Kitabı oku: «Klausjäger», sayfa 3

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ZWEI

Den Grittibänz sah Valérie sofort, als sie die Tür öffnete. Er lag neben einem Stück Lebkuchen auf einem der Dutzend Unterteller, die sie, zusammen mit farbigen Kaffeetassen, im «Mythen Center» gekauft hatte. Auch eine Kaffeemaschine hatte sie sich angeschafft. Diese allerdings hatte sie in einem Spezialgeschäft in Zürich erstanden. Es sollte eine typisch italienische mit Kolbenvorrichtung sein. Jetzt glänzte sie in einem Ferrarirot auf der Ablage neben dem Fenster.

Wer hatte Zutritt zu ihrem Büro? Valérie schaltete die Maschine zum Aufheizen ein und schickte sich an, hinaus in den frühen Morgen zu sehen. Es war stockfinster. Ihr eigenes Bild spiegelte sich in den Scheiben. Seit sie von Zürich weggezogen war, hatte sie sich unwesentlich verändert. Noch immer trug sie ihre Haare auf Kinnlänge. Ihr Körper war durchtrainiert und kräftig. Rein äusserlich fühlte sie sich gut. Sie bereitete sich einen Latte macchiato zu, warf zwei Stück Zucker hinein und setzte sich mit der Tasse an ihr Pult. Sie hatte gestern vergessen, die Tür abzuschliessen. Und prompt hatte jemand ihr Heiligtum betreten, als hätte er auf diese Gelegenheit gewartet. Ein Grittibänz! Valérie lächelte vor sich hin. Sie sollte öfter mal die Tür offen lassen.

Sie war früh aufgestanden, nachdem sie in der Nacht kaum geschlafen hatte. Ihre Gedanken waren um ein Dokument gekreist, das sie in der letzten Woche bekommen hatte. Der Kantonsrichter von Schwyz hatte Anzeige gegen unbekannt erstattet. Auf dem Weg ins Gericht war er aus dem Hinterhalt angegriffen und niedergeschlagen worden. Die Anzeige war allerdings zurückgezogen worden. Den Grund kannte Valérie nicht. Aber der Name des Richters war ihr präsent: Niklaus Schwegler. Da war etwas gewesen, das sie nicht mehr in Ruhe liess. Etwas, das sie mit dem gestrigen Mord an Gross in Verbindung brachte. Sie suchte in ihrer Aktenablage nach dem Dossier. Sie fand es auf dem Stapel, der sie daran mahnte, die Pendenzen abzuarbeiten. Vor allem den Fall häuslicher Gewalt in Wollerau. Bereits zweimal waren ihre Kollegen in ein Mehrfamilienhaus gerufen worden, weil die Nachbarn sich ob des Geschreis in einer der Wohnungen Sorgen machten. Beim zweiten Mal hatten sie den Familienvater mitnehmen müssen. Später hatte er es abgestritten, seine Frau geschlagen und die Kinder eingesperrt zu haben. Solange seine Frau keine Anzeige gegen ihren Mann erstattete, war es schwierig, ihm etwas anzuhängen. Valérie hatte sich darüber aufgeregt, dass es Frauen gab, die sich von ihren Ehemännern drangsalieren liessen und, wenn es darauf ankam, ihre Peiniger in Schutz nahmen. Doch dann hatte sie sich daran erinnert, dass ihr genau das selbst widerfahren war.

Sie schlug die Akte Niklaus Schwegler auf. Auf der vordersten Seite besagte ein Stempel, dass die Sache erledigt war. Trotzdem blätterte sie den Inhalt durch. Schwegler war am 24. November frühmorgens auf dem Weg zum Kantonsgericht gewesen, als ein Unbekannter ihn auf der Höhe der Maria-Hilf-Strasse hinterrücks niederschlug. Schwegler hatte sich an zwei Sätze erinnert, die der Täter gesagt hatte. Im Zitat hiess es: «Dich und Gross kann man in den gleichen Topf werfen. Ihr frauenfeindlichen Monster.»

Valérie hatte Schwegler nicht befragt. Ihr Kollege Louis Camenzind war dafür zuständig gewesen. Weshalb der Richter die Anzeige später zurückzog, wollte sie in Erfahrung bringen. Sie griff nach dem Telefon und wählte Louis’ Nummer.

Nach dem zweiten Klingelton nahm er ab. «Guten Morgen, Valérie. Willst du dich für die Klausüberraschung bedanken?»

