Kitabı oku: «Die Erinnerung an unbekannte Städte», sayfa 4
Prediger
Nathanael drückte die schwere Tür zum Versammlungsraum auf. Schwaches Licht drang durch die Deckenfenster. Der Saal war leer, die Stuhlreihen standen ordentlich da. Wie kahl es hier aussah ohne die Kerzen. Aus dem Nebenzimmer drang ein leises Rascheln.
»Ich bin gleich bei dir«, rief Hendrik hinter der angelehnten Tür.
Nathanael war absichtlich langsam gegangen und später dran als abgemacht. Bestimmt ließ Hendrik ihn deshalb jetzt warten. Nathanael setzte sich auf einen Stuhl in der ersten Reihe, dorthin, wo seine Eltern immer saßen. Er stellte sich vor, was sie während den Predigten und den Betabenden sahen. Hendrik stand erhöht auf einem Podest. Man hatte also seine Beine direkt vor sich und musste den Kopf weit nach hinten legen, um sein Gesicht zu sehen. Dafür sah man nichts von den anderen Leuten, die im Raum waren, hörte nur ihre Bewegungen und ihr leises Atmen. Wie ein Gewicht im Rücken. Nathanael war froh, dass er immer ganz hinten saß.
Hendrik öffnete die Tür. Er trug nicht seinen üblichen dunklen Anzug, sondern Jeans und einen Pullover.
»Willkommen«, sagte er und lächelte. »Entschuldige. Ich musste die Freitagspredigt fertig schreiben.«
»Kein Problem«, sagte Nathanael und nahm die Hand, die Hendrik ihm entgegenhielt. Sie war warm.
»Unglücklich, hier zu sein?«, fragte Hendrik.
Das war einer seiner Tricks, dachte Nathanael.
»Nein«, log er.
Hendrik lächelte immer noch leicht. »Schön. Ich freue mich, dass du hier bist. Wir haben einen weiten Weg vor uns.«
Das glaube ich auch, dachte Nathanael.
»Ich möchte mit dir über etwas sprechen, das mich beschäftigt. Komm, setzen wir uns in mein Zimmer.«
Es war das erste Mal, dass Nathanael Hendriks Arbeitszimmer betrat. Es war voller Bücher. Theologische Werke, aber auch Bücher über Psychologie. Massenhypnose, las er. Revolutionen und ihre Vorläufer.
»Ich lasse fast niemanden hier herein«, sagte Hendrik.
»Wo hast du all die Bücher her?«, fragte Nathanael. Er merkte, dass seine Stimme interessierter klang als gewollt.
»Geschenke«, sagte Hendrik. »Setz dich.«
Er hob einen Stapel Bücher von einem Hocker. Nie hätte Nathanael gedacht, dass Hendrik so viele Bücher besaß. Er hatte geglaubt, Hendrik arbeite ausschließlich mit der Bibel, dem Evangelium des Staubes und den »Sprüchen der Gnade«, aus denen er oft zitierte und die Nathanael nicht ausstehen konnte. Alles, was darinstand, war entweder offensichtlich richtig oder völlig verlogen.
»Ich will nicht um den heißen Brei herumreden«, sagte Hendrik. »Eine Sache macht mir Sorgen.«
»Was denn?«, fragte Nathanael.
»Wenn du Prediger werden willst, musst du lernen, offener zu sein. Und wärmer. Als Prediger müssen die Leute dich mögen.« Hendrik sah Nathanael forschend an. »Magst du die Menschen, Nathanael?«
Nathanael dachte nach. »Nicht alle«, sagte er und blickte zu Boden. Für einen Moment kam er sich ganz durchsichtig vor. Als wisse Hendrik alles über ihn.
Hendrik seufzte. »Magst du mich?«
Nathanael spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. »Nein«, sagte er leise. Aber stimmte das wirklich? Auch wenn er mit Hendrik meistens nicht einverstanden war, gab es etwas an ihm, das ihn anzog.
Hendrik lachte.
»Da bist du eine Ausnahme«, sagte er. »Die meisten Menschen mögen mich nämlich. Weißt du, das hängt zusammen. Wer die Menschen nicht liebt, wird auch von ihnen nicht geliebt. Um Prediger zu werden, musst du als Erstes lernen, die Menschen zu lieben.«
Es stimmte, Hendrik schaute jeden an, als sei er ihm wichtig. Es fühlte sich gut an, so angeschaut zu werden. Und doch war Hendrik dagegen, dass man sich bei der Zentrale Hilfe holte, wenn man krank war. Gott wird für uns sorgen, sagte Hendrik immer.
