Kitabı oku: «Teresa hört auf», sayfa 3
XX
Edith sah es an. Ein schönes Kind. Und so winzig. Die Augen hielt es fest geschlossen. Edith musste an einen Film denken, in dem Schweinebabys zu sehen waren, nackte und schutzlose Säugetiere. Nicht dass sie ihr Kind mit Ferkeln vergleichen wollte, aber irgendwie konnte sie nicht umhin, es darin wiederzuerkennen. Das Kind hatte die Hände vor den Augen gefaltet. Edith sah es nur an, sie traute sich nicht, es zu berühren. Sie traute sich nicht, sich zu rühren. Reglos lag sie da, auf dem Bauch das Wesen, das einen Tag vorher noch in ihrem Bauch gewesen war. Ihr Unterkörper fühlte sich wund und blutig an. Sie versuchte sich nicht darauf zu konzentrieren, versuchte nur das Kind vor sich zu betrachten und zu bewundern, sich zu freuen.
Freute sie sich?
Wer, wenn nicht sie, konnte jetzt ganz klar analysieren und erkennen, welche Emotionen aus welchen Gründen in ihr steckten und mit den Hormonen einen wilden Samba tanzten. Daher war das alles nicht ganz ernst zu nehmen, weder das Hoch, das sie verspürte, noch die Rührung. Das alles konnte sich sehr schnell ändern.
Die Tür ging auf. »Alles in Ordnung?«, fragte Peter. Sie nickte. »Schlaf jetzt«, sagte er und schloss die Tür wieder. Sie hatte gewusst, dass er es schaffen würde, und er selbst hatte nie an sich gezweifelt. Peter war kein emotionaler Mensch. Er war klar und strukturiert und dank seiner Rationalität ein Genie. Die Geburt war problemlos vor sich gegangen, er hatte nicht eingreifen müssen, war nur kontrollierend dabeigestanden und hatte die Hebamme misstrauisch beobachtet.
Die arme Frau, für sie musste es schlimmer gewesen sein als für Edith selbst.
Das Baby machte ein Geräusch. Was war das? Ein Seufzen? Sie kannten einander noch nicht, obwohl sie schon viele Wochen gemeinsam verbracht hatten.
Es war so ein hübsches Kind, der Kopf wohlgeformt und die Gesichtsfarbe gesund und rosig. Eine Prinzessin, hatte Peter gemeint, als er sie in Empfang nahm. Es würde eine Königin werden, schoss es Edith durch den Kopf, nicht nur eine Prinzessin, und sie würde einen königlichen Namen tragen. Teresa, so wollten sie das winzige Wesen nennen.
Die ersten drei Monate nach der Geburt blieben in Ediths Gedächtnis eine Abfolge dunkler Tage, nur unterbrochen von Besuchen der stolzen Schwiegereltern, die das Kind zum Spaziergang ausführten. Währenddessen fiel sie in einen dumpfen, traumlosen Schlaf. Kamen die Schwiegereltern zurück, war ihr, als seien sie gerade erst aufgebrochen. Nach einem höflich distanzierten Gespräch verabschiedeten sie sich, und Edith blieb allein zurück bei ihrer Königin.
Die Königin weinte, schlief, trank und schiss. Sie war Mitte Oktober zur Welt gekommen, die grauen Nebeltage zogen sich endlos hin. Nie wurde es richtig hell. Edith getraute sich mit dem Baby kaum hinaus, nur zum Windelkaufen legte sie es viel zu dick angezogen in den Wagen und beeilte sich. Meist begann das Kind spätestens an der Kasse zu schreien, Edith spürte den Schweiß aufsteigen und die Milch einschießen.
