dass die Nachricht über den Tod ihres Vaters sie nicht aus zweiter oder dritter Hand erreichte.
«Sie übernachten bei meiner Schwester in Luzern», antwortete Rosita Gross. «Was? … Ach ja … sie sind an einer Geburtstagsparty.»
«Es ist Klausjagen. Ihre Kinder sind nicht in Küssnacht?»
«Das interessiert sie einen alten Hut. Von aufmüpfigen Teenagern kann man nichts anderes erwarten. Was der Vater für gut befindet, muss nicht zwangsläufig auch den Kindern gefallen.» Wie versteinert starrte sie auf die Unordnung. Sie griff nach dem gebrauchten Taschentuch, drückte es sich auf die Augen. «Wann kann ich Konrad sehen?»
Ein kleiner Moment, in dem sie die Fassung hielt. Valérie nutzte ihn für eine Frage aus. «Was macht Ihr Mann beruflich?»
Rosita Gross schniefte. «Er ist Bezirksrichter … war …» Sie schnellte hoch. «Es ist nicht möglich, dass er tot ist. Ich will zu meinem Mann. Er ist noch immer unterwegs, oder? Bitte bringen Sie mich zu ihm … bitte. Man hat ihn … was?»
Henry drückte sie sanft aufs Sofa zurück. «Wer ist Ihr Hausarzt?»
«Fassen Sie mich nicht an!» Sie stiess ihn weg. «Ich will zu meinem Mann. Jetzt!»
«Das ist im Augenblick nicht möglich.» Henry entnahm seiner Jackentasche eine Packung Valium, während Rosita Gross die Tragweite der Botschaft allmählich zu begreifen schien.
Valérie sah ihn stirnrunzelnd an.
Henry hob die Schultern. «Ich trage immer welches mit mir», flüsterte er, dass nur Valérie es hörte. «Als Prophylaxe.»
Kopfschüttelnd ging Valérie in die Küche, holte dort ein Glas aus der Vitrine und füllte es mit Hahnenwasser. Der Geschirrspüler war in Betrieb, zwei gebrauchte Champagnergläser standen neben dem Herd sowie drei kleinere langstielige Kelche. Valérie überlegte, ob sie die Gläser gleich einpacken sollte, fand jedoch, dass sie kein Recht dazu hatte. Andererseits waren sie vielleicht Beweismittel. Sie entschied sich gegen das Einpacken. Sie hatte keinen Asservatenbeutel bei sich.
Als Valérie zurückkehrte, sah sie, wie Rosita Gross auf Henry einboxte.
«Gehen Sie! Hauen Sie ab!» Rosita Gross verlor ihre Kontrolle, schrie jetzt. Tobte.
Henry hatte die grösste Mühe, sie zu besänftigen. «Ich werde Ihnen ein Beruhigungsmittel verabreichen. Danach werden Sie sich besser fühlen.»
«Ich will keine Schlaftabletten. Ich will zu meinem Mann. Er ist nicht tot …» Sie riss sich von Henry los und rannte zur Tür.
Henry folgte ihr. «Machen Sie jetzt keine Dummheiten, Frau Gross.» Mit einem Griff, den Valérie ihm nicht zugetraut hätte, hielt Henry die Frau zurück. Doch dann erinnerte sie sich, dass er den schwarzen Gürtel im Karate hatte – den Shodan –, und verkniff sich eine Bemerkung.
Rosita Gross liess sich widerstandslos zum Sofa führen. Es schien, als wäre ihr Wille gebrochen. Als realisierte sie erst jetzt, was geschehen war. Sie legte den Kopf auf die Knie und begann hemmungslos zu weinen.
«Haben Sie eine Nachbarin, die wir anrufen können? Eine Freundin?» Henry versuchte vergebens, etwas aus Rosita herauszubringen. Der Weinkrampf hatte sie überwältigt.
«Darf ich mich kurz umschauen?», fragte Valérie und erntete von Rosita Gross nur einen traurigen Blick. «Wo ist das Büro Ihres Mannes?»
«Machen Sie, was Sie wollen», sagte sie schluchzend.
