Kitabı oku: «Teresa hört auf», sayfa 4
XX
Teresa sah sich die unbekannten Häuser an, hörte die Sprache, die sie nicht verstand, Menschen zogen an ihr vorüber, lachende Gesichter, sie hatte das Gefühl, bereits zu träumen.
Sie waren am Strand gewesen, sie hatte im Sand gespielt, dahinter hatten Hochhäuser wie Türme in die Luft geragt. Die Stadt, hatte ihr Vater gemeint, sei eine der größten der Welt, dabei klang sie so kurz. Rio. Wie konnte so eine riesige Stadt so einen kurzen Namen tragen?
Morgen, hatte die Mama gesagt, würden sie auf einen Berg fahren. Von dort, meinte ihr Vater, könne man sehen, wie weit sich dieses Rio erstreckte. Sogar eine Statue von Jesus stehe da oben, gigantisch groß. Teresa waren Jesus und die Stadt egal. Sie wollte lieber im Meer mit den Wellen hüpfen.
»Komm, Schatz, nicht stehen bleiben.« Ihre Mutter zog sie an der Hand, aber Teresa konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Sie sackte bei jedem Schritt zusammen, so müde war sie. »Na gut«, sagte ihr Vater und hob sie auf seine Schultern.
Teresa fühlte sich wie eine Königin, die in einer Sänfte getragen wurde. Von hier oben konnte sie die Lichter und Reklamen der Geschäfte sehen. Sie legte das Kinn auf den Kopf ihres Vaters und fast wären ihr die Augen zugefallen. »Wir brauchen noch Wasser«, sagte Mama, und Teresa wachte wieder auf.
Das Wasser aus der Leitung konnte man nicht trinken, das hatten ihr die Eltern gesagt. Überhaupt war hier alles anders. Es war heiß und trotzdem schon früh dunkel, und die Geschäfte, das war das Verrückteste, hatten immer offen.
Sie blieben vor einem kleinen Laden stehen, nur ihre Mutter lief hinein. Teresa sah sich um. Es war viel los, überall Menschen, die herumgingen, und Lichter und Gemurmel. Sie sah in einen dunklen Hauseingang. Da war etwas, das dort nicht hingehörte. Sie konnte es nicht gleich erkennen, doch es sah aus wie Decken, die sich bewegten. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie unter den Decken einen Mann. Er lag seitlich und hielt eine Frau in seinen Armen.
Teresa wusste, dass das Sandler waren, die gab es auch zuhause. Die haben nichts zu wohnen, das hatte ihre Mama schon einmal erklärt. Aber die Mama hatte ihr auch gesagt, dass es Räume gab, wo sie übernachten durften. Warum lagen die beiden dann hier in einer dunklen Decke bei einem Hauseingang? Gerade als Teresa ihren Vater fragen wollte, bewegte sich noch etwas, und dieses Etwas streckte plötzlich ein Köpfchen heraus und weinte.
Teresa erschrak. Das Kind weinte, die Mutter beruhigte es, und es verschwand wieder unter der dunklen Decke.
»Gut, gehen wir«, sagte Mama, die gerade aus dem Laden kam. Doch bevor Papa losgehen konnte, zerrte Teresa an seinem Kopf, zeigte mit dem Finger zu dem schlafenden Paar mit dem Baby vor dem Hauseingang und sagte: »Ihr müsst sagen, dass sie wohin können, dass es Räume gibt!« – »Nein, Schatz, wir müssen zurück«, sagte der Vater.
Teresa fing auf seinem Rücken zu zetern an. »Ihr müsst es ihnen sagen!«, rief sie.
»Wir können ihre Sprache doch gar nicht«, erinnerte ihre Mutter, und der Vater zog fest an ihren Beinen.