Zuhause waren sie sicher, doch Edith litt an der Einsamkeit. Die Königin war keine Unterhaltung. Edith redete gern, lachte gern, hörte gern zu. Sie konnte niemanden einladen, ihre Freundinnen arbeiteten, deren Kinder waren alle schon älter. Also begann sie fernzusehen. Sie sah sich alles an, Wiederholungen, Dokumentationen, Kindersendungen, sogar die Wetterkamera. Stille vertrug sie nicht. Wenn sie auf Fernsehen keine Lust mehr hatte, drehte sie das Radio auf. In der Zeit hörte sie, obwohl sie sonst klassische Schallplatten bevorzugte, ausschließlich Ö3. Bald konnte sie jedes Lied mitsingen, eines schlechter als das andere.
Als Teresa vier Monate alt wurde, begann Edith wieder zu arbeiten. Zur gleichen Zeit kam das Au-pair. Cloé war ein Glücksgriff. Sie kam aus Réunion, die französischen Worte sprudelten aus ihr heraus, sie war gut gelaunt und herzte das Kind, während Edith einen Stock tiefer Klienten therapierte.
Edith fühlte sich befreit, auch wenn sie dem Kind gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Alle mussten ihren Senf dazugeben: Ihre Tochter sei doch zu jung, um von einer anderen Person betreut zu werden. Es sei üblich, bis zum dritten Lebensjahr der Kinder zuhause zu bleiben. Arbeitende Frauen waren eine verachtete Minderheit, die für Geld sorgen musste, weil der Mann nicht da war oder keine Arbeit hatte. Edith musste nicht für Geld sorgen, Peter verdiente genug. Sie arbeitete einfach gern. Eine unverständliche Sünde. Dabei genoss es Teresa, von Cloé verwöhnt zu werden, und quiekte vor Freude, wenn sie ihr Kindermädchen sah. Ja, es versetzte Edith einen Stich, als wäre sie – nein, sie war eifersüchtig. Sie versuchte mit Peter darüber zu sprechen, doch er verstand sie nicht. Sie hatte, so meinte er, doch alles, wovon andere Frauen träumten: ein großartiges Kind und einen Beruf, der sie erfüllte. Er fand es wichtig, dass sie arbeitete, er fand es gut, dass er und seine Frau nicht Teresas einzige Bezugspersonen waren.
Er hatte recht, natürlich. Aber. Aber. Sie hinterfragte ihre Mutterrolle, ihren Ehrgeiz, ihre eigene Kindheit, ihre Mutter; sie analysierte, woher ihre Gefühle kamen, doch die Eifersucht blieb, bis Cloé wieder mit dem Flugzeug davonflog, weit weg, zurück in den Süden.
Am Flughafen hob Edith ihre Tochter hoch und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Meine kleine Königin«, flüsterte sie, und dachte: Mutter sein, völlig verrückt.
XX
»Okay, ab der zweiten Woche seid ihr also unten, alles klar?« Christian zeigt auf Sandra – heißt sie überhaupt so? – und auf mich. Obwohl Sandra versucht, sich nichts anmerken zu lassen, kann ich erkennen, wie sie blass wird und ganz leicht ihr Gesicht verzieht. Ich kann es ihr nicht verübeln. An ihrer Stelle würde ich genauso reagieren, würde ich mit mir, der Langweiligsten und Uninteressiertesten aller Kolleginnen, auf eine Maturareise fahren müssen.
Es ist ihre erste Maturareise als Mitarbeiterin. Wahrscheinlich war sie irgendwann selbst als Maturantin dabei. Wie alt ist sie? Mitte zwanzig? Dreißig? Sie hat ja keine Ahnung. Keine Sekunde wird sie entspannen können, zwischen den feiernden, saufenden, speibenden und sexualisierten Jugendlichen.
Sandra ist Mitte zwanzig, beschließe ich, ohne sie zu fragen. Sie erhofft sich Spaß nach der ganzen Plackerei und den Überstunden, und sie hat ihn verdient, nur wird sie keinen haben. Sie weiß es, genauso wie sie weiß, dass so viele Jobs besser klingen als sie sind, dass es am Ende immer dasselbe ist, und alle nur nach der perfekten Work-Life-Balance suchen, aber die gibt es nicht, mein Mädchen, du verwöhntes Stück.
