Kitabı oku: «Die Erinnerung an unbekannte Städte», sayfa 2

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Dorffest

Der Wein schmeckte nach Schimmel und Gewürzen und war nicht warm genug, um die Kälte zu vertreiben. Ludwig nahm einen tiefen Schluck. Vorn auf der Bühne verausgabten sich die Schauspieler im trüben Licht des späten Nachmittags. Sie schrien einander an und warfen die Hände in die Luft. Gelächter wogte durch die Menge um ihn. Auch Ludwig begann zu lachen, er mochte das Gefühl, wie sein Lachen im Gelächter der Menge unterging, wie ein Kiesel, der im tiefen Meer versinkt. Um ihn herum standen die Menschen dicht gedrängt auf dem Dorfplatz, in dicken Mänteln und Jacken. Es schneite leicht, die Flocken schmolzen zwischen Ludwigs Schal und seinem Nacken.

Ein Kind begann so laut zu schreien, dass Ludwig nicht mehr verstand, was die Schauspieler auf der Bühne riefen. Eine Frau fuchtelte wie eine Furie mit einem Wallholz, und ein Mann stolperte mehrmals und fiel hin. Die Menge begann zu klatschen, Ludwig wusste nicht warum. Aber er klatschte vorsichtig mit, Hand auf Handrücken, um den Wein nicht zu verschütten. Als er den Arm senkte, zog ihn jemand am Ärmel. Nathanael. Ludwig wollte fragen, wie es ihm ging. Bevor er etwas sagen konnte, drückte Nathanael ihm ein mehrfach zusammengefaltetes Blatt Papier in die Hand und verschwand wieder zwischen den dunklen Mänteln der Dorfbewohner.

Ludwig fuhr mit den Fingern die Kanten des gefalteten Papiers entlang und nahm einen Schluck Wein. Dann steckte er es in die Manteltasche.


Die Luft im Festzelt war dick und roch nach dem gewürzten Wein und dem Rauch der Öllampen. Es war warm, Ludwig hatte seinen Mantel über einen Stuhl gehängt. Die Dorfbewohner standen in Gruppen dicht beieinander. Alle riefen statt zu sprechen, irgendwo im Halbdunkel spielte jemand Gitarre, aber nur hie und da drang die Musik zu Ludwig durch, und er erkannte die Melodie nicht.

Auf dem Weg zum Weinstand, wo er seinen Becher nachfüllen wollte, hielten ihn die Eltern einer Schülerin auf. Ihre Gesichter waren voller Sorge. Bestimmt wollten sie sich darüber beklagen, dass Ludwig auf die Mathematikprüfung ihrer Tochter »absolut ungenügend« geschrieben hatte.

»Sie hat immer noch diesen Ausschlag«, sagte der Vater.

»Das kann sein«, sagte Ludwig. Die Pusteln bedeckten die Hälfte ihres Gesichts und den Hals.

»Woher kommt das nur?«, fragte der Vater. »Es wird jeden Tag schlimmer.«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber was kann man dagegen tun?«, fragte die Mutter.

»Mit Alkohol einreiben?«, schlug Ludwig vor.

»Das nützt nichts«, antwortete sie.

»Ich bin kein Arzt«, antwortete Ludwig müde. Wie oft er ihnen das schon gesagt hatte.

»Ich hätte auch eine Frage«, sagte Urs, der mit unsicheren Schritten hinzutrat. Die Schatten unter den Augen des Dorfchefs schienen dunkler als sonst. Seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab.

»An mich?«, fragte Ludwig. Er hoffte, Urs würde gleich wieder gehen. Er unterhielt sich nicht gern mit Urs, wenn er angetrunken war. Urs neigte dann dazu, Dinge zu verraten, die zu wissen Ludwig peinlich berührte. Auch wenn ihn die Zentrale angestellt hatte, war Urs sein Vorgesetzter, und er hätte gerne etwas mehr Abstand zu ihm gehalten. Aber das Dorf war zu klein dafür.

»Unser Jüngster schlafwandelt. Geht das wieder weg?«

Nein, wollte Ludwig erst antworten. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ja, ich glaube schon, das wächst sich aus.«

Urs sah ihn enttäuscht an.

