Kitabı oku: «Teresa hört auf», sayfa 2
XX
Ich brauche lang. Stück für Stück räume ich die Schokopackungen in den Wagen, nehme eine Banane nach der anderen, lasse mich von gestressten Schnelleinkäuferinnen und rücksichtslosen Pensionisten nicht stören. Nach einer Dreiviertelstunde bin ich fertig, ein Geduldsakt.
»Sie«, sagt plötzlich jemand hinter mir. Ich reagiere nicht. »Sie!«, sagt die Frauenstimme hinter mir noch einmal und tippt mir auf den Rücken. Was will diese nervige Person? Aber ich habe keinen Ausweg, vor mir ist die Kassenschlange, flüchten geht nicht. Ich drehe mich um.
»Sie haben etwas vergessen«, sagt die Frau und hält mir einen Becher Schlagobers hin.
Sie ist ein Ballon, ja, ein Ballon! Von ihrem runden Kopf führt ein dicker Hals zu einem aufgeblasenen Körper, aus dem fleischige Arme ragen, einer davon ist mir entgegengereckt. In der Hand hält sie den Becher Schlagobers, an den sich ihre Finger wie Würstchen klammern. »Sie haben etwas vergessen«, sagt sie noch einmal, ihr schwarzer Pagenkopf wippt. In ihrer Stimme liegt so viel Überzeugung, dass ich das Schlagobers wortlos entgegennehme und feststelle, dass sie recht hat. Ich wollte es einpacken, nur hat mich das nächste Regal abgelenkt, woher weiß sie das? Sie lächelt.
»Bis zum nächsten Mal«, meint sie, nickt und lenkt ihren Einkaufswagen an mir vorbei.
Ich bleibe vor dem Regal stehen, um ihr nicht noch einmal zu begegnen, und verfolge sie mit den Augen. Sie steht an der Kasse, alle anderen überragen sie, doch seitlich sticht ihr fülliger Körper heraus.
Vollbeladen trippelt sie erstaunlich geschickt aus dem Geschäft, ihre Füße sind bestimmt kaputt, Tag für Tag müssen sie dieses Gewicht tragen, wahrscheinlich hat sie Diabetes und verfettete Organe. Sie könnte dreißig, vierzig oder fünfzig, vielleicht sogar sechzig sein, ihr Körper lässt alle Möglichkeiten zu. Ich quetsche mich an den Leuten vorbei, drängle mich durch, lege die Waren auf das Band und schleppe genauso viele Taschen und Säcke wie der Ballon zuvor.
In meinem Palast werfe ich die Kleidung von mir, setze mich in die Mitte des Wohnzimmers. und beginne ein Mahl, bei dem Zeit keine Rolle mehr spielt.
Wieder ist es Mutters Sirene, die mich aus meiner Trance reißt, in der Hektik habe ich vergessen, mein Handy auszuschalten. Einmal pro Woche muss sie mich erreichen, das ist unsere Vereinbarung, die ich einhalten muss, um nicht wieder zu riskieren, dass sie plötzlich in der Wohnung steht, die »noch immer deinem Vater und mir gehört«.
Ich nehme ab. »Ja?« Draußen läuten die Kirchenglocken, es ist elf Uhr abends.
»Ich mache mir Sorgen, warum hebst du nicht ab?«
Warum tust du mir das an?, möchte sie fragen, aber das tut sie nicht. Ich lächle und schüttle den Kopf. »Ich habe viel zu arbeiten«, erkläre ich. Dann spricht sie eine Zeit lang nichts, und ich, ich habe ihr sowieso nie etwas zu erzählen.
»Und wie viele sind es diesmal?«, fragt sie.
»Was?«
»Teilnehmer. Wie viele sind heuer dabei?«
»Viertausend.«
»Unglaublich, dass das so viele anzieht. Aber gut, wichtig ist, dass nichts passiert.« Ich gähne. Mutter ist ermüdend. »Gestern haben wir im Radio gehört, dass in Schulen nicht mehr so aggressiv geworben werden darf, hast du das mitbekommen?«
»Ich höre keine Nachrichten.« Sie interessieren mich nicht, genauso wenig wie Mutter. Sie hasst mich nicht, sie verachtet mich nur. Aber das ist in Ordnung, das tue ich auch.