War ich jemals so? Wie war ich? Wann war ich? Habe ich auf Spaß, auf Entspannung gehofft, hatte ich Spaß, war ich entspannt? Um zu wissen, wer ich bin, müsste ich mich erinnern, wer ich war.
Ich war eine gute Schülerin. Ich war beliebt. Ich war ehrgeizig. Ich war hübsch. Das behaupten meine Eltern. Das zeigen Fotos. Wann hat das aufgehört?
Ich öffne unsere Instagram-Seite. Instagram potenziert Facebooks Einfachheit. Nicht mal mehr wenige Worte. Nur noch Bilder. Bikinis, Comics, verkleidete und besoffene Teenager und Spaßvideos springen mir entgegen. Ich poste ein Foto unseres Pic-Contests, unseren Countdown und suche nach Videos, lade eines hoch. Drei Personen gefällt es, JoLa postet: »Geilo.« Es ist zehn Uhr Vormittag. Geilo.
In der Mittagspause trinke ich Kaffee. Den Hunger spare ich mir für später auf, der Magen knurrt und meine Hände zittern, aber das halte ich aus. Mein Wille ist eisern, das – daran kann ich mich auch ohne die Hilfe meiner Eltern und von Fotos gut erinnern – war er schon immer.
Lachend und schwatzend kehren die Bienchen zurück und setzen sich in ihre Kojen, während ich die Passagierlisten durchgehe und mit den DJs oder deren Managern telefoniere. Sie sind mir unbekannt, ich mache mir nichts aus Musik, im Grunde kann ich Musik nicht ausstehen, lärmende, dröhnende Geräusche und nervtötende Stimmen, die einen nicht einmal beim Einkaufen in Ruhe lassen. Woher kommt diese Angst der Menschen vor der Stille?
Auch daran kann ich mich erinnern, die klassische Musik, die meine Mutter immer hörte, die Klänge meiner Kindheit. Ich hämmerte so lange auf den Topf, bis sie das Radio ausstellte. Ist das eine wirkliche Erinnerung oder spielt mir mein Gedächtnis einen Streich? Und wenn schon. Es macht keinen Unterschied.
Am Nachmittag trinke ich zwei weitere starke Kaffee, in meinem Bauch ist ein Loch, und das Loch ist die Leere, die ich bin, in einer Hülle, die ich nicht kenne. 100 % Party, Main Floors, Chill Out Areas, Flyboard & Jetsurf, Life Acts und Relax Lounges. Hier bin ich, mittendrin statt nur dabei, organisiere den Maturantinnen und Maturanten die geilste Woche ihres Lebens, die sie nie vergessen werden. Ich hoffe, ihr Gedächtnis trügt sie genauso, wenn sie daran denken, Versprechen werden nicht erfüllt.
Es ist spät, als ich nachhause gehe, in meinen Händen drei Einkaufssäcke, ich schone die Umwelt genauso wenig wie mich. Kein Pagenkopf auf einem Luftballon ist im Geschäft. Es ist wenig los im Laden, dafür klicke ich in meinem Kopf ein Like.
Doch dann steht sie vor der Tür meines Wohnhauses und lächelt mir entgegen. Es ist wie selbstverständlich, dass sie da ist. »Sie verfolgen mich«, sage ich und schließe auf.
»Schön, dass Sie doch noch kommen«, erwidert sie. Sie streckt mir ihre Würstelfinger entgegen, und zum ersten Mal berühre ich ihre verschwitzte Hand. »Nicole«, sagt sie, und ich nicke, gehe vor und drücke den Liftknopf.
»Schön«, sagt sie, als ich die Wohnungstür öffne, ohne sich umzusehen. Sie zieht ihre Schuhe aus und geht mit leisen Schritten durch das Wohnzimmer auf die Terrasse, wo sie sich auf einen der beiden Stühle setzt. Ihre Füße berühren den Boden nicht, welch ein kleines Wesen, wie eine Puppe, denke ich.