Alles, was Ludwig über Medizin wusste, stammte aus den alten Biologiebüchern, die er in der Schule gefunden hatte. Auch das Anatomiebuch, das ihm Nathanaels Mutter vor die Füße geworfen hatte, enthielt keine Antworten auf die Fragen, die ihm gestellt wurden. Die meisten Bücher, die überhaupt etwas taugten, waren von der Zentrale eingezogen worden. Ludwig wünschte, er hätte damals in der Schule besser aufgepasst, aber die Biologie des Menschen hatte ihn abgestoßen, diese obskuren Prozesse, die tief in seinem Innern vor sich gingen und ihn am Leben hielten.

Eine Gruppe von Leuten begann zu singen, ein altes Lied über einen Lindenbaum. Es klang schief, trotzdem hatte Ludwig Lust, mitzusingen und dabei an nichts zu denken.

»Ich brauche noch einen Becher Wein«, sagte er und ließ Urs und die Eltern stehen.


Ludwig trat aus dem Festzelt, um etwas frische Luft in die Lunge zu bekommen. Es hatte aufgehört zu schneien, war aber kälter geworden. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er Lisa. Er hatte angenommen, sie würde nicht zum Fest kommen.

»Ist zu warm im Zelt«, sagte Lisa und lächelte ihn an. In der Hand hielt sie einen Becher.

»Viel zu warm«, sagte Ludwig. Er wandte sich ab, er wollte nicht mit ihr reden. Aber sie fasste ihn am Arm. Wie angenehm sich ihre Berührung anfühlte, selbst durch die Winterjacke hindurch.

»Hast du gesehen?«, fragte sie und deutete zum Himmel. Die Wolken hatten sich gelichtet und gaben einen Teil der Staubdecke frei, durch die der Mond als verschwommene weiße Scheibe hindurchstrahlte. Nach außen zerlief sie in einen bläulichen Kranz, der erst ins Grüne überging und sich dann ins Rote verlor. Das Ganze sah aus wie die Perlmuttschicht im Innern einer Muschel. Das sei der Hof, hatte jemand einmal gesagt. Man konnte ihn sehen, wenn keine Wolken am Himmel waren und der Mond hell genug leuchtete.

»Auch als man ihn noch deutlich sehen konnte, habe ich nie verstanden, was die Leute an diesem Steinklumpen finden«, sagte Ludwig.

»Ich weiß«, antwortete Lisa.

Ihr Gesicht war schön, wie immer. Bleich und rund, mit blonden Strähnen, die unter ihrer Mütze herausfielen. Wenn sie ihn so anblickte, dachte er immer, er schuldete ihr etwas.

»War das Stück nicht fürchterlich?«, fragte sie.

»Wie geht es Michael?«, fragte Ludwig.

»Gut«, sagte sie. »Besser als mir jedenfalls.«

»Es war deine Entscheidung«, sagte er. Er wollte wütend klingen, aber es gelang ihm nicht so recht. Trotz allem tat es ihm gut, mit Lisa zu sprechen.

»Ist Vollmond?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht.«

»Schau nach und sag mir Bescheid.«

Früher hatte sie den Mondkalender, der bei ihm an der Wand hing, oft interessiert betrachtet. Sie war überzeugt, dass man gewisse Handlungen nach den Mondphasen ausrichten sollte. Er hatte das meiste davon vergessen und konnte sich einzig daran erinnern, dass sie sich und Sarah die Haare nur bei Leermond schnitt. Nachdem sie aufgehört hatten, sich zu treffen, war Sarah einmal mit schiefen, kurzen Stirnfransen in die Schule gekommen, und Ludwig hatte am Abend zu Hause nachgeschaut. Lisa hatte den Leermond um Tage verpasst. Aber sie sollte tun und lassen, was sie wollte, es ging ihn nichts mehr an.

»Begleitest du mich nach Hause?«, fragte Lisa. Sie schwankte. »Ich bin betrunken.«

»Nein«, sagte Ludwig.