»Finde ich gut«, sagt sie, und ich habe das Gesprächsthema schon lang vergessen. »Musst du diesmal mitfahren?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dass du das aushältst. Dieser Wirbel. Tausende besoffene Maturierende, es ist schon irgendwie traurig.« Ich sage nichts. »Was fühlst du eigentlich, wenn du daran denkst?«, will sie wissen, und ich lege auf. Rund viertausend junge Menschen werden drei Wochen lang feiern und dafür sorgen, dass Geld auf mein Konto kommt. Was soll ich dabei schon fühlen?
Sie ruft mich noch einige Male an, das weiß ich, obwohl ich es nicht mehr mitbekomme, ich schalte das Handy aus. Auf dem Boden liegen die Überreste meiner Schlacht. Ich werde alles zusammenkehren, in einen Müllsack stecken, und mit einer Küchenrolle die letzten Reste entfernen.
Vor dem Spiegel untersuche ich die Stelle ein paar Zentimeter über dem Knie, dann die Hinterseite des rechten Oberschenkels. Schon lang möchte ich mir einen zweiten Spiegel kaufen, in der exakt gleichen Größe und Ausführung, und ihn gegenüber aufstellen, um mich leichter von hinten betrachten zu können. Per Mausklick kaufen und liefern lassen, von einem Serben oder Pakistani, der den Spiegel auf dem Rücken zu mir hochschleppt. Ich will aber keine Arbeiter hier herinnen, niemand soll zu meinem Palast Zugang haben, niemand soll ihn betreten, vor allem nicht meine Mutter. Ich werde das Schloss austauschen, das Schloss der Königin. Es wird nichts nützen. Ich werde warten müssen, bis sie tot sind, Mutter und Vater, erst dann wird die Wohnung mir gehören, ganz und ausschließlich. Es ist unwahrscheinlich, dass das bald passieren wird. Meine Mutter bewegt sich viel und ernährt sich gesund, mein Vater bewegt sich nicht und ernährt sich ungesund. Doch auch er ist eine Maschine, und die stirbt nicht, sie geht nur kaputt, bis sie irgendwann irreparabel ist. Wie ich. Oder ich werde vor ihnen kaputtgehen. Bis dahin verfolge ich einen Weg. Exakt, klar und detailliert, kompromisslos, zielgerichtet und konsequent.
Ich ziehe an einem kleinen Stück Haut des Oberschenkels; sie ist weiß, selten dringen Sonnenstrahlen ein, dieses Projekt ist lang vorbei. Kaum ein Unterschied ist zu erkennen, die Struktur, die Dehnbarkeit. Ich hole die Staffelei neben dem Spiegel hervor, spanne ein leeres Blatt darauf, nehme den Bleistift. Exakt, klar und detailliert sind meine Linien, Punkte, Striche, Schattierungen, nichts lassen sie aus, keine Pore, kein Härchen und keine Hautirritation. Kompromisslos, zielgerichtet und konsequent.
Ein weiteres Abbild meines Körpers, das ihn in seiner Verwundbarkeit, Stärke, Hässlichkeit, Schönheit darstellt, alles vereint in der Zeichnung eines Teils meines Oberschenkels. Meine Mutter fragt immer, warum ich nicht Künstlerin geworden bin.
Ich mache keine Kunst. Ich habe kein Talent, ich bin unkreativ und kann nur Kopien der Wirklichkeit erstellen. Die Wirklichkeit: Das bin ich.
Immer wieder ist es ein anderer Teil meines Körpers; bis ich ihn erkundet habe, dauert es Wochen, Monate, was weiß ich, es gibt viele Details von den Zehen bis zum Kopf. Sehe ich alt aus? Bin ich dick? Ich weiß es nicht.