»Ihr könnt Englisch, das können alle!«, brüllte Teresa. Sie hielt nicht still, verwendete alle Kraft darauf, sich zu befreien, schließlich zog sie an seinen Haaren. Er schimpfte, holte sie herunter, ohne sie loszulassen. Die Mutter versuchte sie zu beruhigen, doch Teresa hörte sie nicht. Sie schrie. Die Leute schauten die Familie betreten an und gingen weiter. Der Vater hielt ihre Hände fest und mithilfe der Mutter zerrten sie das Mädchen weg.
Teresa schrie und heulte. Vor dem Hotel redete die Mama auf sie ein. »Beruhige dich doch, es ist doch alles gut.«
»Warum?«, fragte das verheulte und verrotzte Kind, als Papa endlich losließ. Er setzte sich auf die Hotelstufen neben Teresa, Mama hockte sich dazu. »Schatz, wir wissen ja gar nicht, wo es hier Räume für Menschen ohne ein Dach über dem Kopf gibt«, erklärte sie.
»Warum habt ihr ihnen kein Geld gegeben, dann können sie ins Hotel ziehen, so wie wir«, beharrte Teresa.
»Das geht nicht, mein Liebling, wir können nicht allen helfen, das ist unmöglich«, sagte ihr Vater mit sanfter Stimme.
»Warum?«, fragte Teresa, durch den Rotz und die Tränen hindurch. Die Eltern seufzten.
»Es sind zu viele Menschen, denen es nicht gut geht. Wir können uns nicht um alle kümmern.«
»Scheiße!«, schrie Teresa. Es war das schlimmste Wort, das sie kannte. Die Eltern streichelten ihr über den Rücken und redeten ihr gut zu.
In der Nacht begann sie zu fiebern. Der Hotelarzt verschrieb fiebersenkende Mittel. Die Eltern blieben bei ihr sitzen, redeten davon, dass das Kind so sensibel sei. Teresa wusste nicht, was das bedeutete. Bis zu ihrer Rückreise erholte sie sich nicht mehr. Die Eltern nahmen sie mit an den Strand, wo sie den ganzen Tag auf das Meer sah und vor sich hin murmelte. Sie wollte nicht mehr Sandspielen.
XX
Ich zeige Nicole meine Zeichnungen, die sie wortlos und Blatt für Blatt durchgeht, bis sie an meinem linken kleinen Finger angekommen ist.
»Das sind immer Sie, nicht?« Ich nicke. »Obwohl ich Sie nicht nackt gesehen habe, kann ich Sie in jedem Körperausschnitt erkennen. Sie haben großes Talent.«
Nicole legt die Blätter sanft zu Boden, sieht mich an, ihr Blick wandert von meinem Hals zu meinen Füßen, dann nimmt sie meine Hand und inspiziert meinen linken kleinen Finger. »Was für wunderschöne Bilder«, sagt sie. »Sie haben Ihren kleinen Finger wirklich perfekt getroffen!« Meine Erinnerung ruft die Stimme meiner Mutter hervor, auch sie hat ständig »perfekt getroffen« gesagt, was wollte sie von mir?
Nicole will nichts. Mit kleinen Schritten kehrt sie auf die Terrasse zurück. »Ich sehe so gern von hier oben hinunter«, meint sie und stemmt sich auf ihren Stuhl.