»Ich will nicht stolpern und erfrieren.«

»Wieso fragst du nicht deinen Ehemann?«

»Ich mag nicht.«

Also gut. Er würde sie nach Hause begleiten, dorthin, wo sie hingehörte, wo sie mit Michael und Sarah wohnte, dann selbst heimgehen und nicht mehr an sie denken. Drei Monate war es her, seit sie ihm gesagt hatte, dass sie sich nicht mehr treffen sollten. Mit jeder Woche war es einfacher geworden. Aber heute Abend fühlte es sich wieder genauso schwer an wie am Anfang. Sie schwankte, und er packte sie am Unterarm.

Auf halbem Weg kam ihnen eine dunkle Gestalt mit einer Laterne entgegen. Erst als sie schon fast bei ihnen war, erkannte Ludwig Nathanaels Mutter und ließ Lisas Arm sofort los. Aber es war zu spät. Petra ging grußlos an ihnen vorbei. Ihr langer schwarzer Rock flatterte im Wind.

»Sie ist mir böse, weil ich nicht mehr in die Betgruppe gehe«, flüsterte Lisa.

»Sie sucht wohl Elias«, erwiderte Ludwig. Nathanaels Bruder war immer noch auf dem Fest, er lungerte seit dem frühen Abend in der Nähe des Weinstands herum. Ludwig wandte sich im Gehen nach Petra um und sah, dass sie weiter oben am Weg stehen geblieben war und zurückschaute. Ludwig packte Lisas Arm wieder, so fest, dass sie erschrak und kurz ins Straucheln geriet. Was kümmerte es Petra, ob er und Lisa zusammen nach Hause gingen, ob Lisa Michael verließ oder nicht, das ging sie alles nichts an.

»Du weißt, wie ich das gemeint habe?«, fragte Lisa. Sie waren bei ihrem Haus angekommen, und sie löste sich von seinem Arm.

»Was denn?«, fragte Ludwig.

»Sag bitte Bescheid wegen dem Mond.«

Wieder schaute sie ihn so an. Ludwig wollte sie an sich ziehen, damit sie den Mond vergäße, stattdessen hob er nur die Hand und ließ sie stehen.

Alkohol

Nathanael wurde von Samuels Weinen geweckt. »Was ist?«, fragte er. Vor dem Fenster war es dunkel, es musste mitten in der Nacht sein. Samuel lag zusammengerollt im Bett, seine Kerze brannte noch.

»Elias«, murmelte Samuel. »Er ist krank.«

»Was hat er?«

»Weiß nicht, er ist ohnmächtig.«

Nathanael sprang auf. Beim Abendessen am Dorffest hatte Elias noch gesund ausgesehen. Er öffnete die Tür zum Gang. Unten im Wohnzimmer hörte er leise Stimmen. Schnell stieg er die Treppe hin unter.

Die Eltern saßen bei Elias, der weich und schlapp auf dem Sofa lag. Der Vater blickte auf und schüttelte den Kopf. »Er hat eine Alkoholvergiftung.«

»Mit elf«, fügte die Mutter an. Ihre Augen waren gerötet. Sie streckte die Arme nach Nathanael aus, und er ging hin und umarmte sie. In ihren Kleidern hing der Geruch nach Holzfeuer und Alkohol.

»Er hat die herumstehenden Weingläser leer getrunken«, sagte sie. »Fang mir jetzt nicht mit deinen Bakterien an.« Die Mutter lächelte ein wenig.

»Wird er wieder gesund?«, fragte Nathanael.

Der Vater seufzte. »So Gott will.«

»Natürlich wird er wieder gesund.« Die Mutter stand auf. »Aber es ist zum Verrücktwerden. Da gehen wir herum und versuchen, mit den Leuten über den Glauben zu sprechen. Und zur gleichen Zeit …«

»Erst du«, sagte der Vater mit bitterer Stimme. »Und jetzt Elias.«

»Ich trinke doch nicht«, wehrte sich Nathanael. »Ich versuche nur, ein paar Dinge besser zu verstehen.«

Die Eltern schauten sich vielsagend an, dann wandte sich die Mutter ihm wieder zu und blickte ihn streng an. »Alles, was wir wissen müssen, steht in der Bibel und im Evangelium.«

»Hör auf deine Mutter«, fügte der Vater an. »Du bist jung. Du hast nicht gesehen, was wir gesehen haben.«

»Ich habe gesehen, wie sehr Rahel …«

»Nicht jetzt, Nathanael«, sagte die Mutter scharf.