Sie sieht mir zu, wie ich für jede einen Teller hinstelle, mehr brauchen wir nicht. Ich packe das Essen aus. Die Sonne verschwindet hinter dem Dächerdschungel und lässt nichts zurück außer zwei Frauen und einem Essensgebirge; schwindelerregende Pfade aus Fertigpasta, schlammige Abgründe aus Nougatcreme, Türme aus Stelzen und fettigem Schweinsbraten; strahlend weiße Gletscher aus Schlagobers, die sich ausbreiten, nach unten zerfließen, sich auf den Fleischtürmen ihren Weg bahnen. Schokokekse und -riegel säumen diesen Weg, alles mündet in einer Schlucht aus Gebäck, Torten und Billigkuchen, alles ergibt eine wunderschöne Einheit, und hier, in diesem Krater, rasten zwei Gipfelstürmerinnen und kosten ihre Eroberung aus, laben sich, bis jede Quelle versiegt, alle Wege verschwunden und kein Gipfel mehr zu sehen ist.
Ich kotze 412,45 Euro in das Klo, wobei, nein, es ist nur die Hälfte, den Rest hat sich Nicole einverleibt.
»Danke«, sagt sie, »war gut.« Es sind die ersten Worte nach langer Zeit, es ist spät geworden.
»Das freut mich«, antworte ich, und es ist nicht gelogen. Sie lächelt mich an, die Lichter rundherum erhellen ihr Gesicht, in dem keine Falten zu sehen sind. Sie steigt umständlich vom Stuhl hoch, ihr Atem geht schwer, es strengt sie an. »Es ist spät«, sagt sie und schlurft leise zur Tür, wo sie in ausgelatschte Schuhe schlüpft. Wir geben uns die Hand, und ich sage nicht, dass sie wiederkommen soll, ich weiß, dass sie morgen wieder da sein wird und übermorgen und danach.
XX
Wenn man Teresa später Bilder von Cloé zeigte, konnte sie sich nicht mehr erinnern. Auf dem Foto war sie als Baby neben einem ihr unbekannten Mädchen mit einer dunkleren Hautfarbe zu sehen. »Deine erste Freundin«, erklärte ihre Mutter, und Teresa zuckte die Schultern.
Teresa war die Jüngste im Kindergarten, einer teuren Privateinrichtung, in der die Kinder besser gefördert wurden als sonst, und die damals schon das Konzept der Montessori-Pädagogik propagierte. Dennoch spürte Edith die schiefen Blicke anderer Mütter und hörte spitze Bemerkungen der Schwiegereltern heraus. Ende der Achtziger gab man sein Kind nicht mit eineinhalb Jahren ab. Sie verschob alle Termine auf den Vormittag, um Teresa mittags abholen zu können. Ihr schlechtes Gewissen blieb bestehen, es ließ sie nie vergessen, dass es für eine Mutter nicht in Ordnung war, ein Kind herzugeben, abzugeben, wegzugeben.
Sie meldete Teresa wieder ab und engagierte ein Kindermädchen, das bis zum frühen Nachmittag dablieb. Eine unscheinbare, langweilige junge Frau, die alles mit sich machen ließ und nichts von Cloés Lebensfreude hatte. Erst mit drei Jahren kam Teresa wieder in einen Kindergarten, und diesmal blieb sie.
Sie war kein auffälliges Kind, entwickelte sich durchschnittlich, sowohl was Größe, Gewicht, Zähne, Sprache als auch Emotionen betraf.
Teresa konnte sich durchsetzen, sie war extrem stur und sprachlich begabt. Damit glich sie ihre motorische Ungeschicklichkeit aus. Sie hatte Freundinnen, spielte mit Puppen und kleidete sich, obwohl es die Familie nicht forcierte, am liebsten rosarot.