»Der Fernseher, das war der eigentliche Grund«, erklärt sie. »Das kleinen Baby und das große Haus und das Essen, das war alles toll, aber der Fernseher, der war unglaublich. Später hatte Vater sogar einen Satelliten, was glauben Sie, was das für meinen Bruder und mich bedeutet hat! Endlich habe ich in der Schule mitreden können über diese Filme und Serien, die schon alle gekannt haben. Black Beauty, endlich habe ich gewusst, wie dieses Pferd aussieht. Ich habe alles, was ich in der Schule gelernt habe, vergessen, aber ich kann mich noch heute an das Mädchen erinnern, das auf dem Pferd geritten ist. Mein Vater und seine Frau haben uns fernsehen lassen, mindestens zwei Stunden. Wir haben es immer gleich gemacht, mein Bruder und ich: Wir sind von der Schule nachhause gekommen, haben gegessen, Hausaufgaben gemacht, und dann waren wir weg. Ein paar Häuser weiter haben wir an der Tür von unserem Vater angeläutet. Er war gar nicht da, aber seine Frau. Sie war nett, sie hat meiner Mutter ähnlich gesehen, das war komisch. Sie war nicht hübscher, nicht jünger, der gleiche Typ, dick mit großem Busen. Ich habe mich gefragt, warum er meine Mutter verlassen hat, wenn er dann doch wieder dasselbe genommen hat. Wie ein Speckbrot, das wer stehen lässt, und alle denken, der nimmt sich jetzt sicher den Kuchen, und dann macht er sich ein neues Speckbrot. Sie hat uns Essen hingestellt, Chips, Kuchen. Dann hat sie mit Beatrice gespielt. Mein Bruder und ich sind im Wohnzimmer gesessen und haben alles angesehen. Sogar die Sendungen für die Erwachsenen. Aber dann hat meine Mutter das alles auf einmal beendet. Sie hat gemeint, wir dürften nur noch einmal pro Woche zu unserem Vater. Und Schluss.
Mein Bruder gab klein bei. Aber mir war das nicht genug. Ich habe mit meiner Mutter gestritten, so wild, dass ich ihr am Ende gedroht habe, zu meinem Vater zu ziehen. »Dann tu es doch!«, hat sie geschrien, und ich hatte keine Argumente mehr. Ich musste mich fügen.
Auch wenn sie nett waren, mir war immer klar, dass ich nie bei meinem Vater hätte wohnen können. Wir haben nicht einmal darüber gesprochen, bei ihnen zu übernachten. Es gibt wohl stillschweigende Übereinkommen, bei denen keiner die Grenze überschreiten möchte. Meinem Bruder und mir war klar, wo diese Grenze lag.
Heute weiß ich, was in meiner Mutter vorgegangen ist. Aber Kinder sind schonungslos. Für mich war sie eine frustrierte Geldzählerin. Ich habe sie nur noch als Spaßverderberin angesehen. Mit einem Mal habe ich verstanden, warum mein Vater sich die Nachbarin geangelt hat. Sie war vielleicht auch ein Speckbrot – aber eins mit Butter darunter. Aus Protest habe ich ihr Essen nicht mehr angerührt. Dafür habe ich mein Geld für Chips und so ausgegeben. Geld haben wir von meinem Vater jede Woche zugesteckt bekommen, und ich habe es sofort für Süßigkeiten verbraucht.
Er hat nie nachgefragt, warum wir nicht mehr jeden Tag kommen. Mittlerweile weiß ich, dass er es gewesen ist. Er hat meine Mutter angerufen, dass sie sich mehr um uns kümmern soll, weil wir zu viel bei ihnen sind. Das hat mir meine Mutter erst Jahre später erzählt. Doch jetzt macht es keinen Unterschied mehr.«
Sie streckt sich und gähnt, ihre kleine Hand stülpt sich elegant über ihren Mund, um ihn zu bedecken. »Es ist spät«, sagt sie, und ich weiß, dass sie jetzt gehen wird. Ich begleite sie zur Tür. »Ich freue mich, dass wir so nett geplaudert haben«, meint sie höflich und streckt mir die Hand hin, als seien wir alte Bekannte, die sich zufällig wiedergetroffen haben.
Ich schließe die Tür, stelle mich vor den Spiegel und ziehe mich aus, betrachte die Teile meines Körpers, die ich einzeln erkennen kann. Ich beginne an meinem Hals und inspiziere am Ende die Zehenspitzen. Doch ich entscheide mich für meinen kleinen Finger: seine Haut, seinen Nagel, das Weiße unter dem Nagel, die Hautfalten, die Schattierungen. Er wird mein heutiges Modell.