Ich schminke mich nicht, und meine Haare lasse ich mir einmal im Monat schneiden. Neben der Agentur ist eine Friseurin, sie färbt die Haare älterer Damen, die dann mit lila oder rosa Schimmer aus dem Salon wandern. »Schneiden«, sage ich ihr, sonst nichts, »einfach schneiden.« Jedes Mal fragt sie: »Wie darf ich schneiden?«, und jedes Mal antworte ich: »Wie Sie wollen.« Am Schluss will sie immer wissen, ob es so passt, und ich sage Ja, ohne mich zu sehen.
Ein Haar, die Pupille meines Auges, der obere Mundwinkel, eine Augenfalte, Hautporen. Details, die kein Gesamtbild ergeben, kein Ganzes, keine Identität, kein Individuum. Das bin ich. Die Wirklichkeit. Ich stimme nicht überein. Ich habe mich vermessen, mich fotografiert und gefilmt, mich vor jeden erdenklichen Spiegel gestellt und mich trotzdem nicht erkannt. So reihe ich weiterhin meine Bilder aneinander.
Vielleicht ist das Ganze ja leicht zu erklären, und ich habe eine eingeschränkte Sehfähigkeit, kombiniert mit einem genetisch determinierten Borderline-Syndrom und einer Vermessenheits-verzerrung, dazu autoaggressives Verhalten und Depersonalisation. Klingt aufregend, nicht? Ich bin völlig irre, gaga im Schädel, nicht ganz frisch in der Birne. Das ist die Wahrheit, dafür braucht es keine Erklärung.
Für die Zeichnung brauche ich eine Stunde. Ich lege das Bild zu den anderen, horte sie in einem eigenen großen Schrank, der Stapel reicht bis zu meinem Brustbein. Das da drinnen in dem Kasten, das bin ich.
XX
Teresa öffnete den Brief. Es stand kein Absender drauf, ihre Adresse war fein säuberlich in Blockbuchstaben notiert. Vor Jahren hatte sie eine Brieffreundin gehabt. Zweimal hatten sie einander geschrieben. Ein Mädchen aus England, sie tauschten je ein Foto aus und hatten sich nach den zwei Briefen nichts mehr zu sagen. Und natürlich erhielt sie Briefe von dem Kindermädchen, an das sie sich schon lange nicht mehr erinnerte. Jedes Mal wurde sie darin direkt angesprochen: Was tust du? Wie geht es dir? Als Teresa jünger gewesen war, hatte sie immerhin noch Zeichnungen oder ein paar schief geschriebene Worte beigesteuert, aber dann hörte sie auch damit auf. Ihre Mutter übernahm es, die Briefe, die immer weniger wurden, zu beantworten. Oft lagen Fotos dabei, nichtssagende Bilder aus einem fernen Land, mit fremden Menschen darauf.
Aus Afrika kamen oft Mails von Agnes, höflich und immer mit den neuesten Schulergebnissen, die sie erzielt hatte. Sie endeten stets mit göttlichen Wünschen: »May god bless you.«
Sie beantwortete die Mails nur widerwillig, und schließlich hörte sie ganz damit auf. Was sollte sie auch sagen, sie hatte nichts zu berichten.
Und jetzt plötzlich dieser Brief. Ein Relikt, ein Ereignis, das in Romane passte, aber nicht ins 21. Jahrhundert. Sie riss das Kuvert auf.
»Ich weis du hältst mich für einen Idiot. Aber ich hab es voll schön gefunden. Du bist ganz besonders. Für dich war es vielleicht nur ein Gschichterl aber für mich nicht. Nur weil ich ein Skilehrer bin heißt das nicht das ich nicht gefühle hab. Ich mag dich wiedersehen. Ruf mich einfach an. Meine Nummer ist … Dein Bernhard.«
Sie runzelte die Stirn. Der Brief enthielt weder Absender noch Datum, dafür lauter Grammatik- und Rechtschreibfehler.