«Du warst das!» Sie schmunzelte. «Hätte ich mir denken können. Herzlichen Dank. Das ist lieb von dir. Warum bist du schon im Büro? Es ist erst halb sieben.»

«Aus demselben Grund wie du, nehme ich an. Ich bin nicht im Büro. Ich befinde mich im Konferenzraum.»

Sie kam gleich zur Sache. «Erinnerst du dich an Schweglers Anzeige?»

«Niklaus Schwegler?»

«Nachdem man ihn am vorletzten Donnerstag überfallen hatte, erstattete er Anzeige gegen unbekannt.»

«Klar erinnere ich mich. Fischbacher hatte mich gebeten, mich des Falls anzunehmen.»

«Warum hat Schwegler die Anzeige zurückgezogen?»

«Er sagte, dass er überreagiert habe.»

«Warum steht das nicht in den Akten?»

«Doch, steht drin.»

Valérie überflog die letzten beiden Seiten. «Zwei Sätze bloss … aber nichts über den Grund. Wurde er im Vorfeld bedroht?»

«Das ist mir nicht bekannt.»

«Wir müssen mit ihm reden», sagte Valérie mehr zu sich selbst. «Um acht Uhr findet die erste Lagebesprechung statt.» Sie zögerte. «Fischbacher will, dass ich die Ermittlung leite.»

«Das ist mir bereits zu Ohren gekommen.» Valérie hörte Louis durchs Telefon sich räuspern. «Für mich ist das kein Problem.» Und aufgelegt hatte er.

Valérie trank nachdenklich den Latte macchiato. Grittibänz und Lebkuchen rührte sie nicht an. Die würde sie einpacken und mit nach Hause nehmen. Heute Abend erwartete sie ihren Sohn.

Valérie hatte sich, wie ihre Kollegen, mit Kaffee und Gipfeli eingedeckt. Sie setzte sich an den Tisch und schlug ihre Dokumente auf. Dass sie fast nicht geschlafen hatte, sah man ihr nicht an. Es gab durchwegs Zeiten, in denen sie sich stark fühlte und kein Windstoss sie umwerfen konnte. Jetzt standen die Zeichen auf Sturm. Mord in der Adventszeit fühlte sich noch bitterer an als im Rest des Jahres. Ob die Tat einer religiösen Motivation zugrunde lag, schloss Valérie nicht ganz aus. Zu viel war in den letzten Monaten geschehen. Übergriffe auf ein Wohnheim für Asylsuchende in der Nähe von Einsiedeln, die Fahndung nach einem muslimischen Extremisten, den man schliesslich auf dem Bahnhof in Arth-Goldau aufgegriffen hatte, liessen den Schluss schon mal zu, dass man auch in diese Richtung ermitteln musste.

«Vielleicht ist es ein Angriff gegen die abendländische Kultur», war Louis’ Bemerkung gewesen. «Wer den Sankt Nikolaus umbringt, greift das Christentum an.»

Sie hatte ihm verziehen. Anstatt schlafen zu gehen, hatte er sich in Küssnacht unter das Mannsvolk gemischt, zu Recherchezwecken. Dabei war er fast der Versuchung des Alkohols erlegen. Viel hatte er in vergangener Nacht nicht herausgefunden. Allfällige Zeugen waren zu betrunken gewesen, um eine klare Aussage zu machen. Einige unter ihnen hatten nicht einmal gewusst, dass Gross das Opfer war. Erst gegen Morgen sei er nach Hause gefahren.

Louis verzog seinen Mund zu einer Schnute. «Weiss man schon etwas über den Einschusswinkel?»

«Die Berichte aus der Ballistik sind erst dürftig», sagte Valérie. «Es ist noch nicht klar, aus welcher Richtung der Schuss kam. Wir wissen auch nicht, ob der Körper des Toten bewegt wurde.» Sie hielt inne. «Der KTD hat Wohnungen und Häuser an der Bahnhofstrasse inspiziert und nach möglichen Abschussstandorten gesucht. Leider konnten noch nicht alle in Frage kommenden Wohnungen untersucht werden.» Valérie richtete ihren Blick auf die Pinnwand. Es gab ein paar wenige Fotos des Toten. Auch ein Porträt war dabei, das Rosita Gross Henry Vischer ausgehändigt hatte. Es zeigte den Richter als gesetzten Mann von achtundfünfzig Jahren. Ein Lächeln auf seinem Gesicht, in dem die Augen starr, die Mundwinkel leicht nach oben gezogen waren. Gross trug Schnauz und Brille, und die schütteren Haare waren grau. Als Sankt Nikolaus hatte er eine respektvollere Falle gemacht. «Auf welchem Wissensstand befinden wir uns?»