Vielleicht ist es besser, nicht der Reihe nach vorzugehen, wie ich es bisher getan habe. Vielleicht ist eine zufällige Detailauswahl interessanter. Ich werde Nicole bitten, sich jeden Tag eine Stelle meines Körpers auszusuchen, die ich zeichnen soll. Nach der Namensgebung ein weiteres Spiel, das uns unterhalten wird. Ganz plötzlich spüre ich, wie sich mein Gesicht unwillentlich verzieht zu einem – ja: Ich lächle.
XX
Korrekterweise hätte Teresa es im Sommer machen müssen. Sie entschied sich aber für die angenehmere Jahreszeit. In Wahrheit scheute sie sich davor und hatte es immer vor sich hergeschoben. Jetzt war es kühl, manchmal roch es nach Schnee. Zwei Monate hatte sie Zeit dafür. Danach würde sie in der Maturareisen-Agentur, in der sie bereits ein Praktikum absolviert hatte, zu arbeiten beginnen.
Sie holte einen großen Mistsack und warf alles hinein. Wie erstaunlich, welche Kosmetika sich angesammelt hatten, überall gab es noch eine Tube, noch eine Dose, noch eine Flasche Handcreme, Conditioner, irgendwelche Parfumproben, die sich seit ihrer Jugend angesammelt hatten, nichts davon hatte sie je entsorgt. Teresa sah sich die Dinge genauer an: einen Lidschatten, den sie mit dem Finger auf das Waschbecken strich. Die braune Farbe verwässerte, einzelne Tropfen rannen in das Becken, während am Rand eine Puderschicht übrig blieb. Mit der Wimperntusche malte sie Streifen auf den Spiegel, machte Insekten daraus, Fliegen, Spinnen, kleine Mücken, die nur als Punkt angedeutet waren. Shampoo, Duschgel und die Flüssigseife kippte sie in die Badewanne und ließ mit warmem Wasser ein riesiges Schaumbad entstehen. Immer wieder fasste sie mit den Händen hinein, der Schaum glitt durch ihre Finger. Die Zahnpastatube warf sie mitsamt Inhalt weg. Beim Waschmittel zögerte sie. Nein, sie würde es behalten, als Kontrast zu sich selbst.
Die Rechnung ging auf. In der ersten Woche erkannte sie keine große Veränderung nach außen. Das schmutzige Gefühl auf den Zähnen war als Erstes da. Bereits am Abend breitete sich der Belag aus, legte sich pelzig über die Zähne. Am nächsten Morgen hatte er auch die Zunge befallen. Ob sie bereits Mundgeruch hatte, konnte sie selbst nicht feststellen. Durch die Kälte und die mangelnde Bewegung war der Schweißgeruch erst nach einer Woche bemerkbar. Er fiel noch nicht stark auf, durch die dicken Jacken blieb er verdeckt. Ihre Haut war schmutziger geworden, vor allem auf den Händen und unter den Nägeln hatte sich Dreck angesammelt, gleichzeitig fühlte sie sich weicher an.
Ihre schnurgeraden Haare waren nach einigen Tagen so fettig, dass sie auf dem Kopf zu kleben schienen. Nach zwei Wochen legte sich das wieder. Dafür verschlechterte sich ihr Körper- und Mundgeruch.
In der Apotheke ließ sie sich lang über alternative Behandlungsmethoden gegen ständigen Schnupfen beraten, um die Reaktion des Gegenübers kontrollieren zu können. Teresa zog dafür extra die Jacke aus. Die Apothekerin rümpfte dezent die Nase, als Teresas Geruch sich ausbreitete. Kurz darauf blickte sie sich um, als wollte sie kontrollieren, woher der Schweißgestank kam. Teresa schien für sie nicht in Frage zu kommen, sie war zu gut gekleidet, zu eloquent und zu vornehm in ihrer Erscheinung, um die Verursacherin zu sein. Teresas Haut juckte, vor allem in den Armbeugen. Während sie mit der Apothekerin redete, schob sie sich einen Ärmel zurück und kratzte sich auffällig. Kleine Schmutzspuren gerieten sofort unter ihre Nägel. Sie ließ sich ein Mittel zeigen und nahm es in die Hände, sodass die Frau die dreckigen Nägel sehen konnte.