Der Skilehrer. Er musste irgendwelche Leute ausfindig gemacht haben, die ihre Adresse kannten. Nummer hatte sie ihm keine hinterlassen, sie war schnell und unauffällig abgehauen, während er noch geschlafen hatte. Wer weiß, vielleicht hatte ihn das erst recht angemacht. Es war jetzt fast zwei Wochen her, oder noch länger? Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wie er ausgesehen hatte, nur an seine riesigen Hände mit den erstaunlich schlanken Fingern, die nach ihr gegriffen hatten. Oder hatte er gar nicht nach ihr gegriffen, hatte sie ihn einfach umgeworfen? Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was da gewesen war. Sie hatte an dem Abend viel getrunken, aber das war nicht der Grund gewesen. Es war so nichtssagend, so unbedeutend, dass sie es aus ihrem Kopfspeicher nicht mehr abrufen konnte. Sie hatte den Papierkorb schon geleert, seinen Namen bereits vergessen, falls sie ihn je gewusst hatte.
Nur ein paar Erinnerungsfetzen konnte sie noch hervorrufen. Die Frauen, die ihr nachgestarrt hatten, teils spöttisch, teils neidisch. Und sein Freund, der ihr zuzwinkerte, als sie das Lokal verließen. Es war so laut gewesen, dass sie im Taxi ein Pfeifen im Ohr vernommen und kurz Panik bekommen hatte, einen Tinnitus zu erleiden. Das Pfeifen war irgendwann in dieser Nacht ganz unbemerkt vergangen.
Seine Fehler fand sie schön, so ehrlich, dass sie sich den Brief nur wegen der schlechten Rechtschreibung noch einmal durchlas. War es nicht interessant, dass mathematische Unfähigkeiten viel eher vergeben wurden als Schreibfehler? Sie war untalentiert, wenn es um Zahlen ging, doch das fiel nicht auf, niemand nahm es ihr krumm, keiner hielt sie deshalb für dumm oder ungebildet, aber ein sehr ohne h, das galt als Dummheit.
Sie legte den Brief in die Schachtel, in der sie das Altpapier sammelte. Auch wenn dieses fehlerhafte Schreiben entzückend war, interessierte es sie nicht.
XX
Auf dem Weg zur Arbeit sehe ich mir die Menschen an. Sehe ich dem rotgesichtigen Mann oder dem pickeligen Mädchen ähnlich? Kalt, hat Christian gesagt, du bist kalt, das macht dich heiß, aber hübsch, nein, das bist du nicht. Hübsch oder hässlich, das sind Kategorien, die für dich nicht existieren.
Es ist Freitag. Um 14 Uhr leert sich das Büro, um 18 Uhr sind Christian und ich die einzigen Übriggebliebenen. Noch ein Monat bis zum ersten Abflug, bis dahin muss alles klappen, fixiert sein, vom richtigen Essen an Bord bis zur Security.
»Okay, ich mach Schluss für heute.« Christian dreht das Licht in seinem Büro ab. »Was hast du noch vor?«, will er wissen. Smalltalk, warum müssen Leute immer reden? »Nichts Besonderes.« Er nickt. »Also dann bis Montag, mach nicht zu lang, ciao!«
Dann ist er weg. Dann ist es still. Dann bin ich allein. Nur das Surren der Lampen, des Computers, des Kopierers. Die Zeit hält sich selbst an. Das sind schöne Momente. Ich kann sie nicht ausnützen. Das liegt an den Öffnungszeiten. Ich reiße mich los und muss mich beeilen. Wegen der Öffnungszeiten habe ich sogar überlegt auszuwandern, in eines dieser Schlaraffenländer mit durchgehend geöffneten Shops. Doch das Geld, die Wohnung, die Anstrengung, und es geht doch nur um drei Monate.
Ich fahre nachhause, eile in den Billa, das Geschäft, das meinem Palast am nächsten ist. Die Regale sind ausgeräumt, das Gedränge ist groß, Freitagabend: die Hölle des Einkaufens. Ich habe bereits überlegt, online zu bestellen, doch es ist nicht dasselbe. Die Dinge auf dem Bildschirm sind nicht kalt wie die Milch aus dem Kühlregal und riechen nicht nach Fett und Salz wie die Billigchips, deren Geruch ich trotz Verpackung wahrnehmen kann.