»Und wenn Elias aufhört zu atmen?«, fragte Nathanael.

»Gott schaut auf uns. Er wird uns nicht noch ein Kind nehmen«, sagte die Mutter. Ihre Stimme klang entschieden. Der Vater sah Nathanael warnend an.

»Wenn wir einen Arzt hätten …«, sagte Nathanael trotzdem.

»Nathanael, wir haben das schon tausend Mal besprochen. Früher gab es so viele Ärzte«, sagte die Mutter. »Was hat es uns genützt?«

Nathanael dachte an Rahel. Als sie um Luft gerungen hatte, wollte der Vater doch noch bei der Zentrale einen Arzt holen, aber es war zu spät gewesen.

Elias’ Brustkasten hob und senkte sich langsam. Der Vater strich ihm vorsichtig über die bleichen Wangen.

»Geh ins Bett«, sagte die Mutter. »Wir bleiben wach und beten für Elias. Und für dich.«

Nathanael stapfte die Treppe hinauf, verharrte kurz und warf einen Blick zurück. Die Eltern beugten sich über Elias. Beide hatten den rechten Daumen auf ihre linke Handfläche gelegt, die Mutter murmelte ein Gebet. Die Worte verstand er nicht, aber er hörte das Vertrauen in ihrer Stimme und dahinter die Angst.

Im Zimmer war es dunkel, Samuel atmete ruhig. Nathanael legte sich ins Bett. Er blies die Kerze aus und starrte mit weit geöffneten Augen ins Dunkel. Jeden Moment erwartete er, dass die Eltern anfangen würden zu schreien. Er würde nach unten rennen und Elias beatmen, er hatte gelesen, wie es ging.

Doch es blieb still.

Komet

Ludwig erwachte mit pochenden Kopfschmerzen. Er fror, das Feuer war in der Nacht erloschen. Mühsam stand er auf und streifte seinen Mantel über. Im Zimmer nebenan hörte er leise die Hühner scharren und gackern. Bald würde er sie füttern müssen. Aber zuerst musste er pinkeln. Er zog die Schuhe an und öffnete die Haustür. Draußen war es noch kälter als gestern. Dieser elende Winter. Die dünne Schneedecke im Garten brach unter seinen Füßen, während er die wenigen Schritte zum Bretterverschlag zurücklegte. Auf dem Weg zurück zum Haus steckte er die eiskalten Hände in die Manteltaschen und streifte dabei den Zettel von Nathanael. Drinnen nahm er ihn aus der Tasche, faltete ihn auf und begann zu lesen.

Auf einem Kometen im Sonnensystem lebt eine außerirdische Zivilisation. Für viele Jahrhunderte reist der Komet durch Kälte und Dunkelheit. Am dunkelsten und kältesten ist es, wenn er sich der Oortschen Wolke nähert, wo er ursprünglich herkommt und wo alles aus Eis besteht, sogar die Luft gefriert dort.

Während der langen Jahre, die der Komet in Sonnenferne verbringt, befindet sich alles Leben in tiefem Schlaf. Nichts bewegt sich. Doch wenn der Komet alle paar Jahrhunderte näher an die Sonne kommt, an der Erde vorbei und noch näher, erwacht er für einige Zeit. Dann tauen die gefrorenen Wesen auf, umarmen sich und treffen sich, sie spielen Musik, tanzen und lachen und führen Theaterstücke auf. Gleichzeitig bekommt der Komet einen Schweif, denn das Eis schmilzt, und der Schweif zieht sich weit durch das Sonnensystem und ist von allen Planeten aus sichtbar, außer von der Erde und der Venus, die von ihren Atmosphären dicht verhüllt sind. Aber vom Mars aus sieht man ihn kristallklar, und er zieht sich über den ganzen weiten Marshimmel, an den glitzernden Sternen vorbei.