»Ich will kein Prediger werden«, sagte Nathanael mit klarer Stimme und sah Hendrik direkt in die Augen.
»Ich weiß«, sagte Hendrik. Er lächelte. »Aber auch als Arzt musst du die Menschen gernhaben und sie für dich gewinnen. Ich kann dir dabei helfen. Ich glaube, dass ich dir etwas beibringen kann, das in keinem Schulbuch zu lesen ist.«
Hendrik erhob sich. »Steh auf«, sagte er.
Nathanael gehorchte. Hendrik schüttelte den Kopf. »Aufrechter«, sagte er. »Schultern zurück. Hände sinken lassen. Und jetzt lächeln.«
Nathanael bemühte sich um eine gute Haltung und zog die Mundwinkel nach oben.
»Sieht unecht aus«, sagte Hendrik und lachte. »Das musst du mit einem Spiegel üben.«
Fieber
Ludwig sah sich im Licht des frühen Abends durch einen hellgrünen, frisch bepflanzten Park gehen. Er folgte einer Reihe junger Bäume, jeder von ihnen sorgfältig in der dunklen Erde eingegraben und am Stamm von einem zarten Netz umhüllt. Auf einem menschenleeren Spielplatz standen Schaukeln, kleine Häuschen und Wippen aus hellem Holz, fabrikneue Bänke warteten auf Anwohner, die sich im Sommer auf sie setzen würden. Er steuerte auf eines der Hochhäuser zu, die die Grünanlage säumten. Die hohe Glastür war von bronzenem Metall gerahmt und schwang lautlos auf, als er näher kam, sie hatte den Chip in seiner Tasche erkannt. Sie ließ ihn in die hohe Lobby ein. Auch die Lifttür öffnete sich von selbst, als er näher kam. Alles in der Kabine glänzte, das Metall des Bodens und der Wände, der hohe Spiegel. Ohne dass er einen Knopf drücken musste, fuhr der Lift lautlos in den achten Stock. Dort betrat Ludwig einen Gang mit Kirschholzwänden und einem matten Steinboden, der von einem komplex geäderten Muster durchzogen war. Die Tür zu seinem Appartement schwang auf, er ging hinein. Der Parkettboden war aus echtem Holz, das man roch, seine Farbe so matt und pudrig wie das früheste Morgenlicht. Obwohl es draußen noch nicht dunkel war, schaltete sich sanft das Licht ein, wie Musik, die langsam lauter wurde. Indirektes Licht aus vielen Quellen, Designerlampen, eine milder leuchtend als die andere. Eine Wohnküche mit einer frei stehenden Kücheninsel, schimmernde Messer in einem Messerblock aus Glas, zwei Backöfen übereinander, sechs Herdplatten, alles glänzend, als wäre es noch von niemandem berührt worden. Ludwig ging zum Fenster, legte eine Hand auf die Lehne des schwarzen Ledersessels und blickte auf die Gleise weit unter ihm. Er betrachtete die lautlos fahrenden Züge, die blendenden Signallichter. Und erst jetzt begriff er: Er war es, der stehen geblieben war, nicht die Welt. Ludwig stieß sich von der Lehne ab. Er musste sein Leben nachholen, seine Eltern warteten auf seinen Anruf, wahrscheinlich seit Jahren. Er drehte sich in Richtung des Wohnbereichs, wollte zum Telefon stürzen, doch da war kein Raum mehr, keine Lichter, nur Schwärze.
Ludwig schreckte hoch. Sein Hals schmerzte, er tastete nach dem Glas Wasser, das neben seinem Bett stand, und trank gierig.