Ich schlängle meinen Wagen durch den Einkaufswahnsinn und da, da steht sie, rund und klein mit ihrem Pagenkopf. Sie hat mir den Rücken zugewandt, und ich bleibe stehen. Ihre Würstelfinger greifen hinauf in die luftigen Höhen unerreichbarer Regale, sie steht auf ihren Zehenspitzen, um den Schokopudding zu erwischen, mit den Fingerspitzen greift sie danach, mit letzter Kraft erreicht sie ihn, wie eine Trophäe hält sie ihn über ihren Kopf. Hurra! Gewonnen!
Ich will nicht, dass sie mich sieht, doch es ist mir unmöglich, mich zu bewegen, wegzulaufen, mich aus dem Staub zu machen. Sie entdeckt mich nicht, setzt ihren Weg fort, den Wagen hochaufgeladen und vollbepackt, ein buntes Durcheinander an Produkten. Ich brauche nicht weiterzudenken, es ist ganz klar, was hier Sache ist.
Sie quetscht sich durch die Gänge, und ich fühle das seltsame Bedürfnis, ihr nachzugehen, zu spionieren, aus dem Geschäft hinaus, die Straßen entlang zu ihrem Daheim, Tür auf, hineingehen und – und was?
Von hinten wippt ihr Haar hin und her, kerzengerade und schwarz gefärbt, die scharfen Kanten der Frisur sind das einzig Eckige an diesem runden Wesen. Sie geht an den Produkten vorbei, gleich ist die Reihe zu Ende und sie muss um die Sonderangebote eine Drehung machen, um auf der nächsten Seite wieder hinaufzuwandern, vorbei an Reis, Nudeln, Sugosaucen, eingelegten Antipasti, Oliven; ich kann jede Reihe aufzählen, genau vorhersagen, wo sie was herausholen und woran sie vorbeigehen wird.
»Entschuldigung.« Ein Mann mit Vollbart will an mir vorbei. Ich erschrecke, mein ganzer Körper scheint zu zucken, und ich setze mich abrupt in Bewegung, folge ihr, werde schneller, biege um die Kurve. Die Reihe ist leer.
Die Kassen sind von hier aus noch nicht zu sehen. Ich gehe geradeaus, biege noch einmal um die Kurve, auch in der nächsten Reihe ist sie nicht zu finden. Es ist mir zu riskant, ihr bis zur Kasse zu folgen. Riskant? Warum?
Ich sehe in meinen Wagen. Er ist noch nicht einmal zur Hälfte gefüllt, ich habe noch viel vor mir. Wieso bringt mich ein Luftballon durcheinander?
Absichtlich langsam gehe ich zum Zucker zurück. In Zeitlupe fülle ich den Wagen, lese Produktbeschreibungen und Inhaltsstoffe, Kalorienangaben und Haltbarkeitsdaten, denn ich will mich nicht durcheinanderbringen lassen in meiner dreimonatigen Routine.
Ich bin eine der letzten Kundinnen, vor mir steht ein Wagen, in dem ein Kleinkind sitzt. Es ist blass und hat blutige Pickel, Wimmerl, hat meine Mutter das genannt, warum sagt man jetzt anders? In dem länglichen Gesicht ruhen zwei Knopfaugen auf mir. Ich drehe mich weg, starre auf die Kaugummis, Mini-Wodkaflaschen und Schokosnacks neben der Kasse. Trotzdem spüre ich den bohrenden Blick. Vor Kindern habe ich Angst. Ich glaube, sie sind die Einzigen, die mich wirklich erkennen, mich als Ganzes sehen. Ein Kind wäre mein finales Projekt, die letzte verbleibende Möglichkeit.
Am nächsten Tag, einem Samstag, wache ich um 14 Uhr auf. Wegen der Arbeit sind mir die Wochentage und das genaue Datum bewusst. Mit bloßen Füßen trete ich langsam und träge von meinem Bett aus auf die Terrasse, die heiße Luft trägt den Gestank der Stadt zu mir. Mich ekelt und gleichzeitig bin ich süchtig danach, wie grausige Bilder, von denen man sich nicht abwenden kann.
Mir träumte von ihr, sie hat mich angesehen, und ich war ein Kind. »Ach du«, sagte sie. An mehr kann ich mich nicht erinnern, der Traum hat meinen Kopf schwer gemacht.