Dann schleudern die Gesetze der Gravitation den Kometen wieder fort von der Sonne. Die Wesen verabschieden sich traurig voneinander, wenn es dunkler wird, und vergraben sich in den Boden, wo sie zu Stein gefrieren für die nächsten Jahrhunderte. Doch von all dem wissen wir nichts, und wir werden auch nie etwas davon erfahren.

Ludwig faltete den Zettel langsam zusammen. Er starrte aus dem Fenster auf die menschenleere Straße. Jemand musste Nathanael die Unterlagen zur Astronomiestunde weitergegeben haben. Was stellte der Junge sich vor? Dass Ludwig seine Hausaufgabe korrigieren und zurückgeben würde, gegen den Willen seiner Eltern? Nathanael schien den Auftrag, den er den Schülern gegeben hatte, zudem missverstanden zu haben, es war nicht darum gegangen, eine Geschichte zu erfinden. Immerhin stimmte der Kometenorbit, den Nathanael beschrieb, ungefähr mit den Tatsachen überein. Das war schon viel, die Texte der anderen Schüler waren konfus gewesen, so als hätten sie keines von Ludwigs Worten verstanden.

Ludwig nahm eine Handvoll trockenes Stroh, stopfte es zwischen die Holzscheite im Kamin und schlug den Feuerstein und das Stahlstück zusammen, bis das Stroh zu qualmen begann. Er hängte den Wasserkessel über die größer werdenden Flammen und warf getrocknete Pfefferminzblätter hinein. Wie sehr er Kaffee noch immer vermisste, gerade an einem Morgen wie heute. Er streute aus einer Dose Hafer in das Pfefferminzwasser und löffelte den Brei langsam. Das Licht draußen war noch trüber als sonst, vielleicht würde es bald wieder schneien.

Wenn er Nathanaels Hausaufgaben weiterhin korrigierte, würde früher oder später unvermeidlich Petra an seine Tür klopfen. Sie würde ihn anschreien, was er sich einbilde und ob sie Nathanael einsperren müsse, damit Ludwig aufhören würde, ihn zu beeinflussen. Wahrscheinlich würde sie Urs in die Sache hineinziehen, der sich dann in Ludwigs Lehrplan einmischen würde. Sina, Urs’ Frau, besuchte jetzt auch die Betgruppe.

Als Petra Nathanael aus der Schule genommen hatte, hatte sich in Ludwigs Ärger eine leise Erleichterung gemischt. Er war froh gewesen, dass er ihr hartes Klopfen an seiner Tür nicht mehr hören würde, zumindest so lange, bis Samuel und Elias in die Oberstufe kämen. Wenn Petra sie denn überhaupt die Oberstufe besuchen ließe. Seit Ludwig Nathanaels Klasse übernommen hatte, war sie in regelmäßigen Abständen vorbeigekommen, um seinen Unterricht zu kritisieren. Ob er nicht dieses Buch oder jenes Thema weglassen könne. Ständig hatte sie Nathanaels Taschen durchsucht und seine Schulunterlagen kontrolliert. Früher hatte Ludwig noch gehofft, dass Niklas, Nathanaels Vater, sich eines Tages gegen seine Frau wehren würde. Er war ein schweigsamer Mann und schwer zu durchschauen. Aber scheinbar teilte er Petras Ansichten.

Nein, dachte Ludwig. Ich werde nichts tun. Es ist besser, auch für Nathanael.

Glocke

Es war schon hell, als Nathanael nach unten ins Wohnzimmer kam. Die Mutter verteilte drei Teller auf dem Tisch und sah nur kurz auf. Elias saß auf dem Sofa, in eine karierte Decke gewickelt. Lediglich sein Kopf schaute heraus. Er war bleich, starrte aus dem Fenster auf den fein fallenden Schnee und beachtete Nathanael nicht.

»Geht es ihm besser?«, fragte Nathanael.

»Ihm geht es gut«, sagte die Mutter. »Sei leise, Vater schläft. Er war die ganze Nacht wach.«

Samuel polterte die Treppe herunter. Auf halber Strecke blieb er abrupt stehen und musterte Elias.