Ludwig hatte den Unterricht für heute abgesagt. Es konnte nicht spät sein, Licht drang zwischen den Vorhängen hindurch. Er legte sich ein frisches Stofftaschentuch aufs Gesicht und dachte an seine Eltern, die er nie wieder würde anrufen können. Wenn er als Kind krank gewesen war, hatte ihm die Mutter Apfelschnitze gebracht, und er hatte auf dem Flatscreen Comicserien angeschaut, bis er einschlief. Ums Bett herum hatten heruntergefallene Papiertaschentücher gelegen, die irgendwo in einer Fabrik hergestellt und ständig ersetzt und geliefert wurden, sie hatten kaum etwas gekostet. Die Mutter hatte über die Unordnung geschimpft, die Taschentücher aber für ihn eingesammelt. Und sein Vater hatte ihm ein Glas Wasser mit einer Vitamin-C-Brausetablette darin gebracht, die leise zischte.
Wie anders es heute war, krank zu sein. Alles, was er hatte, um wenigstens die Halsschmerzen zu lindern, waren getrocknete Salbeiblätter, welche die alte Selina letzten Sommer gesammelt und vorbeigebracht hatte. Sie rochen nach Staub und schienen nicht zu helfen. Immer, wenn er krank wurde, fürchtete Ludwig um sein Leben. Er sprach mit niemandem darüber, aber wenn er so mit heißem Kopf im Bett lag, betete er. Lass mich leben, lieber Gott. Er betete, dass es ein Virus war und keine bakterielle Infektion, weil er die Vorstellung hasste, an etwas zu sterben, das man in seiner Jugend mit einem einfachen Antibiotikum hätte heilen können. Er betete um Ruhe und Stärke. Wenn er überlebte, würde er Lisa fernbleiben, keinen Wein mehr trinken und Walter für seinen Ratschlag danken. Er würde überhaupt dankbar sein für das Leben, das er hatte.
Ludwig hatte keinen Appetit und nicht einmal Lust, die Hühner zu füttern, obwohl er das sonst gerne tat. Er hörte sie hinter der geschlossenen Tür der ehemaligen Küche gackern.
Er stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Der Schnee war halb geschmolzen, der Boden von Matsch bedeckt. Alles schien die gleiche graue Farbe zu haben, der Himmel, der Boden, die Häuser, das Gesicht der Nachbarin, die mit gebeugtem Rücken vorbeiging. Sogar das Salz war grau geworden, das hatte er gesehen, als er die Vorräte überprüft hatte, die langsam, aber sicher zur Neige gingen. Bald würde er trotz Fieber nach draußen müssen. Ihm schwindelte. Er setzte sich an seinen alten, zerkratzten Tisch. Hier hatte er Lisa gefragt, ob sie mit ihm fortgehen würde. Er hatte sich vorgestellt, wie Lisa, Sarah und er gemeinsam in einem anderen Dorf ein kleines Haus instand setzten, und dabei einen großen Frieden verspürt. Vielleicht würden sie sogar ein Kind bekommen. Eine kleine Schwester für Sarah.
Lisa hatte ihn zuerst angelächelt, aber dann wurde ihr Gesicht traurig. Ich kann Sarah und ihren Vater nicht voneinander trennen, hatte sie gesagt, und ohne Sarah kann ich auch nicht sein. Kurz darauf hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie sich aus dem Weg gehen müssten.
Und doch hatte sie ihn am Fest wieder nach dem Mond gefragt. Ludwig blickte auf den Mondkalender, der an der Wand hing und jetzt nur noch drei Jahre in die Zukunft reichte. Er hatte die Seiten aus einem Astronomiebuch gerissen und aufgehängt, als er neu in das Haus gezogen war. Damals hatte er noch gedacht, dass der Mond bestimmt wieder klar am Himmel sichtbar sein würde, wenn er zum Ende des Kalenders kam, und dass er dann wissen würde, ob sie im Dorf das Datum richtig geschätzt hatten oder nicht.
Das Leben ist kurz, hatte Lisa einmal gesagt, wie um ihn zu trösten. Aber das stimmte nicht. Alle sagten, dass die Zeit schneller vorbeiging, wenn man älter wurde. Ihm schien eher, dass sie zunehmend stockte. Besonders im Winter, wenn man krank war, aus dem Fenster schaute und zusah, wie unendlich langsam am Morgen der Tag anbrach und wie lange es dauerte, bis der Nachmittag wieder in die Dämmerung überging.
Plastik
Nathanael streifte seine Schuhe und seine Jacke ab, betrat das Wohnzimmer und warf seine Tasche auf den Boden.