Sie war integriert, ein fröhliches, lustiges, manchmal trauriges, neugieriges Kind, das sich zu Weihnachten und zum Geburtstag eine ältere Schwester und später ein Pferd wünschte. Mit ihrer Mutter spielte sie, ihrem Vater erzählte sie. Er hörte sich alles an, ob er zuhörte, war nicht wichtig. Edith wusste, dass er mit seiner Tochter gefühlvoller war als mit irgendeinem anderen Menschen. Sie erzogen Teresa liebevoll, die Mutter war für die emotionale, der Vater für die kognitive Entwicklung zuständig, wie es auch ihren Berufen entsprach.
So kindgerecht wie möglich erklärte er ihr, was richtig und was falsch war, er vermittelte ihr Werte und Normen. Als Teresa wissen wollte, was sie in ihren Berufen taten, sagte er: »Zu deiner Mama kommen Leute, die so traurig sind, dass sie überhaupt nicht mehr lachen können. Mama hilft ihnen, wieder fröhlich zu werden. Und ich helfe Leuten, die ein Baby haben wollen und keines bekommen können.« Teresa machte große Augen. »Du steckst das Baby in den Bauch?«, fragte sie. Er lachte und schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Aber merk dir einfach, dass wir Menschen helfen, die Hilfe brauchen.«
Teresa zeichnete ihre Eltern: den Vater in seinem weißen Kittel und die Mutter mit einer Teetasse in der Hand, sie saßen auf einer Wolke. Unter die Mutter zeichnete sie weinende Köpfe, und unter den Vater dürre, kopflose Frauenkörper. Es war ein Bild, das Teresas Talent offenbarte, und gleichzeitig war es so grausam, dass Edith es in einer Schublade versteckte.
XX
Sie fragt mich nach meinem Namen, und ich sage, sie kann mir jeden geben, der ihr einfällt. »Was für ein schönes Spiel«, sagt sie. »Kerstin, heute sind Sie Kerstin.«
Am Dienstag bin ich Alia und am Mittwoch Erna. Wir sprechen wenig, nur das Wichtigste: Bitte, die Butter, oder: Wo ist das WC. Ich versuche ihre Ängste aus ihrem Gesicht abzulesen, doch sie bleiben mir verborgen.
Es ist Donnerstag, und ich heiße Petrova. Noch immer liegt die Hitze über der Stadt, doch nach unserem Gelage kommt Wind auf. Er trägt die Verpackung eines als gesund deklarierten Müsliriegels über die Terrasse hinaus zu den Nachbardächern, irgendwann ist sie nicht mehr zu sehen. Nicole, dieser Luftballon, ist in helle, weite Kleidung gehüllt, mit einem schwarz gefärbten Helm auf dem Kopf, und ich brenne darauf, mehr über sie zu erfahren.
»Ich habe immer von so einer Terrasse geträumt«, sagt sie, »wo die Welt unter einem liegt, und man sich fühlt wie eine Königin.« Sie quält sich vom Stuhl hoch und streckt sich. Die Arme hebt sie so hoch sie kann, die Wurstfinger rollen sich aus. »Hier bin ich fast groß!« Ich muss lachen, sie sieht so lächerlich und gleichzeitig bezaubernd aus, die Königin der Luftballone.
Nicole setzt sich wieder und hält sich an der Lehne des Stuhls fest. »Als Kind war ich dünn«, sagt sie, »nur klein war ich schon immer. Als ich auf die Welt gekommen bin, war mein Vater schon weg. Gesehen habe ich ihn trotzdem fast jeden Tag. Er hat im Ort ein paar Häuser weiter mit seiner neuen Frau gewohnt. Aber wir haben keinen Kontakt gehabt. Seine Frau war Lehrerin an meiner Schule. Einmal hat mich die Nachbarin gefragt, ob es mich traurig macht, dass der Papa weg ist. Ich wusste nicht, was sie meinte, für uns war das einfach so. Also habe ich gesagt, es sei mir egal. Seitdem hat die Frau mich nur noch gegrüßt und nicht mehr mit mir geredet. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht sollte man traurig sein, wenn es erwartet wird.