»Elias, du Idiot«, rief er.

»Ruhe«, rief die Mutter. »Ihr seid genauso schuld. Ihr wisst doch, dass ihr auf Elias achtgeben sollt.«

Elias zog sich die Decke über den Kopf.

»Gehen wir nicht zur Predigt?«, fragte Nathanael. Hendrik hatte bereits das erste Mal die Glocke geschlagen. Normalerweise weckte die Mutter sie vor dem Läuten.

»Ihr geht. Ich bleibe bei Elias. Und Vater muss schlafen.«

»Das ist gemein«, nörgelte Samuel.

Die Mutter legte das Besteck hin.

»Genug jetzt«, sagte sie leise. »Kommt her, sofort.« Nathanael und Samuel näherten sich ihr zögernd. »Wir tun alles für euch. Tag für Tag rackern wir uns ab, damit ihr genug zu essen habt. Und ihr? Ihr beklagt euch, dass ihr am Samstagmorgen das Wort Gottes hören müsst? Ist das für euch nur eine Pflicht? Wollt ihr lieber so aufwachsen wie Vanessa? Mit einer Mutter, die gut und schlecht nicht unterscheiden kann?« Wie bleich sie ist, dachte Nathanael. »Reicht denn nicht, was Elias uns angetan hat?«

»Wir gehen ja«, sagte Nathanael und zog Samuel am Ärmel. »Ich werde auf Samuel aufpassen. Wir werden hingehen und für Elias beten.«

»Das ist das Mindeste«, sagte die Mutter. »Das Mindeste.«

»Auf mich muss niemand aufpassen«, sagte Samuel. »Ich lese keine verbotenen Bücher und trinke auch nicht.«

»Dann passt eben aufeinander auf«, sagte die Mutter müde. »Und nehmt euch noch ein Stück Brot mit.«

Metallladen

Lisa saß hinter der Theke und las. Als Ludwig die Tür öffnete, zuckte sie zusammen und richtete sich auf. »Und, war Vollmond?«, fragte sie.

Ludwig nickte. Er fuhr mit dem Finger die Theke entlang. Er hatte nicht nachgesehen. Ohnehin konnte niemand sicher sein, welcher Tag genau war; ein paar Dörfer weiter waren sie überzeugt, es sei drei Tage später. Lisas Bitte hatte ihn dazu gebracht, wieder darüber nachzudenken, wie man den Kalender genauer machen könnte, etwa, indem man versuchte, die dunkelste Nacht des Monats zu bestimmen. Aber wozu, Lisas Vorstellungen vom Einfluss des Monds waren doch nur dummer Aberglaube.

Die Tür zum Hinterzimmer des Ladens stand halb offen. Auf dem kleinen Tisch lag ein gelb gemustertes Wachstuch, dahinter waren die rostigen Armaturen einer ehemaligen Küche sichtbar. Am Boden stand das Kurbelradio. Leise chinesische Musik, unterbrochen von statischem Knistern, drang aus den Lautsprechern. Ludwig wünschte sich, dort am Tisch sitzen zu dürfen, den ganzen Tag lang. Er würde den Kopf auf das kühle Wachstuch legen und der Musik zuhören, bis es Abend wurde, während Lisa vorn an der Theke las.

»Habt ihr das Fahrrad noch?«, fragte Ludwig, um etwas zu sagen.

»Ja, aber wie du weißt, darf ich es nicht …«

»Ich will es ja nicht kaufen. Nur ausleihen. Ich möchte nächste Woche den Dynamo behandeln.«

Lisa zögerte und nickte dann. Sie verschwand im Hinterzimmer, und Ludwig hörte, wie sie eine Tür aufschloss. Sie kam mit einem großen, verbeulten Mountainbike unter dem Arm zurück. Ludwig nahm es ihr ab. Es war schwerer, als er erwartet hatte, waren Mountainbikes nicht leicht gewesen? Er stellte es auf den Boden. Lisa strich sich den dunklen Rock glatt und richtete ihren Zopf.

»Was für ein Ding«, sagte Ludwig.