»Willst du, dass sich jemand den Hals bricht?«, fragte die Mutter. »Nimm die Tasche da weg.«
Sie saß mit Elias am Stubentisch, vor ihnen ein Blatt mit Rechenaufgaben. Wie ungerecht sie war. Ihn nahm sie von der Schule und Elias half sie beim Rechnen.
Nathanael hob die Tasche wieder auf, er spürte darin das Gewicht des Buches, das Hendrik ihm ausgeliehen hatte. Praktische Theologie.
»Ich hasse Hendrik«, sagte er.
»Was fällt dir ein!«, rief die Mutter. »Hendrik ist der gütigste Mensch, den ich kenne.«
»Ich hasse sein Büro und ich hasse seine dummen Bücher.«
»Ich warne dich«, sagte die Mutter.
Elias begann zu lachen. Die Mutter beachtete ihn nicht. Wieso konnte sich Elias alles erlauben? Nathanael wusste nicht einmal, ob Elias sich über ihn oder über die Mutter lustig machte.
»Geh auf dein Zimmer und denk nach, wie du weitermachen willst«, sagte die Mutter. »Du kannst auch zu deinem Vater in die Lehre gehen und Metzger werden. Elias, fang noch mal von vorn an.«
Nathanael schleppte sich die Treppe nach oben in sein Zimmer und schleuderte die Tasche mit dem Buch in eine Ecke. Er hoffte, dass es dort zu Staub zerfallen würde, es war sowieso schon alt. Wie eintönig und anstrengend das Leben geworden war, seit er nicht mehr in die Schule durfte.
Jetzt gab es nur noch Hendrik. Zu Beginn war er ja noch ganz freundlich gewesen. Doch mit jeder kritischen Nachfrage Nathanaels verlor er ein wenig mehr die Geduld. Heute hatte er gesagt, Nathanael müsse sich selbst auseinandernehmen und dann von Grund auf neu erschaffen, und dass er das immer schon gewusst habe, schon damals, als Nathanael ein kleiner Junge gewesen war und seinen Eltern nicht gehorcht hatte. Es fiel Nathanael schwer, das von sich zu weisen. Vielleicht erkannte Hendrik wirklich etwas in ihm, das schon immer da gewesen war. Er hatte etwas Kaltes an sich, das wusste Nathanael, etwas, das es möglich machte, dass er seinen Kinderglauben verloren hatte und dass er seine Eltern manchmal für ihre tiefe Religiosität verachtete. Seine eigenen Eltern. Nathanael legte sich aufs Bett. Er schaute an die Decke und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Weinen half nicht.
Die Mutter machte die Tür auf und blieb im Türrahmen stehen. Nathanael studierte die Schatten an der gemaserten Zimmerdecke. Vielleicht würde sie wieder gehen, wenn er sich nicht rührte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie eintrat.
»Hör zu«, sagte sie und blieb auf halbem Weg zwischen Tür und Bett stehen. »In der ersten Zeit nach dem Tag Null waren Vater und ich ständig am Rand der Verzweiflung. Es gab nicht genug zu essen und es war kalt. Der Himmel war viel dunkler als jetzt. Eines Tages klopfte es an unsere Tür. Da warst du gerade zwei Jahre alt. Es regnete in Strömen. Draußen stand Hendrik, halb verhungert, triefnass. Mit Armen, so dünn wie die eines Kindes. Doch seine Augen strahlten. Er sprach von Gott und der Prophetin, von der ich damals noch nie gehört hatte, und ich spürte, dass sich unser Leben verändern würde. Ich ließ ihn herein, gegen Vaters Protest. Hendriks Hände glühten.«
»Ich weiß«, sagte Nathanael. Diese Geschichte hatte er schon tausend Mal gehört. Früher hatte er sich vorgestellt, dass die Hände des Predigers im Halbdunkel leuchteten, wie kühles Feuer, aber heute glaubte er nicht mehr daran. Hendrik hatte die Abschrift des Evangeliums bei sich getragen, in Plastik eingepackt. Die Mutter bewahrte die Plastikhülle bis heute auf, sie lag im schönen Schrank in der Küche. Die Abschrift selbst, verschmiert und jedes Jahr weniger lesbar, weil die Leute sie gerne berührten, lag in einem Holzschrein im Versammlungsraum.