Der Ort war nicht groß, rundherum gab es Felder und Wald. Wir haben in einem winzigen Haus gewohnt, direkt an der Hauptstraße, und obwohl das Dorf klein war, war es für einen freien Blick nicht groß genug. Die großen Häuser rundherum nahmen uns die Sicht und das Licht. Als ich klein war, gab es nicht viel Verkehr, mit den Jahren wurde er immer mehr. Aber das war nicht weiter schlimm. Wir waren nur zum Schlafen im Haus. Sonst waren wir immer draußen. Mein älterer Bruder und ich und ein paar Kinder aus dem Dorf. Als Kinder waren wir alle gleich, später ist das anders geworden. Mit der Volksschule hat es angefangen, ab der Hauptschule wollte kein Kind mehr zu uns. Ein Mädchen hat den anderen erzählt, wir würden in einem dunklen, hässlichen Mäuseloch wohnen. Neben all diesen riesigen Bauern- und Einfamilienhäusern war es ja wirklich winzig. Mein Bruder und ich waren immer gern in diesen großen Gebäuden zu Besuch, wo es immer noch eine Tür und noch einen Raum gab. Wir wurden immer seltener eingeladen. Und irgendwann gar nicht mehr.
Ich habe mich geschämt, habe zu stottern begonnen, sogar Jahre später, als die Mäuselochgeschichte schon lang vergessen war.
Als ich zwölf war, hat mein Vater mit seiner neuen Frau ein Kind bekommen. Ab da hat er zu uns wieder Kontakt aufgenommen und uns eingeladen. Er hat gesagt, dass seine Tochter sich über Geschwister freue. Seine Frau war nett zu uns, und das Baby war süß, so klein und unbeholfen. Es hieß Beatrice, und ich dachte die ganze Zeit, dass das ein Name für eine Königin ist.
Seine Frau und er waren sehr freundlich, wir haben uns in seinem Haus wohlgefühlt. Sie hatten einen riesigen Fernseher, das war unglaublich, daheim hatten wir nur einen ganz kleinen, da lief alles schwarzweiß. Einmal die Woche waren wir dort.«
Sie hört auf, ganz plötzlich, der Wind treibt eine weitere Verpackung über die Dächer. Sie sieht sich um und springt vom Stuhl. Ich bin verwirrt, die vielen Wörter, die auf einmal aus ihr herausgesprudelt sind, und die ich noch auffangen muss. Ich will nicht, dass sie geht.
»Es ist schon wieder nach Mitternacht, ich muss gehen, vor dem Haus wartet meine Kutsche.« Nicole lacht, ein kurzes, tiefes Geräusch, nicht das nervige Gekicher, das ich in der Arbeit ständig höre. Sie reicht mir die Hand, ihre verschwitzten, kleinen Würstelfinger umgreifen meine Finger, und ich umschlinge sie, halte sie fest. »Bis morgen, meine Petrova.«
Sie schlüpft in ihre ausgetretenen Sandalen und verlässt mich. Von draußen höre ich die Kirchturmuhr schlagen. Es ist ein Uhr in der Nacht. Ich bin nicht müde. Wie die Tage zuvor stelle ich mich vor den Spiegel. Heute ist ein Teil meines Bauchs dran.
Tags darauf trinke ich schon am Vormittag drei Energy Drinks und vier Espressi. In meinem Magen rumort es, aber Übelkeit und Müdigkeit sind Zustände, die ich nicht zulasse, außer es entspricht dem aktuellen Projekt.
Ich kontrolliere Excel-Listen, vervollständige die Logos der Kooperationspartner auf unserer Website, telefoniere mit dem Hotelmanager in der Türkei und mit einer hysterischen Mutter, die irgendeine Idiotin zu mir umgeleitet hat, und die sich beschwert, dass ihr Sohn die Reise ohne ihr Wissen gebucht habe.