Valérie ging eine Treppe hoch, gelangte in einen Flur, von dem fünf Türen weggingen. Hier oben lagen das Elternschlafzimmer mit dem Master Bathroom, die Zimmer der Kinder, vermutete Valérie, von denen ein einziges noch bewohnt zu sein schien. Die eine Wand zierten Plakate von Hollywoodfilmen. Daneben hing das Bild eines Mannes. Ein Musiker oder ein Sänger. Er hielt eine Gitarre in der Hand. Neben seinem Kopf waren drei rote Herzen hingemalt. Im Gästezimmer, das auch so beschriftet war, nahm Valérie einen frischen Duft wahr. Hier war erst noch gereinigt worden. Kein Büro auf dieser Etage. Valérie kehrte ins Parterre zurück. Dort sass Rosita Gross lethargisch auf dem Sofa.
«Gibt es hier ein Büro?» Valérie stiess eine Tür neben der Garderobe auf und wurde fündig. Schwere Eichenmöbel prägten das Zimmer. Ein Rückzugsort. Nebst dem Pult, einem drehbaren Bürostuhl, zwei Stühlen und einem massiven Schrank gab es eine Chaiselongue. Darauf ein Kissen und ein Duvet.
Hing hier der Haussegen schief?
Valérie versuchte, Schubladen zu öffnen, die Schranktüren, einen mit einem Schloss versehenen Kasten. Alles war verschlossen, für Fremde nicht einsehbar, nicht einmal für die Familie. Auf dem Pult lag einzig eine Agenda. Valérie blätterte sie mit spitzen Fingern durch. Kein Eintrag, bis sie merkte, dass die Agenda für das kommende Jahr vorgesehen war.
Valérie kehrte zurück ins Wohnzimmer. Dort lag Rosita Gross nun auf dem Sofa. Henry beobachtete sie.
«Ich sollte wieder zum Tatort», flüsterte Valérie. «Bleibst du hier?»
«Du kannst dich auf mich verlassen», sagte Henry. «Vielleicht wird Frau Gross mir den Namen und die Telefonnummer ihrer Schwester verraten. Ich werde sie dann kontaktieren.»
«Danke.» Valérie sah ein, dass heute der falsche Zeitpunkt war, etwas von Rosita Gross zu erfahren, das für die Ermittlungen relevant war. Sie musste die Befragung auf den nächsten Tag verschieben. «Und wie kommst du zurück?»
«Lass das meine Sorge sein. Schlimmstenfalls bestelle ich mir ein Taxi.»
***
Zwischenzeitlich war Staatsanwalt Emilio Zanetti am Tatort eingetroffen. Nachdem Jole von Reding im Mai gekündigt worden war, hatte Zanetti ihre Nachfolge angetreten. Er war gebürtiger Tessiner und hatte bis im Sommer bei der Bundesanwaltschaft, auf dem Ministero pubblico in Lugano, gearbeitet.
Valérie hatte noch nicht oft mit ihm zu tun gehabt. Dominik Fischbacher hatte ihn ihr im Rahmen einer Besprechung vorgestellt. Sie waren sich gleich sympathisch gewesen. Zanetti war in ihrem Alter, wirkte zurückhaltend und hatte vorzügliche Umgangsformen. Daran erinnerte sich Valérie sehr gut. Es kam selten vor, dass ihr jemand die Tür aufhielt und den Vortritt gab.
«Ah, da sind Sie ja. Guten Abend, Frau Lehmann.» Zanetti reichte ihr die Hand. «Wir hatten schon mal das Vergnügen. Es ist traurig, dass wir uns heute unter diesen Umständen wiedersehen.» Seine Stimme blieb ernst.
Diese Augen! Blau und tiefgründig. Und wie er sie ansah. Valérie schaute weg. Verflixt: Was sollte das? In den letzten Jahren hatte kein Mann sie mehr zum Zittern gebracht. Jetzt pochte ihr Herz bis zum Hals. Das muss die Kälte sein, suggerierte sie sich ein.
Sie räusperte sich. «Wie weit sind Sie informiert?»
«Bin erst eingetroffen. Es hatte so viel Verkehr auf der A 4 wie während der Ferienzeit. Ich hatte sage und schreibe fast eine Stunde gebraucht von Schwyz bis hierher. Ich sprach nur kurz mit Fischbacher. Er teilte mir mit, dass Sie die Ermittlungen leiten.»
Dieser Mund, wie gezeichnet. Valéries Blick hing an seinen Lippen.
Sie schüttelte den Kopf und ihre Gedanken weg. «Der Tote heisst Konrad Gross, Bezirksrichter von Küssnacht. Seine Familie lebt hier. Er hat drei Töchter. Ausser der Ehefrau war niemand erreichbar. Unser Psychologe Henry Vischer ist jetzt bei ihr.»
