Kitabı oku: «Die Erinnerung an unbekannte Städte», sayfa 3
Winterschals
Nathanael stand vor dem Versammlungshaus und vergrub die Hände in den Taschen seines Wintermantels. Der Schnee tanzte in der Luft wie Staub. Die anderen Gläubigen hatten sich voneinander verabschiedet, waren nach Hause gegangen, um zu Mittag zu essen, und hatten die Straßen des Dorfs leer zurückgelassen. Samuel war mit seinen Freunden davongerannt. Dabei hätte Nathanael ihn gerne gefragt, was Elias auf dem Dorffest getrieben hatte, nachdem er selbst es verlassen hatte. Wie hatte ihr Bruder nur so viel Wein trinken können?
Auf dem Hinweg hatte er Samuel nicht ausfragen können, weil Vanessa hinter ihnen gegangen war und sie hätte hören können. Sie war trotz der Kälte draußen unterwegs gewesen und hatte sich ihnen an die Fersen geheftet. Vielleicht nur, um sie zu ärgern, vielleicht, weil sie im Versammlungshaus etwas zu essen klauen wollte.
»Hast du Hausarrest, Nathanamehl?«, hatte sie gerufen.
In der Unterstufe war das einer seiner Spitznamen gewesen, aber niemand sonst nannte ihn jetzt noch so. Nathanael hatte nicht geantwortet. Samuel hatte dümmlich gekichert. Dann war sie plötzlich weg gewesen.
Nathanael dachte an das bleiche Gesicht der Mutter am Morgen. Vermutlich hatten sich die Eltern in der Nacht wieder gestritten, nachdem ihre Sorge um Elias nachgelassen hatte. Nathanael hatte nichts gehört, aber das musste nichts heißen. Die Eltern stritten sich oft in der Nacht, im Flüsterton, mit zischenden Lauten. Manchmal hörte man den Vater mit der flachen Hand auf eine Oberfläche schlagen. »Hör auf«, sagte die Mutter dann halblaut.
Nathanael wusste nicht, worüber die Eltern stritten, aber er vermutete, dass die Mutter meistens recht hatte. Wahrscheinlich kamen die Streitereien daher, dass der Vater etwas, was er hätte erledigen sollen, nicht getan hatte. Es gab Tage, da legte er sich auf sein Bett und reagierte auf keine Ansprache. »Er hat eine Laune«, sagte die Mutter dann, »lasst ihn in Ruhe.« Sie tat, als störte es sie nicht, aber sie antwortete den Söhnen in diesen Zeiten nur knapp und verlor schnell die Nerven mit Elias.
Nathanael stellte sich vor, wie es wäre, wenn das Haus nicht mehr stünde, wenn er heimkam. Wenn Elias es angezündet hätte, aus Rache, weil der Vater ihm eine Ohrfeige gegeben hatte, und er nur noch eine rauchende Ruine vorfände.
Wieso dachte er nur solche Dinge? Elias würde bestimmt verstockt und schweigsam sein, wenn Nathanael heimkam, aber er war nicht so dumm, wie die Eltern immer sagten. Nie würde er sein eigenes Haus anzünden.
Es war kalt, viel länger konnte er nicht mehr hier draußen herumstehen. Vielleicht konnte er in die Schule gehen und dort für eine Weile seine Ruhe haben? Aber auch dort war es am Wochenende eisig, wenn die Feuer nicht brannten. Oder zurück in den Versammlungsraum? Dort bestand allerdings die Gefahr, dass er Hendrik antraf und dieser mit ihm reden wollte.
Zögernd machte er sich auf den Heimweg. Als er an Grubers Haus vorbeikam, überlegte er, anzuklopfen. Doch als er durchs Fenster schaute, sah er keine brennenden Öllampen und keine Bewegung.
Er hörte gedämpfte, schnelle Schritte im Schnee und blieb stehen. Auch das noch. Schon wieder Vanessa. Sie trug einen dicken Wintermantel und mehrere Schals um den Kopf gewickelt. Möglicherweise waren das die Schals, die einige Leute nach der Predigt nicht mehr hatten finden können. Aber er war sich nicht sicher.