Es war wie ein Hilferuf. Valérie hatte sich die ganze Nacht schon gefragt, ob der Schuss gezielt oder willkürlich abgegeben worden war. An einen Heckenschützen zu glauben, schien ihr doch etwas an den Haaren herbeigezogen. Es war bei einem einzigen Schuss geblieben. Das hiess, dass der Schütze sein Ziel nicht verfehlt hatte. Ein Heckenschütze hätte wild um sich geschossen. Das kannte sie aus Fällen aus den USA. Ein Scharfschütze kam ihrer Überzeugung näher.

Aber weshalb der Sankt Nikolaus?

«Seit acht Jahren amtierte Gross als Sankt Nikolaus», sagte Louis.

Valérie notierte. «Konntest du herausfinden, ob das normal ist? Acht Jahre sind eine lange Amtszeit.»

«Er hätte es bis zu seiner Pensionierung sein können», sagte Louis. «Wann und ob ein Sankt Nikolaus sein Amt abgibt, entscheidet allerdings der Vorstand.»

«Bist du sicher?»

«Nein.»

«Ich möchte alles über die Statuten erfahren. Ob es andere Anwärter gibt, die gern den Sankt Nikolaus verkörpern wollten.»

«In Küssnacht gibt es drei Sankt Nikoläuse», sagte Fabia. «Die müssen die Kindergärten, die Altersheime und abends Familien besuchen. Einer allein schafft das nicht.»

«Wechseln sich die Kläuse ab? Oder marschiert immer derselbe im Umzug mit? Eine Verwechslung können wir nicht ausschliessen. Wir brauchen die Namen der beiden …» Valérie suchte nach dem richtigen Ausdruck. «… der beiden Neben-Kläuse.» Sie stockte. «Für mich ist es fremdes Terrain, die ganze Sankt Niklausengesellschaft überhaupt. Ich nehme an, für einige unter euch auch.»

«Da dürfen nur Männer mitmachen», sagte Fabia. «Vor einem Jahr gab es eine Abstimmung, ob auch Frauen zulässig seien. Die Antwort war klar. Die Abstimmung ging fast einstimmig bachab.»

«Ich finde es auch richtig, dass die Frauen nicht überall dabei sind», sagte Louis und heimste von Fabia einen Boxhieb in die Seite ein.

Valérie schob ihre Unterlippen vor. «Konrad Gross war Bezirksrichter. Auch in dieser Hinsicht dürfte es einige Motive geben. Als Richter ist man nicht immer beliebt. Vor allem, wenn man Entscheidungen fällen muss, die nicht allen passen. Louis, du wirst dem mal nachgehen. Ich will wissen, ob es in der nahen Vergangenheit solche Fälle gab. Und wer betroffen war.»

«Er war ein frauenverachtender Richter.»

Valérie schaute ans Ende des Tisches. Die Stimme gehörte einer jungen Polizistin, die erst kürzlich vereidigt worden war.

«Eine Bekannte von mir hat den Kerl kennengelernt.» Schwang da nicht Verachtung mit? «Sie verlor ihre beiden Kinder an den Ex-Mann, nachdem Gross sie mit allem, was ihm zur Verfügung stand, zur Schnecke gemacht hatte. Die Frau besass keine Kraft mehr, den Gerichtsterminen beizuwohnen. Sie brach zusammen und ist seither in der Psychiatrischen Klinik am Meissenberg in Zug.»

«Dann sei doch so gut und notiere den Namen deiner Bekannten. Wir dürfen kein Verdachtsmoment auslassen.» Valérie sah nachdenklich ihre Kaffeetasse an. «Am Kantonsgericht liegt ein ähnlicher Fall vor …»

«Kantonsrichter Schwegler», sinnierte Fabia laut.

«Das ist der springende Punkt.» Valérie griff nach einem Dokument. Dann sah sie Fabia an. «Ich glaube, das ist unser Job, Fabia. Ich möchte, dass du mich heute nach Schwyz zum Kantonsgericht begleitest.»