»Wir haben sein Leben gerettet«, sagte die Mutter. »Und er unsere Seelen.«
»Ich weiß«, sagte Nathanael wieder. Wieso konnte sie nicht gehen und ihn in Ruhe lassen?
»Sei ihm dankbar, Nathanael, gerade du solltest ihm dankbar sein«, sagte sie. »Wir wollten aufgeben. Wir dachten, es gäbe keine Zukunft. Vater und ich hatten entschieden, dich auszusetzen. Besser, als zu dritt zu verhungern.«
Jetzt wandte Nathanael den Kopf der Mutter zu. Ihre Stirn war voller Falten, noch nie hatte sie so alt ausgesehen. Nathanael packte ein solcher Zorn auf diese Frau, die sich andauernd in sein Leben einmischte und ihn bevormundete, dass er kaum atmen konnte.
Hendrik hatte recht. Er war nicht fähig zu lieben. Er liebte nicht einmal die eigene Mutter. Sie hätte ihn also ausgesetzt, wenn Hendrik nicht gekommen wäre. Oder log sie ihn nur an, um ihn dazu zu bringen, Hendrik zu mögen? Er wusste nicht, was schlimmer wäre.
Du bist ein oberflächlicher Mensch, hatte Hendrik gesagt, oberflächliche Menschen kommen leicht vom Glauben ab. Vielleicht stimmte es. Und wenn schon. Nathanael drehte seinen Kopf mit einem Ruck wieder zur Wand. Er hasste Hendrik und die Mutter gleichermaßen. Die Mutter sagte nichts mehr. Schließlich hörte er sie davongehen.
China
»Haben Sie sich meine Hausaufgaben angesehen?« Nathanael stand vor der Tür und blickte sich nervös um. Er ist dünner geworden, dachte Ludwig. Eiskalte Winterluft strich um seine Beine. Als er vom Klopfen geweckt worden war, hatte er vermutet, es sei wieder eine Schülerin, die ihm auf Geheiß ihrer Mutter Essensreste brachte, obwohl er ausdrücklich gesagt hatte, dass er das nicht wollte, auch nicht, wenn er krank war. Sie verstanden einfach nicht, dass er sich lieber von altem Brot ernährte als vom Essen seiner Schüler.
»Komm rein, ich hol mir den Tod«, sagte Ludwig.
Der Junge zögerte, und Ludwig dachte schon, er müsse ihn ein zweites Mal auffordern, doch dann betrat Nathanael endlich das Haus. Er war noch nie hier gewesen. Ludwig sah sein Wohnzimmer mit Nathanaels Augen und schämte sich. Auf dem Bett lagen mehrere zerschlissene Decken. Schmutziges Geschirr stand auf dem Boden. Ludwig hatte nicht die Kraft gehabt, Wasser aus dem Brunnen zu holen, um das Geschirr zu waschen. Außerdem klebten ihm die Haare am Kopf. Die Holzbretter, mit denen der Boden bedeckt war, knarrten bei jedem Schritt. Ludwig hatte sie auslegen müssen, weil die Rohre der Bodenheizung geplatzt waren.
»Was willst du hier«, sagte Ludwig. »Du steckst dich an.« Ludwig fühlte sich schwach. Er setzte sich auf sein Bett. »Ich kann deine Hausaufgaben nicht korrigieren. Deine Eltern haben es verboten.«
»Das ist nicht fair«, sagte Nathanael. »Ich glaube nicht mal an Gott.«
»Hast du das deinen Eltern gesagt?«
»Natürlich nicht.«
»Ich kann dir nicht helfen. Tut mir leid.«
Nathanael schwieg für einen Moment. »Ich gehe nach China«, sagte er dann.
Ludwig legte sich hin und zog die Decke über sich. »Lass mich jetzt mit deinen Dummheiten in Ruhe, Nathanael. Ich bin krank.«
»Ich meine es ernst. In China gibt es Strom. Sonst würde Lisas Radio nicht dorthin senden.«
»Von dort empfangen, Nathanael. Hast du nicht aufgepasst?«
»Das meinte ich doch. In China gibt es Strom. Also gibt es dort auch noch Medizin. Medikamente. Es sind siebentausendfünfhundert Kilometer, ich habe es im Atlas nachgeschlagen. Weniger als zwei Jahre zu Fuß. Den Rand von Nord 1 erreiche ich in ein paar Stunden, danach kommt schon bald Ost 2, und dahinter wird es nicht anders sein als hier. Das schaffe ich! Besser als Kartoffeln ausgraben und Hendriks Predigten ertragen.«
»Wenn du das Dorf verlässt, wirst du sterben.«
Nathanael schaute ihn ungerührt an.