»Haben sie dich aus der Schule genommen?«, hörte er Vanessa durch den Stoff fragen. Sie klang nicht mehr so spöttisch wie vorher.
Nathanael blieb stehen.
»Ja«, sagte er.
»Arschlöcher«, sagte Vanessa und zog die Schals etwas nach unten, fort vom Mund.
Nathanael mochte den Klang des Wortes, er unterdrückte ein Lächeln. »Es ist nur für eine Woche«, sagte er.
»Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte Vanessa.
»Lass mich in Ruhe«, sagte Nathanael. Was wusste sie schon? Seine Eltern würden sich umstimmen lassen. Jetzt wollte er nach Hause.
Nach ein paar Schritten traf ihn ein Schneeball am Hinterkopf. Es tat nicht weh, sie hatte ihn nicht fest geworfen, und er drehte sich nicht um. Die Kälte drang durch seine Mütze. Als er schließlich doch stehen blieb und sich umdrehte, war niemand mehr zu sehen.
Bibliothek
Ludwig wusste nicht, wie lange er schon unterwegs war. Endlich machten die schneebedeckten Äcker den ersten verfallenen Häusern Platz. Diese bildeten einen Ring von Ruinen um das bewohnte Zentrum des Nachbardorfs. Sie stammten aus dem Bauboom, der in Ludwigs Kindheit von seinen Eltern bitter beklagt worden war. Heute waren alle Fensterscheiben zerbrochen oder entfernt. Viele Dächer waren eingestürzt, den anderen fehlten die Ziegel, weil man damit die Dächer der bewohnten Häuser ausgebessert hatte. Ludwig dachte daran, wie es in den Häusern aussah, an die gesprungenen Flatscreens, den Schutt, die Brandspuren, die von Nässe vollgesogenen Teppiche, den Geruch nach Beton und Zerfall. Aus einem dieser Häuser hatte er einen schwarzen Ledersessel für sein Wohnzimmer mitgenommen und ihn auf einem Leiterwagen den ganzen Weg nach Hause gezogen. Am Straßenrand standen noch Autos, vollkommen verrostet und ohne Reifen. Mit jedem Jahr blieb weniger von ihnen übrig, sie sanken tiefer und tiefer, als würden sie sich im Zeitlupentempo verflüssigen, bis sie ganz im Boden versickert wären.
Die Bibliothek war nicht größer als ein Wohnzimmer, aber randvoll mit Büchern in unterschiedlichstem Zustand. Sie standen und lagen auf Metallregalen. Graues Winterlicht fiel durch das eine Fenster, das noch eine Scheibe hatte, die anderen beiden waren mit Brettern zugenagelt und mit Teer abgedichtet, sodass kein Lufthauch hindurchdrang. Lange zerschlissene Vorhänge säumten die Fenster. Walter sei einkaufen gegangen, hatte der Nachbarjunge gesagt, er komme bald zurück.
Ludwig ging zwischen den Regalen umher. Walter hatte die Bücher nicht nach Themen geordnet, sondern nach Verfassernamen. Einzig die Bücher über Landwirtschaft und Technik bewahrte er getrennt auf. Sie waren im dicken Stahlschrank eingeschlossen, der in einer Ecke stand und zu dem nur Walter einen Schlüssel hatte. Er hatte Ludwig verraten, dass er diesen in einem eingesägten Fach in seinem Bettpfosten versteckte.
Die Luft war stickig vom Staub und dem Geruch nach altem Papier. Ludwig schritt die Regale entlang und suchte mit den Augen die Titel ab. Irgendwo musste sich doch noch eine Ausgabe von den Buddenbrooks befinden. Stattdessen sah er in einem oberen Fach ein Buch liegen, das ihm bislang nie aufgefallen war, vielleicht war es der Bibliothek gerade erst geschenkt worden. Es hieß Folge deinen Träumen, und das Titelbild zeigte einen blassen Regenbogen, vor dem ein Heißluftballon schwebte. Ludwig schlug es auf und begann in der Mitte eines Kapitels zu lesen. Darin ging es um einen Banker, der ein mittelgroßes Team leitete, sich aber zunehmend unglücklich fühlte und unter Tinnitus litt. Im Behandlungszimmer des Autors, eines Harvard-Psychologen, starrte er vor sich hin und sagte, er habe keine Ahnung, was er mit seinem Leben noch anfangen solle. Erst nach mehreren Sitzungen –
»Ludwig!«, ertönte eine laute Stimme.