Die Apothekerin versuchte weiterhin, sich nichts anmerken zu lassen, aber Teresa erkannte nun eine leichte Veränderung in ihrer Stimme. Noch einmal schob sie einen Jackenärmel hinauf und kratzte sich hingebungsvoll. Dann legte sie die Arzneipackung auf den Tresen. »Ich überlege es mir«, sagte sie. Als sie draußen war, sah sie durch das Schaufenster, wie die Apothekerin die Packung mit spitzen Fingern angriff und auf ihre Kollegin einredete.
Wochen später stank sie weniger stark. Ihre Zähne taten hin und wieder weh, wobei sie sich nicht sicher war, ob es nicht nur Einbildung war. Ihre Gesichtshaut war fettiger, nach einem Monat hatten sich die Pickel aber wieder verflüchtigt. Der Juckreiz hatte sich gelegt, die Haare waren trocken wie immer.
Als sie ihre Tage bekam, überlegte sie, das Blut einfach laufen zu lassen. Doch es durchtränkte ihre Slips und Hosen und beides klebte sich fest. So entschied sie sich für große Binden. Sie erinnerte sich an Gespräche – war es noch in der Schule gewesen? –, als die Mädchen darüber geredet hatten, dass für sie nur Tampons in Frage kämen, alles andere sei grausig.
Grausige Monatshygiene, dachte sie lächelnd. Sie stopfte sich die Binden in die Hose und tauschte sie erst, wenn sie vollgesogen waren. Wie hatten die Frauen das früher gemacht? Wie machten sie es in den Ländern, wo die Regale nicht mit Produkten für jede Stärke, Unterhosenform und mit unterschiedlichen Gerüchen vollgestopft waren?
Teresa gewöhnte sich an ihren ungeduschten Geruch. Sie registrierte kaum mehr, dass sie von anderen erstaunt und angeekelt angesehen wurde. Ihre Hände wusch sie ab und zu mit Wasser. Eine Woche vor ihrem Arbeitsbeginn wurde sie krank. Durch die Erkältung schwitzte sie stark. Ihre Eltern kamen, um nachzusehen, wie es ihr ging.
Ihre Mutter wunderte sich über den Geruch, die schmutzigen Fingernägel, bis Teresa genervt zugab, sich nicht mehr zu waschen.
Edith appellierte an ihre Vernunft, doch Teresa weigerte sich, lag bockig wie ein kleines Kind auf der Couch und schüttelte mit geröteter Nase den Kopf. Ihr Vater saß daneben auf dem Stuhl, sagte nichts, hörte sich zuerst die Überredungsversuche seiner Frau und dann den Streit zwischen den beiden Frauen an. Plötzlich stand er auf, durchnässte ein Geschirrtuch, goss Geschirrspülmittel darüber und gab Teresa den triefenden Stoff in die Hand. »Wasch dir die Hände, sofort.«
Er sagte es ruhig, und trotzdem war es bedrohlich. Teresa wies ihn ab. Ihr Vater sagte nichts. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kein bisschen, als er ihr den Fetzen entriss, ihre Hände umklammerte und sie abwischte. Sie strampelte und wehrte sich wie ein kleines Kind, doch er zerrte lang und ausdauernd an ihr. Teresa war erstaunt, wie kräftig er war, sie hatte ihn viel schwächer eingeschätzt.