Was rede ich da? Valérie stiess Atem aus. Relevant war einzig, wer der Tote war und dass Zanetti die Herrschaft in diesem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren hatte. Valérie musste ihm den genauen Tatbestand schildern. Im Moment war sie nicht dazu in der Lage.
Zanettis Frage kam postwendend. «Gibt es Zeugen?»
«Leider keine, die man gebrauchen kann. Die drei Begleiter im Schmutzli-Gewand waren ziemlich durch den Wind. Ob der Schuss im Lärm überhaupt gehört wurde, ist zu bezweifeln. Einer der Zeugen behauptet zwar, er habe ihn gehört. Ich glaube, das war nicht möglich.»
«Und warum nicht?»
Was für eine Frage! «Der Schuss muss aus weiter Distanz abgefeuert worden sein.»
«Sie denken an einen Scharfschützen?» Zanetti kniff den Mund zusammen. Valérie fiel sein energisches Kinn auf und wunderte sich über seine Fragen. «Es ist viel zu früh für solche Schlüsse.»
«Na dann», sagte Zanetti. «Das Ermittlungsverfahren ist somit eingeleitet. Ich werde mich mal mit Franz Schuler kurzschliessen. Vielleicht weiss der schon Konkreteres.» Er wandte sich um. Valérie sah ihm nach, bis er zwischen einer Gruppe von Klausjägern verschwunden war.
Sie bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen. Nach wie vor drängten sie sich auf der Bahnhofstrasse dorfauswärts. Obwohl die Temperaturen um die Nullgradgrenze lagen, harrten sie der Kälte. Valérie ärgerte sich darüber, dass sich die Meute noch nicht verzogen hatte. Was hatte die hier noch zu suchen? Um nichts zu verpassen? Valérie gelangte zum Leichentransporter, der in der Zwischenzeit eingetroffen war. Dr. Stieffel und der Fahrer hievten den Toten in einen Alusarg. Valérie sah ihnen einen Moment zu. Seltsam, der tote Sankt Nikolaus. Es war ihr, als würde man eine Tradition zu Grabe tragen.
«Kann ich Sie einen Moment sprechen?» Ein junger Mann mit Vollbart baute sich auf einmal vor ihr auf. «Sie sind doch von der Polizei, nicht wahr? Mein Name ist Cédric Knüsel. Ich komme vom ‹Freier Schweizer›.»
Valérie war es nicht recht. Sie ahnte, was er von ihr wollte. «Ich nehme an, von der Zeitung.»
«Richtig.» Knüsel machte keine Anstalten, sich der Situation angemessen zurückzuhalten. «Schlimme Sache. Weiss man schon, wer Gross das angetan hat?»
«Wie ich höre, sind Sie bereits informiert.» Valérie wandte sich konsterniert ab und machte sich daran, wegzugehen. Dieser aufdringliche Journalist war das Letzte, was sie gebrauchen konnte.
«Bitte, nur eine kleine Information. Ich muss es am Dienstag in der Zeitung bringen.» Knüsel gab sich Mühe, mit der Polizistin Schritt zu halten.
«Am Dienstag in einer Woche?» Valérie blieb stehen. «Dann können Sie genauso gut unsere Medienkonferenz abwarten.»
«Morgen erscheint eine Spezialausgabe. Ich könnte einen kleinen Bericht darüber bringen.»
«Morgen Dienstag?»
«Es ist wichtig. Unsere Tradition ist in Gefahr. Der Sankt Nikolaus ist uns heilig.»
«Sie werden rechtzeitig eine Polizeinotiz erhalten», wich Valérie aus. «Wie, sagten Sie, heisst Ihre Zeitung?»
«Ich recherchiere für den ‹Freier Schweizer›.»
Valérie kramte widerwillig eine Visitenkarte aus ihrer Manteltasche und reichte sie Knüsel. «Wenden Sie sich an den Mediensprecher.» Sie hielt inne. «Und bitte keine voreiligen Schlüsse.»
Sie wusste nicht, weshalb sie den Zeitungsfritzen nicht abgewimmelt hatte. In der Regel liess sie seinesgleichen im Regen stehen. Sie sah auf die Uhr. Bald zehn. Sie würde nach Schwyz fahren und sich für die Sitzung am nächsten Morgen vorbereiten.