Sie lächelte stolz, als hätte sie das Fahrrad selbst gebaut.

Das Hinterrad des Mountainbikes war vollkommen verbogen, und die Speichen waren rostig. Doch das Vorderrad lief noch. Ludwig hob es an und drehte das Rad, die Lampe leuchtete hell. Wie schön es wäre, ein Fahrrad zu besitzen. Ludwig würde damit in andere Dörfer fahren und mit Neuigkeiten zurückkommen, die Lisa überraschten. Oder er würde sie mitnehmen, sie würden immer weiter fahren, bis sie ans Meer kämen, und dort ein Haus bauen.

»Danke«, sagte Ludwig, nachdem Lisa das Fahrrad zurück ins Hinterzimmer getragen und die Tür wieder verschlossen hatte. »Ich hole es in ein paar Tagen.«

»Ist gut«, sagte Lisa und griff nach dem Buch, das vor ihr auf der Theke lag.

»Was liest du?«, fragte er.

»Die Buddenbrooks«, antwortete sie.

Schon wieder, dachte Ludwig. Während der großen Kälte hatte er stapelweise Bücher in den Kamin geworfen und verbrannt. Nur zwei naturwissenschaftliche hatte er aussortiert. Beide lagen seit Jahren in Walters Bibliothek.

Lisa hielt ihm das Buch hin, und er schlug es auf der ersten Seite auf.

»Lisa Wendelin«, las er vor.

Sie richtete sich auf, und Ludwig merkte, dass er mit seiner Lehrerstimme gelesen hatte wie vor der Klasse, wenn er die Anwesenheitsliste prüfte. Lisa hatte ihren Mädchennamen mit runden Buchstaben hineingeschrieben, bestimmt noch als Schülerin. Wahrscheinlich hatte sie das Buch auf der Flucht mitgeschleppt. Wieso hatte er sie nicht schon damals kennenlernen können? Jetzt trug sie Michaels Namen, Schmid. Das passte überhaupt nicht zu ihr. Es war wie eine Tarnung, die sie sich übergestülpt hatte.

Weiter unten war eine Strichliste eingezeichnet, neun Fünferblocks und ein angefangener Block mit vier Strichen. Das Lesezeichen steckte fast am Ende des Buches zwischen den Seiten, bald würde sie auch den letzten Block durchstreichen können.

»Nächstes Jahr werde ich es Sarah zum Lesen geben«, sagte Lisa.

Ludwig nickte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sich Sarah auf solch ein langes Buch würde konzentrieren können. Es ärgerte ihn, dass ausgerechnet Lisas Tochter so unbedarft von der Schule gehen würde. In letzter Zeit arbeitete sie immer weniger mit.

»Wie geht es dir?«, fragte er schließlich.

»Ich habe schlecht geschlafen. Muss der Vollmond sein.«

»Ich auch.« Ludwig schaute Lisa lange an. Sie lächelte. Also doch.

Die Tür ging auf, kalte Luft kam ins Innere. Es war Urs.

Er wandte sich an Lisa: »Hast du die Ersatzschrauben gefunden?«

Lisa griff unter die Theke und holte eine Tüte mit Schrauben hervor. »Es sind nur fünf, und eine wird nicht ganz passen, die musst du noch abschleifen.«

Urs nahm die Schrauben entgegen. »Danke. Warum bist du letzte Woche nicht zur Dorfversammlung gekommen?«, fragte er.

»Hat Michael mich nicht entschuldigt?«

»Doch«, sagte Urs. »Aber ich wäre froh gewesen um eine weitere Stimme gegen Hendriks Vorschlag.«

»Du musst ihn ja nicht umsetzen«, sagte Ludwig.

Hendrik hatte wieder einmal darum gebeten, dass Urs bei der Zentrale vorstellig werden sollte, um finanzielle Unterstützung für die Kirche zu holen. Sie täten so viel für die Gemeinschaft, und früher hätte es ja auch die Kirchensteuer gegeben. Und obwohl die Mehrheit der Versammlung dafür gewesen war, hatte Urs gesagt, es stünde außer Frage, die Zentrale erneut damit zu behelligen.