Er ließ von ihr ab, sie setzte sich auf. Ihre Hände waren nass. Edith saß ihr mit blassem Gesicht und aufgerissenen Augen gegenüber. Teresa starrte stoisch geradeaus. »Hör auf mit dem Scheiß«, zischte ihr der Vater zu, warf das zusammengeknüllte Geschirrtuch neben sie auf die Couch und ging aus der Wohnung. Aus dem Vorzimmer rief er: »Edith, lass uns gehen!« Die Mutter blieb noch eine Weile stehen, dann folgte sie ihm wortlos.
XX
»Ich habe eine Liste erstellt. Kannst du mal drüberschauen?«
Ich habe Sandra nicht kommen gehört, doch plötzlich steht sie neben mir und hält mir zwei Zettel unter die Nase. »Natürlich.« Ich nehme das Excel-File, das sie mir ausgedruckt hat. »Mail es mir nächstes Mal einfach«, sage ich und lege die Blätter zur Seite. Wieso bleibt sie stehen? »Ist noch was?« – »Also wegen dem Aufenthalt …« Sie wirkt schüchtern, leise und dumm. »Ja?« Ich möchte sie an der Nase ziehen, damit sie endlich weiterredet. »Ich habe mit Chris gesprochen, und er, ja, ich hab … es ist so: Ich möchte eine Freundin mitnehmen in der einen Woche. Für Chris ist es okay, aber ich wollte dich fragen, weil wir ja gemeinsam dort sind und …« – »Kein Problem«, antworte ich knapp und beginne, meine Mails zu checken, um ihr zu signalisieren, dass unser Gespräch beendet ist.
Chris hat sein tian verloren, und niemand wird ihm bei der Suche helfen. Unsere Fluktuation im Büro liegt nur an seiner Triebhaftigkeit, er braucht immer etwas Neues, in das er seine Ängste stecken kann. Nur ich bin geblieben. Ich stelle mir vor, wie Nicole neben mir im Sand sitzt und wir den Jugendlichen dabei zusehen, wie sie sich ausgelassen und verrückt aufführen, ohne es wirklich zu sein.
Am Abend begrüßt mich Nicole. Sie trägt ein zitronengelbes Oberteil mit schwarzen Streifen und sieht aus wie eine Biene Maja vor dem Diätcamp.
Ich kann uns nur einige Packungen Fertigpizza und -kuchen kredenzen, die ich im Tiefkühlfach eingefroren habe. Doch für uns ist alles einerlei, ob Fasan in Aspik oder Packerlpizza, ob Kuchen luftdicht verpackt oder Punschkrapferl aus der Konditorei. »Sie sind keine Bulimikerin«, sagt Nicole, als ich von der Toilette zurückkomme. Sie fragt mich nicht, sie stellt es fest. »Ihre Gier. Sie haben keine Gier nach dem Essen. Sie stopfen es in sich hinein wie ich, aber Sie zwingen sich, Sie wollen es ja gar nicht.« Von ihrem Kinn tropft Tomatensauce.
Ich beobachte eine Taube am Himmel. Als ich heute nachhause gekommen bin, hatten sich die Vögel schon über unser gestriges Gelage hergemacht. Ich war nachlässig. Jeden Abend kehre und wische ich unsere Reste durch einen Spalt im Terrassengeländer in den Hof hinunter, wo sich Krähen, Tauben und Ratten darauf stürzen. Gestern muss ich etwas übersehen haben. Ich werde Brotkrümel in Gift tränken, dann werden die toten Tauben als Mahnmal für ihre Gefährten da unten liegen. »Sie haben recht«, sage ich.
»Mit achtzehn bin ich in die Stadt gezogen. Ich dachte, ich muss weg, um weiterzukommen«, erzählt Nicole. »Als gelernte Bürokauffrau habe ich im Finanzministerium Arbeit gefunden. Schlecht bezahlt, aber ein sicherer Posten. Dort habe ich meinen zukünftigen und mittlerweile ehemaligen Mann kennengelernt. Meine Mutter hat gelacht, als sie ihn das erste Mal gesehen hat. Er ist so dünn wie du dick, hat sie gemeint.