Sie wandte sich an ihr gesamtes Team. «Alle unmittelbaren Zeugen müssen vernommen werden.» Dabei überflog sie ihre Notizen der Tatnacht. «Überprüft Livia Duss. Hier ist die Adresse.» Sie reichte sie über den Tisch. «Wer ist der Mann, der Dr. Casutt angerufen hat. Wer hat die Witwe nach Gross’ Erschiessung angerufen? Zudem will ich alles über Gross’ Umfeld erfahren. Ich weiss, es wird nicht einfach werden. Zu viele Personen dürften involviert sein. Noch einmal: Befragt die Leute auf dem Bezirksgericht, durchleuchtet die Mitglieder der Sankt Niklausengesellschaft, überprüft die Familie, Verwandten und checkt …» Sie wandte sich an den Chef des Kriminaltechnischen Dienstes: «Habt ihr beim Ermordeten ein Handy gefunden?»

Franz Schuler bejahte. «Wir haben die Telefonein- und -ausgänge geprüft. Um fünf nach halb acht gestern Abend hatte er seine Privatnummer angewählt. Das letzte Gespräch vor seinem Tod dauerte jedoch keine Minute.»

«Und vorher?»

«Es gibt da noch eine Nummer auf ein Mobiltelefon. Den Empfänger respektive dessen Namen konnten wir noch nicht ausfindig machen. Die Gesprächsdauer liegt bei einer halben Stunde.»

«Wann war das?»

«Gestern zwischen halb sieben und sieben.»

«Sonst noch Anrufe?»

«Die andern waren gelöscht, wenn es denn welche gab.»

«Besteht die Möglichkeit, den Empfänger und allfällige andere Adressaten bis morgen zu ermitteln?»

«Wenn sich der Telefonanbieter nicht querstellt», sagte Schuler, «sehe ich kein Problem.»

«Ich werde mich um eine richterliche Verfügung bemühen …» Valérie machte sich Notizen. «Apropos Handy: Die Parade wurde sicher von vielen Besuchern fotografiert oder als Video aufgenommen. Ich bin dafür, dass wir einen Zeugenaufruf in den Medien bringen. Wir brauchen Bildmaterial vom Umzug. Wenn wir Glück haben, wurde Gross gefilmt, als er erschossen wurde.» Valérie überlegte. «Gibt es eine Fernsehstation, die den Klausumzug jeweils aufnimmt?»

«Wahrscheinlich Tele 1», sagte Louis.

«Dann müssen sie uns den Film aushändigen.»

Die Tür ging auf, und Dominik Fischbacher trat ins Sitzungszimmer. Er entschuldigte sich für seine Verspätung. «Ein Umzug in Schwyz verhinderte ein Vorwärtskommen.» Er sah in die Runde. «Aber wie ich sehe, läuft bereits alles wie geschmiert.»

Valérie schenkte ihm ein einvernehmliches Lächeln. In den letzten acht Monaten hatte sich die Zusammenarbeit mit dem Kripochef wunderbar eingependelt. Anfänglich hatte er ihre Alleingänge oftmals kritisiert. Sie hatte es sich zu Herzen genommen und sich gebessert. Was das Teamwork betraf, hatte sie noch einiges nachzuholen. Fischbacher verabscheute einsame Wölfe.

Valérie schob ihm ihr Dossier zu. «Ein paar Dinge könnten schon mal interessant sein. Vor allem der Aspekt, dass Gross ein frauenverachtender Richter gewesen sein soll.» Sie hätte gern hinzugefügt, dass sie ihresgleichen selbst kennengelernt hatte, schluckte den Satz jedoch runter.

«Mit der Pressekonferenz möchte ich noch warten, bis wir Näheres über die Hintergründe der Tat erfahren haben», beendete sie ihre Ausführungen. «Das Datum legen wir noch fest.» Sie wandte sich noch einmal an Franz Schuler. «Wann können wir mit den definitiven Resultaten aus dem KTD rechnen?»

Schuler hob die Schultern. «Zwei Tage musst du mir schon Zeit lassen.»

«Okay …» Valérie zog tief Luft ein. Bereits spürte sie ihre Ungeduld. Sie warf Louis einen verkniffenen Blick zu. «Ich bitte dich, mit dem Gerichtsmediziner Res Stieffel Kontakt aufzunehmen. Bis anhin liegt von seiner Seite noch nichts vor.»