Um 15 Uhr habe ich keine Lust mehr zu arbeiten, ich bin müde; trotz des Kaffees und der Energy Drinks gehorcht mir mein System nicht mehr. Um ein System zu durchbrechen, das weiß ich als Tochter einer systemischen Psychotherapeutin, muss man die Replik stoppen, denn es repliziert sich ständig selbst.
Um 16 Uhr verlasse ich das Büro, Christian sieht mich erstaunt an. »Ist was?«, fragt er, als ich an ihm vorbeigehe und mich verabschiede. »Kopfweh«, antworte ich, und er runzelt die Stirn: »Du?«
Ich kaufe in zwei Geschäften ein und gebe mehr aus als sonst in einer ganzen Woche. Den Reis und die Pasta koche ich sogar selbst, und die Schokolade ist nicht die billigste Sorte.
Es schlägt sechs Uhr Abend, als ich fertig bin, und ich weiß, dass Nicole nicht vor acht hier sein wird. Vor dem Spiegel betrachte ich ein Stück Bauch rechts unter meinem Nabel. Zwei Cellulite-Streifen durchziehen den Bereich, ein winziges Muttermal ist da und zarte, sehr dünne Härchen.
Ich stelle mir vor, wie Nicoles Bereich aussehen könnte, wie viel Platz er einnehmen würde auf meinem Papier, und wie viele Details es an ihr zu entdecken gäbe.
Um 20 Uhr läutet sie, und ich habe meine Zeichenblätter in eine Ecke verbannt. In der Mitte des Raums türmt sich unser Essen und spiegelt sich zur doppelten Menge. Ich habe keinen Tisch, der groß genug wäre, um die Mengen aufzunehmen, die wir gleich verdrücken werden.
Nicole gibt mir an der Tür die Hand. Mit bloßen Füßen schlurft sie auf einen der Sitzpolster zu; rundherum Essen. Sie braucht lange, schnauft schwer und setzt sich umständlich hin. Das hätte ich bedenken müssen, sich hinzusetzen ist mit ihrem Körpergewicht nicht einfach, doch ich weigere mich zu denken.
»Ich hatte das Gefühl, ich könnte heute früher kommen, Soo-Yun«, sagt sie; nach jedem Wort macht sie eine Pause, sie ist immer noch kurzatmig, das Hinsetzen hat sie angestrengt. »Ein schöner Name, nicht? Hab ich gegoogelt.« Sie grinst.
Ich setze mich ihr gegenüber. Harter, windgepeitschter Regen klopft auf die Terrassentür. Wir essen. Am Ende bleiben Verpackungen und Reste übrig. »Sie dürfen sich gern alle Räume ansehen, solange ich auf der Toilette bin«, sage ich zu ihr.
Als ich zurückkomme, sitzt Nicole noch immer auf ihrem Polster, die Beine vor sich ausgestreckt. Wie bei einer Puppe stehen sie gerade nach vorn ab, während ihr Körper durch die Position noch fetter wirkt. Alles hat sich zu ihrer Körpermitte hin vereinigt, die Brust, der Bauch, der Hintern, eine Frau wie ein Gebirge. Sie sieht dem Regen zu. Ich habe die Terrassentür geöffnet, einzelne Haare ihres Pagenkopfs bewegen sich im Wind.
Abrupt sieht sie mich an. »Sie sind ein großes Talent, Soo-Yun«, sagt sie. »Kein Ton ist von Ihrem Erbrechen zu hören, dabei habe ich mich darauf konzentriert. Sie sollten bei einer Talentshow mitmachen.« Nicole lacht nicht, es war kein Witz.
»Ich habe es perfektioniert«, sage ich, und tatsächlich könnte ich mich auch während der Arbeit geräuschlos und unauffällig übergeben. Ich warte, dass sie weitererzählt, doch sie schweigt; den Rest des Abends sehen wir den Regentropfen zu, bis sie sich um 22 Uhr verabschiedet.