»Ich muss hier weg.«
»Wenigstens haben wir zu essen. Vielleicht wird es irgendwann wieder besser für uns alle. Irgendwo entsteht wieder eine Macht, die uns erobern wird, meinetwegen sogar die Russen. Ich verneige mich vor jedem, solange er uns nur wieder Benzin und Medikamente bringt und die Straßen repariert. Dieser Sender in China könnte auch mit einer Plutoniumbatterie betrieben werden und ohne menschliches Zutun aufgezeichnete Musikstücke senden. Lisa sagt, sie hat nie jemanden reden hören. Bleib hier und warte ab, wie wir alle.«
»Warten! Das ist alles, was Sie tun!«
Ludwig schwieg und sah Nathanael an. Etwas in seinem Blick war anders als früher. Schließlich senkte Nathanael die Augen. Wortlos wandte er sich um, ging zur Tür und riss sie auf.
Ludwigs Herz klopfte noch immer, nachdem Nathanael die Tür schon längst geschlossen hatte und die Kälte, die er hereingelassen hatte, langsam nachließ.
Er drehte sich zur Wand. Es stimmte, während man wartete, dass die Dinge endlich besser wurden, ging das Leben vorüber. Jede neue Erkältung schien schwerer abzuschütteln zu sein als die letzte, und seine Müdigkeit wurde mit jedem Jahr tiefer. Immer dachte er, er würde sich im Sommer vom Winter erholen, aber wenn der Winter dann wiederkam, merkte er, dass ihm der letzte noch in den Knochen saß, so als hörte er in Wahrheit nie auf und überdauerte tief in ihm den ganzen Sommer.
Von fern spürte Ludwig wieder den alten Zorn, von dem er geglaubt hatte, ihn längst überwunden zu haben. Den Zorn auf alles, was schiefgegangen war. Er war arglos durch sein Leben gegangen, Ziele vor Augen, die damals alle für leicht erreichbar hielten, seine Lehrer, seine Eltern. Er würde einige Jahre in New York arbeiten, das Praktikum bei der Großbank dort hatte er dank seines Abschlusses in Informatik leicht bekommen, und bestimmt würde er danach eine interessante Stelle finden. Er hatte sich bereits nach Wohnungen im East Village umgeschaut und ausgerechnet, dass er sich mit seinen Ersparnissen von der Arbeit im IT-Callcenter und dem Praktikumslohn eine kleine Wohnung gerade eben so würde leisten können. Er würde über neunzig Jahre alt werden, ohne je viel Schmerzen zu leiden, an jeder Ecke würde ein Arzt oder ein Therapeut warten, der ihm, wenn nötig, zuhörte und half. Er würde sich immer wieder neu erfinden, wenn er seines Lebens überdrüssig wurde, hierhin und dorthin reisen, alles ausprobieren, von allem kosten. Doch bevor er damit überhaupt hatte anfangen können, war der Himmel schwarz geworden. Nur Sekunden später war der Strom ausgefallen, und die Mobilgeräte hatten keinen Empfang mehr gehabt. Fassungslos hatten sie irgendwann verstanden, dass er nicht zurückkehren würde, während es mit jeder Stunde kälter wurde. Und die Versprechen, nach denen er sein Leben ausgerichtet hatte, waren zur Lüge geworden. Sie alle mussten damit leben, auch wenn es einige gab, die so taten, als wäre es nie anders gewesen, oder wie Petra sogar behaupteten, die Katastrophe habe die Welt verbessert. Heute schien im ganzen Dorf und der Umgebung nur einer dazu entschlossen, zurück in die Zivilisation zu finden, Nathanael. Aber es gibt sie nicht mehr, dachte Ludwig. Sie ist nicht unter der Erde vergraben, sie hat nicht auf einem anderen Kontinent überlebt. Zwischen uns und der Zivilisation klafft der größte Abgrund, den es gibt, der Abgrund der Zeit. Nathanael war zu jung, um das zu begreifen.