***

Fabias Familie stammte aus dem Muotathal. Sie war die jüngste von sechs Geschwistern und daheim stets herumkommandiert und kontrolliert worden. Ihr ältester Bruder hatte den Bauernbetrieb übernommen, auf dem Fabia gross geworden war. Ihre Eltern lebten noch immer dort, hatten das Stöckli bezogen und gingen ihrem Sohn und seiner Frau zur Hand. Fabias drei Schwestern hatten allesamt Bauern geheiratet, der jüngste Bruder lebte in Kanada auf einer Farm. Fabia war die Einzige gewesen, die der elterlichen Tradition den Rücken kehrte. Nach einer Banklehre hatte sie sich entschlossen, Polizistin zu werden.

«Wie geht es deiner Tochter?», fragte Valérie beiläufig auf dem Weg von Biberbrugg nach Schwyz.

«Sie entwickelt sich gut. Sie ist ein robustes Kind.» Fabia sah lächelnd aus dem Fenster, vor dem die Altmattdörfer im diesigen Licht vorbeizogen. «Hat wohl die typischen Muotathaler Gene in sich. Und dein Sohn? Kommst du klar mit ihm?» Fabia wandte ihren Blick Valéries rechter Gesichtshälfte zu. Als ihre Kollegin nichts erwiderte und bloss ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste, ahnte sie, dass sie auf heikles Terrain gestossen war. «Vor allzu langer Zeit hast du mir mal versprochen, mich über deine Beweggründe zu informieren, weshalb du Zürich verlassen hast.»

Endlich erkannte Fabia ein vages Lächeln auf Valéries Gesicht. «Du mauserst dich zur hartnäckigen Ermittlerin», sagte diese. «Aber ich habe echt keine Lust, jetzt darüber zu reden.»

«Wie du willst.» Fabia wandte beleidigt den Kopf ab. «Du weisst, wie sehr ich deinen Einsatz bewundere; deine immer coole Art. Mit wenigen Ausnahmen gelingt es dir, dein Privatleben vor den andern zu verstecken. Im Gegensatz zu Louis bist du ein unbeschriebenes Blatt.»

Valérie drückte aufs Gaspedal. Ein Reflex, dachte Fabia und riet ihr mit unterschwelliger Angst, das Tempolimit einzuhalten und die eisglatten Flächen zu berücksichtigen.

«Sorry.» Valérie schwang ihre halblangen Haare zurück. «Es war nicht so gemeint. Selbstverständlich hast du ein Recht, etwas über mein Privatleben zu erfahren. Nur nicht heute. Wir sollten uns über den neuen Fall unterhalten. Das Ganze kommt mir wie ein schlecht gemachter Film vor. Den Sankt Nikolaus zu töten ist, als würde man die Adventszeit und Weihnachten mit einem Mal auslöschen.»

Fabia nickte. «In Küssnacht hat der Sankt Nikolaus einen hohen Stellenwert. Man verbindet ihn mit etwas Heiligem.»

«Vielleicht will tatsächlich jemand die Nikolaustradition aus der Welt schaffen.»

«Und wenn ich mir die Entwicklungen in den letzten Jahren ansehe», Fabia echauffierte sich, «sieht es ganz danach aus, als dürften die Schweizer ihre eigenen Bräuche und Sitten nicht mehr ausleben. Es wäre ja nicht das erste Mal. In den Klassenzimmern demontiert man Kruzifixe, während zwei Zimmer weiter Gebetsräume für Muslime eingerichtet werden. Überall wird Platz für Andersgläubige geschaffen.»

«Verwundert dich das?», mokierte sich Valérie. «Kaum jemand geht heute noch zur Kirche.»

«Du irrst dich. Ich gehe jeden Sonntag.»

«Wir hätten alle nebeneinander Platz, wenn wir es nur wollten.»

Die Räume des Kantonsgerichts lagen im rechten Trakt des Kollegiums, einem neobarocken Gebäude an den Hängen von Schwyz.

Valérie und Fabia stiegen zwei Treppen hoch. Hinter einer massiven Holztür erreichten sie den Empfang. Zwei junge Frauen sassen an ihren Pulten, eingemummt in dicke Strickpullover mit Rollkragen. Die Heizung konnte kaum defekt sein. Die Raumtemperatur reichte weit über die Zwanziggradmarke.

«Hier fühlt es sich wie in einer Sauna an», bemerkte Fabia und entledigte sich ihrer Jacke.

«Junge Frauen frieren immer», neckte Valérie leise.