Schmelzender Schnee tropfte von Walters Mantel. In der Hand hielt Walter stolz ein duftendes dunkles Brot. Ludwig wurde beinahe schlecht vor Hunger, er legte das Buch zurück und folgte seinem Freund in die kleine Küche.
»Was gibt es Neues bei euch?«, fragte Walter und stellte zwei Teller auf den schiefen Tisch, in die er eine Scheibe Brot und ein Stück Schafskäse legte. Er winkte Ludwig heran.
»Petra hat Nathanael von der Schule genommen«, sagte Ludwig und ließ sich auf den Stuhl fallen.
»Wundert mich nicht.« Walter füllte zwei Gläser mit Wasser und setzte sich Ludwig gegenüber. »Guten Appetit.«
»Es war wegen dem Anatomiebuch«, sagte Ludwig mit halb vollem Mund.
Walter schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
»Hätte ich es ihm nicht geben sollen? Dann hätte sie einen anderen Grund gefunden.«
»Ich wünschte einfach, er wäre ein paar Monate länger in der Schule geblieben«, antwortete Ludwig.
»Hat er das Buch noch? Oder hat sie es in den Kamin geschmissen?«
»Sie hat es mir vor die Füße geworfen. Ich habe vergessen, es einzupacken. Das nächste Mal bringe ich es mit.«
»Gut. Zu dumm, dass er sich damit hat erwischen lassen.«
»Vielleicht überlegt Petra es sich noch einmal«, sagte Ludwig.
»Das bezweifle ich«, antwortete Walter.
»Was soll jetzt aus ihm werden?«
Walter rieb sich die Stirn. »In Italien gibt es angeblich wieder eine richtige Universität. Hast du davon gehört? In Mailand. Mit einer Fakultät für Medizin. Das Politecnico. Sie machen Fortschritte dort, heißt es.«
»Erzähl ihm ja nichts davon.«
»Natürlich nicht. Was denkst du? Aber es ist eine Schande.«
»Ich weiß«, sagte Ludwig.
Die beiden schwiegen eine Weile und aßen. Das Brot schmeckte gut, nach Rauch und Roggen.
»Das Salz geht aus, aber das weißt du ja«, sagte Ludwig und schob den Teller von sich. »Das Papier auch. Und bevor ich es vergesse: Selina ist gestorben.«
Walter stand auf. »Das wusste ich nicht.« Er holte das schwere Buch, das auf der Anrichte lag, und setzte sich wieder. Sein Füller kratzte über die Seite. Walter hatte die Dorfchronik schon begonnen, als alle anderen noch mit dem schieren Überleben beschäftigt gewesen waren. Manchmal nahm ihm Ludwig übel, mit welcher Kälte er die Ereignisse festhielt. Der Tod war nur eine Zeile in seinem Buch. Aber heute störte es ihn nicht.
»Woran ist sie denn gestorben?«, fragte Walter.
»Wir wissen es nicht. Sie war alt«, antwortete Ludwig.
Walter legte das Buch weg, nahm sich ein Stück Brot und schwieg. Selina war neunundsechzig gewesen, und Walter war nur drei Jahre jünger, fiel Ludwig ein.
»Weißt du, wer noch gestorben ist?«, fragte Walter. Er schaute Ludwig an, als hätte er gute Nachrichten. Er legte das Stück Brot wieder auf den Teller.
»Nein, wer denn?«
»Die Prophetin.«
»Ach, gab es die überhaupt?«, fragte Ludwig. Sie war ihm immer vorgekommen wie ein Hirngespinst von Hendrik.