Ich kehre langsam gedanklich in meine Gemächer zurück, schreite ins Bad, das Fenster ist weit geöffnet. Dennoch hat sich der Geruch nach Erbrochenem nicht verflüchtigt, mir wird kurz übel, doch ich fange mich und setze mich auf die Toilette.
Während ich pinkle, gehe ich mein Projekt durch, memoriere den Zeitplan. Langsam geht mir das Geld aus. Ich muss Christian um eine Gehaltserhöhung bitten. Ich will aber nicht bitten. Wie auch immer.
Ich verlasse das Badezimmer und gehe die Stiegen hinunter. Bevor ich mich vor den Spiegel stelle, trinke ich einen schwarzen Kaffee, erst am Abend werde ich mich dem Fressen widmen.
Ich zeichne lange und konzentriert. Als ich aufhöre, hat sich die Sonne schon weiter Richtung Westen bewegt. Meine Blätter liegen auf dem Boden, ein Meer aus Bildern, auf dem meine Füße Schmutzspuren hinterlassen, sie trampeln auf Oberschenkeln, Brüsten, auf Bauch und Armen, Fingernägeln, Hautschuppen, Altersflecken, Muttermalen herum. Mein Körperpuzzle.
Ich verlasse das Wohnzimmer und hole das Handy aus der Tasche, um mein Konto zu kontrollieren. Mein Projekt verschlingt Unmengen, doch das ist nur fair, ich tue dasselbe.
Die Buchhaltung hat noch immer kein Gehalt überwiesen. Einen Monat habe ich noch vor mir. Jeden Cent werde ich in Lebensmittel stecken. Bulimie passt wie ein perfektes Outfit zu mir, es ist eines meiner Lieblingsprojekte. Ich bin immer hungrig und finde mich zum Kotzen, ist das nicht lustig? Ich habe ein richtiges Loch im Bauch, aber satt werde ich nie.
Wobei Bulimie schon ein langweilig-abgestaubtes Image hat, quasi der Oldtimer unter den Essstörungen. Katzenfutter essen aus lauter Fresswut? Gähn! Ein bisschen eklig, aber sonst nur noch öde. Wer hip ist, isst anders, raw, vegan, kein Gluten, laktosefrei, Low Carb, nur Eiweiß, und nicht mehr auf Urlaub fahren, weil der Ernährungsplan in Peru, Kalifornien, Südafrika oder weiß der Kuckuck wo der Trip hingehen sollte, nicht funktioniert. Das sind Essstörungen aus billigen Weibermagazinen, die noch nicht mal als solche gelten. Ich halte es lieber klassisch: fressen, fressen, fressen, raus damit.
Worauf warte ich dann noch?
Eine Stunde später lecke ich warme Nussnougatcreme vom kühlen Marmorfußboden. Ich lecke ihrer feinen Spur hinterher, kein noch so dünner Faden entgeht meiner Zunge, von einer Fliese über die nächste breitet sie sich aus, doch ich bin schnell, mein Mund berührt den Boden, und so sauge ich, sauge ich auf, noch schneller, noch mehr, ich warte nicht mehr auf das Schmelzen, wozu schmelzen, wozu warten, in meinen Mund, hinunter, schneller, mehr, in mich, in mir, noch, bitte, bitte, nicht vorbei, noch eine kleine Nougatmenge, noch eine, in den Mund, schnell hinunter, aus.
Das Erbrechen funktioniert einwandfrei, ich mache es am liebsten gleich danach, da ist alles noch schön locker und kann schwuppdiwupp wieder oben raus. Ich habe heute noch einiges vor, die Nougatcreme war erst die Vorspeise, die meine Orgie einleitete.
Die Klotür steht weit offen, während ich die Hälfte meiner Vorräte aufesse. Für morgen brauche ich eine weitere Ration. Um 2 Uhr früh lege ich mich ins Bett.
Ich träume wieder von dem Ballon, sie hat die stierenden Augen des Kindes und liegt auf dem Förderband der Ladenkasse. »Ach du«, sagt sie.