«Ich nicht.» Fabia warf die Jacke über den Tresen.

Nur eine von den Frauen blickte auf, als Valérie ihre Präsenz anmeldete. Die andere tippte mit solch einer Geschwindigkeit auf die Tastatur, als nähme sie an einem Schreibmarathon teil. Valérie sah erst jetzt, dass sie sich Kopfhörer über die Ohren gestülpt und die Welt um sich vergessen hatte.

Die andere erhob sich widerwillig. «Ja bitte?» Sie war keine dreissig, trug eine Brille und die Haare kinnlang. Rock und Pullover liessen einen Modemuffel vermuten.

«Mein Name ist Valérie Lehmann, das ist meine Kollegin Fabia Ulrich. Wir sind von der Kantonspolizei Schwyz.»

«Ja?» Die Frau verzog keine Miene. Die Fragen lagen in ihrem Blick.

«Wir würden gern den Kantonsrichter Niklaus Schwegler sprechen.»

«Tut mir leid, der ist nicht da.»

«Sagen Sie uns bitte, wo er sich aufhält, Frau …?»

«Er hat Ferien bis am 19. Dezember.» Sie tippte auf ihre linke Brust, wo ein Namensschild angebracht war.

Valérie kniff ihre Augen zusammen, um besser lesen zu können. «Frau Wohlgemuth, wohin ist er gefahren?»

«Geflogen.» Frau Wohlgemuth verzog ihren Mund zu einem Lächeln.

«Wohin ist er geflogen?» Valérie hatte es allmählich satt, der Dame die Würmer aus der Nase zu ziehen.

«Er ist nach Mauritius geflogen.»

«Könnten Sie mir jemanden holen, der mit dem Überfall auf Herrn Schwegler betraut ist?»

In die Frau mit den Kopfhörern kam Bewegung. «Lass mich das machen, Hilda», sagte sie, legte ihre Kopfhörer ab und erhob sich. Sie kam um den Tresen herum. Valérie fiel ihr viel zu enger Hosenanzug auf. Der Rollkragenpullover verdeckte das halbe Kinn. Sie vermutete, dass sie ihr Gespräch trotz der Kopfhörer belauscht hatte. «Mein Name ist Brigitte Ott. Ich bin die Sekretärin von Herrn Schwegler.» Und ausgestattet mit dem Talent des Multitaskings, ging es Valérie durch den Kopf. «Bitte folgen Sie mir.»

Hilda Wohlgemuth wandte sich beleidigt ab.

Sie schritten über den Flur, in dem ein senffarbener Teppich jeglichen Laut erstickte, und gelangten in ein Büro. Dunkles Holz kleidete die Wände. Der Druck eines Gemäldes von Chagall hing hinter einem schweren Eichenpult. Valérie erkannte es an den Figuren, die an Engel erinnerten. Ihr Mann Willy besass ein ähnliches. Eigentlich gehörte es ihr. Willy bestritt jedoch, das Bild Valérie geschenkt zu haben. Das nahm sie ihm heute noch übel. Es zurückzubekommen, würde schwierig sein, weil es in keiner Schrift vermerkt war.

«Ich habe mich schon gewundert, weshalb mein Chef die Anzeige zurückgezogen hat, bevor er in die Ferien ging», sagte Brigitte Ott. «Er war übel zugerichtet. Überall hatte er Schrammen und Blutergüsse. Er konnte von Glück reden, dass dieses Schwein ihm das Nasenbein nicht gebrochen hatte. Bitte setzen Sie sich.»

Valérie und Fabia rückten sich zwei Stühle zurecht, blieben jedoch stehen.

«Darf ich Ihnen einen Kaffee servieren?»

«Nein, danke.» Valérie nickte Fabia zu. «Kommen wir lieber zum Thema. Ich gehe davon aus, dass Sie nach dem Überfall auf den Kantonsrichter von unseren Kollegen vernommen wurden.»

«Ich musste ein paar Fragen beantworten, das ist richtig.» Brigitte Ott setzte sich hinter das schwere Pult, wo sie für gewöhnlich nicht sitzen durfte. Valérie sah ihr an, wie sie es genoss. «Ich war ja nicht unmittelbar dabei. Nachdem Herr Schwegler die Anzeige zurückgezogen hatte, erübrigten sich weitere Fragen.»

Somit war Valéries nächste Frage beantwortet.

«Haben Sie einen Verdacht, wer Ihrem Chef Böses wollte?»