»Natürlich«, sagte Walter. »Irgendjemand muss sich diesen ganzen Unsinn doch ausgedacht haben. Die Gläubigen behaupteten ja eine Zeit lang, sie hätte unterdessen im Wald gelebt, aber das kam mir immer komisch vor. Bei der Zentrale haben sie nun glaubwürdige Nachrichten erhalten. Man sagt, sie hätte den letzten Rest Verstand verloren und sei tatsächlich in den Wald davongerannt. Schon im Herbst. Und kürzlich hätten ihre Anhänger sie dann dort gefunden. Tot.«
Ludwig schüttelte den Kopf. »Das wird nichts ändern. Oder?«
»Nein«, sagte Walter. »Sie werden glauben, dass sie jetzt im Himmel ist und dort neben Jesus auf uns herunterschaut oder so etwas.«
Walter kaute schweigend sein Brot und sah Ludwig erwartungsvoll an.
»Lisa liest die Buddenbrooks«, sagte Ludwig und lächelte unwillkürlich.
»Tut sie das«, sagte Walter.
»Ich möchte mir das Buch von dir ausleihen.«
»Kann sie dir nicht ihres geben?«
Ludwig fuhr sich durch die Haare. »Ich möchte es ihr nicht wegnehmen.«
Walter stand auf und brachte eine Karaffe mit Wasser an den Tisch. Er schenkte sich und Ludwig ein.
»Lass das endlich sein«, sagte Walter.
»Was?«
»Lisa.«
»Fängst du schon wieder damit an?« Ludwig stand auf.
Walter hob die Schultern und öffnete den Mund, aber Ludwig hatte keine Lust zu hören, was er zu sagen hatte.
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, sagte er, ließ Walter in der Küche sitzen und ging zurück in die Bibliothek. Er konnte das Buch nicht finden. Er schaute in der Kartei nach, obwohl er wusste, dass Walter es nicht gerne hatte, wenn man das tat. Es war ausgeliehen, und zwar seit drei Monaten, weit über den Termin hinaus, von einem Schulkind, das es vermutlich in einem Schulsack verschimmeln ließ.
»Hier findet man ja nichts!«, rief Ludwig. Er lauschte eine Weile, aber Walter gab keine Antwort. Ludwig riss seinen Mantel vom Haken, streifte ihn im Gehen über, öffnete die Tür und ging nach draußen, ohne sich zu verabschieden. Es schneite nun heftiger, in dicken, nassen Flocken.
Es war gefährlich, bei diesem Wetter so weit zu gehen. Würde der Schneefall noch dichter, war die Gefahr groß, sich zu verirren und zu erfrieren; er wäre nicht der Erste, dem das passierte. Bei Walter bleiben wollte er aber nicht, er musste heute in seinem Bett schlafen, die eigene Tür hinter sich schließen. Die Wut auf Walter, der sich mal wieder in sein Leben einmischen wollte, würde ihn warm halten.
Während er den steilen Anstieg hinter Walters Dorf hinaufging, dachte Ludwig an das Buch über die Träume, denen man folgen sollte. Hätte er es nur eingesteckt. Er mochte es, hie und da über die Sorgen von früher zu lesen. Es lenkte ihn ab und erinnerte ihn an seine Jugend. Daran, wie die Welt für ihn ausgesehen hatte damals, voller Möglichkeiten, von denen man die eine oder andere in die Hand nehmen, ausprobieren und wieder verwerfen konnte, so als suchte man ein Buch in einer Bibliothek aus.
Kartoffeln
Nathanaels Einkäufe vom Wochenmarkt waren nicht schwer, bei jedem Schritt schwang die Tasche hin und her. Der Boden war mit Schnee bedeckt, aber der Wind war heute weniger kalt als gestern, und es roch schwach nach Erde und Frühling.