»Ja, aber es sieht besser aus, wenn zumindest ein paar von euch auf meiner Seite sind. Zumal nun sogar Sina gegen mich stimmt.«

Urs hob die Hand zum Gruß und verließ den Laden, die Tüte in der Hand.

»Der hat’s auch nicht immer leicht«, sagte Ludwig.

Lisa schüttelte den Kopf. »Mir wär’s lieber, die Zentrale würde die Religiösen unterstützen. Wenn die bei uns klopfen, fühlen wir uns jedes Mal verpflichtet, etwas zu geben. Sarah und Michael gehen doch auch oft zu den Betabenden.«

Ludwig zuckte mit den Schultern. Er gab ebenfalls meistens etwas, dem Frieden zuliebe, aber er hatte gegen Hendriks Vorschlag gestimmt.


Ludwig ging zügig an den Reihenhäusern vorbei, die die Hauptstraße des Dorfes säumten. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Die frühere Ähnlichkeit der Häuser miteinander war noch erkennbar, alle hatten denselben kleinen Balkon links oben. Ansonsten war ihr Zustand sehr unterschiedlich. Einige standen leer und hatten eingestürzte Dächer und rußgeschwärzte Wände. Bei den anderen waren die Ziegeldächer mit Steinen und Kotflügeln von Autos ausgebessert. Viele Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Der Putz blätterte überall von den Wänden, und das Holz, das die Fassaden schmückte, war dunkelbraun und verzogen. Rauch stieg aus einigen Kaminen.

Er ging schnell weiter, am Schulhaus vorbei, ohne es eines Blickes zu würdigen, über die Kreuzung, in deren Mitte ein riesiger Spalt den Asphalt aufriss, und dann eine steile Quartierstraße entlang den Hügel hinauf. Auch hier standen Reihenhäuschen, die meisten leer und verfallen. Die Hausmauern waren von den Spuren zerplatzter Wasserleitungen gezeichnet, die den Putz aufgerissen hatten. Schnee lag in den ehemaligen Wohnzimmern. In einem hing noch ein Bild an der Wand, aber was einmal darauf abgebildet gewesen war, war nicht mehr zu erkennen. Im Haus am oberen Ende der Straße wohnte Anna mit Vanessa. Aus ihrem Schornstein stieg kein Rauch, vielleicht schliefen sie noch.

Ludwig ging an dem Haus vorbei und gelangte auf den Feldweg zwischen den Wiesen. Die kalte Luft hatte sein Kopfweh nicht verscheucht. Er blieb stehen und sah vom Hügel auf das Dorf hinunter. Ludwig wusste genau, wer wo wohnte, wer krank war und wer gesund, wer wie viele Kinder hatte und wer sich mit wem stritt. All die Probleme, all die kleinen Entscheidungen, die Dramen. Nie hatte er so leben wollen. Als Student hatte er von New York geträumt, von einem Loft mit unverputzten Wänden und Sirenengeheul in der Nacht, wo man die Nachbarn nicht kannte und jeder tat, was er wollte. Er hätte gerne in einem Großkonzern gearbeitet, mit spiegelnden Fassaden und Glasliften, eine dünne Krawatte getragen und viel Geld verdient, zumindest für ein paar Jahre.

Das Haus, in dem Lisa mit Michael und Sarah wohnte, war von hier aus nicht zu erkennen. Auf Petras Haus hingegen hatte er einen freien Blick, es war eines der größten im Dorf. Er sah vor sich, wie Nathanael im Dachzimmer heimlich über den Hausaufgaben brütete, wie seine Mutter ihn dabei erwischte und ihm eine Ohrfeige verpasste. Er spürte das Echo des Schmerzes in der Wange und schüttelte den Kopf. Er durfte sich nicht in diese Geschichte verstricken lassen.

Im Metallladen brannte schwaches Licht, Lisa musste eine Kerze angezündet haben. Ludwig drehte sich um und ging weiter. Er stellte sich vor, das Dorf hinter ihm versänke in metertiefem Schnee. Als er den Wald betrat, huschte vor ihm ein Fuchs über den Weg.

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9783956144707
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