«Herr Schwegler wird öfter verbal bedroht. Das ist nichts Aussergewöhnliches. In diesen Mauern liegen die Nerven oft blank. Da braucht man einen starken Panzer. Es ist schon vorgekommen, dass Unbekannte Herrn Schwegler einen Schweinekopf zusandten oder Hühnerfüsse. Einmal schickte ein Klient Hundekacke. Ja, so ist das. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Menschen sind oft sehr primitiv, vor allem, wenn sie sich zu Unrecht im Recht wähnen.»

«Erinnern Sie sich, ob dem Angriff auf Herrn Schwegler etwas vorausgegangen war?»

«Nicht explizit.» Brigitte Ott schien zu überlegen. «Wenn man wüsste, dass etwas dermassen ausartet, würde man aufmerksamer sein. Warten Sie … da war mal ein Vorfall mit einer Frau und ihren vier Kindern.»

«Wann war das?»

«Hm … das war Ende September.»

«Also vor mehr als zwei Monaten.»

«Ich erinnere mich so genau daran, weil sich Herr Schwegler ziemlich darüber aufgeregt hat.»

«Worum ging es da?»

«Eine Frau kam einfach so hierher. Sie hatte sich nicht angemeldet. Sie stand mit ihren vier Kindern vor dem Empfang und erkundigte sich nach dem Kantonsrichter. Ich wies sie darauf hin, dass sie zuerst einen Termin haben müsse. Aber die Dame liess sich nicht abwimmeln. Sie sagte, dass sie hier stehen bleiben würde, bis sie den Richter gesprochen hätte. Die würde wahrscheinlich heute noch hier stehen.»

«Wurde sie ausfällig?»

«Ausfällig? Nein. Sie blieb jedoch hartnäckig … ich meine, sie stand wie angenagelt da, was mich veranlasste, Herrn Schwegler zu rufen. Er verliess sein Büro und kam auf den Korridor.»

«Sie haben die Frau nicht ins Büro gelassen?»

«Sie hatte ja keinen Termin.»

Valérie sandte Fabia einen schnellen Blick zu. «Sprach die Frau Drohungen aus?»

«Nein. Sie fragte, warum er ihr die Kinder wegnehmen wolle.»

«Aha, und warum wollte er ihr die Kinder wegnehmen?»

«Soweit ich mich erinnere, hatte Herr Schwegler in zweiter Instanz entschieden, dass die Kinder beim Vater aufwachsen sollen.»

«Das ist eher ungewöhnlich», sagte Valérie. Ihr eigenes Dilemma kam ihr in den Sinn, und es stiess ihr sauer auf.

«Es wird wohl triftige Gründe gegeben haben, dass dieser Frau die Obhut der Kinder entzogen wurde.»

«Wie reagierte Herr Schwegler darauf?»

«Ich habe dem keine Bedeutung beigemessen. Ich kehrte zurück zum Empfang. Hatte da noch zu tun. Ich weiss nur, dass Herr Schwegler das Gespräch mit der Frau auf dem Korridor fortführte. Er liess sie nicht in sein Büro. Da ist er sehr strikt. Die Frau verliess dann, wie ich mich entsinne, erst eineinhalb Stunden nach ihrem Eintreffen das Gericht.»

«Hat die Frau auch einen Namen?»

Brigitte Ott zögerte. «Das geht unter Datenschutz …»

«Frühestens morgen habe ich eine richterliche Anordnung», sagte Valérie, obwohl sie sich nicht sicher war. Eine Frau mit vier Kindern, die weder durch verbale noch durch körperliche Attacken aufgefallen war, war kein Grund für einen Einblick in die Akten. Doch irgendwo musste sie beginnen.

Brigitte Ott erhob sich. «Kommen Sie. Der Name befindet sich auf meinem PC. Wenn es der Sache dient, stelle ich mich Ihnen zuletzt in die Quere.»

«Das wäre sehr nett.»

Sie kehrten zum Empfang zurück.

«Ist das nicht zu einseitig?», äusserte Fabia ihre Bedenken. «Warum glaubst du, dass diese Frau mit unserem Fall zu tun haben könnte?»

Ein Bauchgefühl? Valérie wollte nichts dazu sagen. Sie brauchte etwas Handfestes, um die Ermittlungen in Gang zu bringen. In erster Linie wollte sie der Staatsanwaltschaft erste Fakten liefern. Dass gewisse Strategien eine Eigendynamik entwickeln konnten, hatte Valérie in der Vergangenheit gelernt. Und auf ihre Intuition, auf die konnte sie sich fast immer verlassen.