Wir sind zusammengezogen, haben ein Kind bekommen. Mein Sohn war ein halbes Jahr alt, als mein Mann zu einer anderen Frau gezogen ist, mit der er kurz darauf noch ein Kind bekommen hat.« Sie wippt mit ihren Beinen. »Wir sind so erpicht darauf, uns von unseren Eltern zu unterscheiden, und am Ende sind wir ihr Ebenbild.« Sie lächelt. »Mein Sohn ist jetzt 31 Jahre alt. Er war so einfach zu lieben. Genauso einfach ist er ausgezogen. Manchmal frage ich mich, ob er sich für mein Aussehen geniert hat.«
Ich will fragen, ob ihr Sohn dick ist, wie sie mich durchschaut hat, warum sie mir gefolgt ist. Ich weiß nicht, wie ich die Fragen stellen soll. Ich habe vergessen, wie Gespräche zu führen sind.
Nicole kratzt mit ihren Fingernägeln eine festgeklebte Nudel vom Tisch. Dann scharrt sie mit ihren Füßen, ein Zeichen, dass sie bald aufstehen und mich verlassen wird. Ich möchte nicht, dass sie geht. Der Gedanke erschreckt mich so, dass ich aufspringe. »Es sind Projekte«, sage ich schnell, damit sie sitzen bleibt. »Die Bulimie ist mein dreizehntes Projekt. Bitte kommen Sie mit.«
Sie erhebt sich mühsam. Langsam und geduldig führe ich sie über die Treppe in das obere Zimmer. Dort angekommen, muss sie eine Pause einlegen. Sie ist atemlos. Ich öffne meinen Schrankraum, in dem kein einziges Kleidungsstück zu finden ist, und drehe das Licht auf. Nicole geht vor und sieht hinein. Überall liegen meine Zeichnungen. Dazwischen, auf zwei Regalen, sind Ordner aufgestellt und mit Zahlen versehen. Ich nehme den ersten heraus.
»Fleisch«, steht handgeschrieben als Titel auf einem DIN-A4-Blatt. Die nächste Seite trägt als Titel: »Projektdefinition«. Darunter steht: »Mind. 3x/Tag Fleischaufnahme in Form von Wurst, gegrillt/gebackenem Fleisch, vorzugsweise Schwein, Rind, Kalb, Lamm.«
Auf derselben Seite steht unterstrichen: »Dauer: 6 Monate.«
Das nächste Blatt lautet: »Risikoanalyse: Magen-Darmprobleme, abzufedern durch Nahrungsergänzungsmittel, Vitaminpräparate sowie schulmedizinische Arzneien.
Ziel: Testen des Durchhaltevermögens, Körperkontrolle und tägliche Dokumentation körperlicher Veränderungen.
Kosten: 3500 Euro (Berechnungsmethode: Wiener Schnitzel à 6 Euro, vorwiegend Billig- und Fertigprodukte).
Durchführungskontrolle: Selbstbeherrschung, Selbstbeobachtung, Einteilung in 6 Meilensteine, erreicht nach jedem Monat.
Projektabschluss: 30.6.«
Nicole sieht sich die Mappe an, dann nimmt sie die nächste und die folgende. Sie sind alle gleich aufgebaut, nur der Inhalt und die Dauer unterscheiden sich.
»Intensive UV-Bestrahlung« ist der Titel des zweiten Ordners.
»Vernachlässigte Hygiene« jener des dritten.
»Projektmanagement«, erkläre ich Nicole. »Das habe ich im Studium gelernt.«
»Davon verstehe ich nichts«, sagt sie.
»Ich auch nicht«, gebe ich zu.
Nicole stellt den Ordner zurück, sieht sich noch einmal um, dann nickt sie und geht langsam und vorsichtig die Treppen hinunter. Ich folge ihr, sie schlurft in den Vorraum, schlüpft in ihre Schuhe und reicht mir die Hand. »Auf Wiedersehen.«
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