Brigitte Ott setzte sich auf ihren Bürostuhl. Sie tippte auf der Tastatur, öffnete ein Dokument, das sie sehr genau zu kennen schien. «Da haben wir sie.» Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. «Ihr Name ist Angela Pagani. Sie wohnt im Gschweighusweg in Küssnacht.» Sie druckte die Adresse aus.

«Noch eine Frage hätte ich.» Valérie nahm das ausgedruckte Dokument entgegen. «Wissen Sie, wer damals in erster Instanz entschieden hatte?»

«Ja, das war Konrad Gross, der Bezirksrichter von Küssnacht.»

***

Der Gschweighusweg befand sich in einem ruhigen Quartier ausserhalb des Dorfkerns von Küssnacht. Hinter grauen Mauern verbarg sich ein Paradies für Familien mit Kindern. Valérie erkannte es am Sandkasten, der im Zentrum eines Spielplatzes lag. Ein einziges Kind trotzte dort der Kälte. Gelangweilt schaukelte es über den gefrorenen Boden und zeichnete mit seinen Schuhen unsichtbare Muster aufs Eis.

«Hier müsste es sein.» Fabia hatte sich eine Reihe von Briefkästen angesehen. «Die Hausnummer stimmt. Aber der Name Pagani steht nirgends.»

In diesem Moment ging die Eingangspforte auf. Eine kräftige Frau mit langer gelockter Mähne schob sich aus dem Innern des Hauses. Fabia hielt die Glastür auf, bis die Frau auf dem Vorplatz stand. Der opulente Duft eines Parfüms streifte Valéries Nase. Ein rotes Kleid mit Rüschen auf Brusthöhe reizte ihre Lachmuskeln.

«Suchen Sie jemanden?» Die Frau zückte einen Schlüssel und hantierte damit am Briefkasten. Sie sah aus wie eine Diva aus den siebziger Jahren, Typ Sophia Loren in Billigausführung.

«Wohnt hier nicht Familie Pagani?», fragte Valérie.

«Sie meinen wohl Angela Pagani.» Die Diva lächelte. «Die ist weg.»

«Seit wann?», fragte Fabia.

«Seit dem 1. Oktober.»

«Wissen Sie zufällig, wohin sie gezogen ist?»

«Nein, tut mir leid. Ich spioniere den Leuten nicht hinterher.» Sie verzog ihren roten Schmollmund.

«Wurde die Wohnung weitervermietet?»

«Wie Sie sehen an Sebastian Herger.» Die Diva tippte mit dem Mittelfinger auf das Namensschild am Briefkasten. «Aber sagen Sie, warum suchen Sie Frau Pagani? Hat sie etwas angestellt? Dass Sie Bullen sind, rieche ich aus hundert Metern Gegenwind.»

Vielleicht spioniert sie den Leuten doch hinterher, vermutete Valérie. Sie gab keine Antwort.

Fabia zog sie schweigend beiseite. «Da stimmt doch etwas nicht.»

Valérie stiess sie sanft von sich. «Wir werden auf der Gemeinde nachfragen. Dorthin wollte ich morgen so oder so.» Sie wandte sich an die Diva. «Entschuldigen Sie die Belästigung.»

Die Diva öffnete den Briefkasten und holte einen Stapel Illustrierte heraus. «Ja, tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte.» Sie sah die Hefte durch, ein paar Briefe und runzelte die Stirn. «Rechnungen, nichts als Rechnungen. Aber die landen bei mir eh im Abfall …»

Über der Rigi ging die Sonne auf. Der Nebel hatte sich auf den Vierwaldstättersee zurückgezogen. Die Landschaft tauchte in ein unwirkliches Licht. Reif lag auf den Wiesen, hing an den Bäumen und liess sie wie erstarrte Gestalten aussehen. Vom Dorf her erklangen die Mittagsglocken.

Valérie und Fabia kehrten zu ihrem Wagen zurück. Auf dem Weg dorthin bemerkten sie, wie sie aus verschiedenen Fenstern beobachtet wurden.

Da ist etwas im Gange, dachte Valérie.

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Yaş sınırı:
18+
Litres'teki yayın tarihi:
21 şubat 2025
Hacim:
391 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783960410980
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
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