Als er zum Schulhaus kam, blieb er stehen. Im oberen Stock sah er Gruber, der gerade die äußere Reihe der Pulte entlangging. Seine Bewegung ließ die Öllämpchen auf den Schreibtischen flackern. Im Erdgeschoss befanden sich alle Kinder der unteren Klassen zusammen in einem Zimmer. Kerzen standen auf dem Fenstersims. Die Kinder rannten im Raum herum, vielleicht spielten sie ein Spiel. Sina, die Lehrerin der jüngeren, stand an der Stirnseite des Zimmers zu einem Kind hinuntergebeugt. War es Elias? Nathanael konnte es nicht deutlich sehen. Die Fenster aller anderen Schulzimmer waren dunkel. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass die Schule vor langer Zeit einmal voll mit Kindern gewesen war. Im oberen Stock standen die ersten Schüler von ihren Pulten auf, sicher machten sie bald Pause. Er musste sich beeilen, er wollte seinen Klassenkameraden nicht begegnen und sich ihre Fragen anhören müssen.
Nathanael ließ das Schulhaus hinter sich. Bestimmt würde er bald zurück in die Schule dürfen. Die Mutter war heute gut gelaunt. Sie hatte ihn ausschlafen lassen und ihm nur leichte Aufgaben gegeben. Einkaufen und beim Mittagessen helfen.
Auf dem Küchentisch lag bereits ein Haufen Kartoffeln, daneben die Schälmesser. Das Herdfeuer brannte, darüber hing ein Topf mit Wasser. Die Mutter ging in der Küche umher, öffnete Schubladen und sang leise vor sich hin. »Herr unser Erlöser …« Das Lied hatte eine seltsame Melodie, angeblich von der Prophetin selbst komponiert. Die Mutter lächelte Nathanael an.
»Vielen Dank«, sagte sie und nahm das Brot, die Wurst und die Milch aus seiner Tasche. Sie deutete auf den leeren Stuhl vor den Kartoffeln. »Ich habe Tee gemacht.« Sie stellte zwei Teetassen auf den Tisch und setzte sich neben ihn. Es roch nach getrockneten Kräutern und Erde. Nathanael nahm eine Kartoffel in die Hand und begann sie zu schälen.
»Wie geht es dir?«, fragte die Mutter, während auch sie mit schnellen Bewegungen eine Kartoffel schälte.
»Gut«, antwortete Nathanael, ohne sie anzusehen.
»Ich habe Neuigkeiten für dich.«
Nathanaels Herz klopfte schneller.
»Ich habe mit Hendrik gesprochen«, fuhr die Mutter fort. »Ich habe ihn daran erinnert, dass du schon mit zehn das Evangelium auswendig konntest.«
Nathanael schwieg.
»Er hat sich bereit erklärt, dich zu unterrichten. Zwölf Stunden pro Woche. Nur du und er.« Die Mutter lächelte, ihre Augen leuchteten. »Obwohl er so viel zu tun hat.«
Nathanael ließ die halb geschälte Kartoffel fallen und warf das Rüstmesser hin.
»Ich will aber zurück in die Schule.«
»Lass mich ausreden. Wenn du bei Hendrik in den Unterricht gehst, kannst du selbst Prediger werden.«
»Wir haben doch ihn.«
»Du kannst als Missionar in ein anderes Dorf gehen. Du wirst ein gutes Leben haben.«
Nathanael schwieg.
»Du bist erst fünfzehn. Du denkst dir, es wäre schön, Menschen zu heilen. Ich wollte früher auch Menschen helfen. Aber jetzt weiß ich, dass sie einzig und allein Gottes Hilfe brauchen.«
»Aber …«, sagte Nathanael.
Die Mutter unterbrach ihn. »Ärzte machen nichts anderes, als den Menschen beim Sterben zuzusehen. Es stinkt, Blut fließt, alles ist hoffnungslos, die Angehörigen schreien dich an. Es ist der schrecklichste Beruf, den es gibt.«
»Früher war das anders.«
»Früher war alles anders. Früher hatten die Menschen einen Pakt mit dem Teufel. Sie lebten länger, aber sie waren unglücklich und nahmen Medikamente, die ihre Seelen vergifteten. Jeder hatte Angst vor dem Tod. Heute haben wir keine Angst mehr.«
»Ich habe Angst.«
»Ein Glaube, der nie durch Zweifel geprüft wurde, ist nichts wert. Als ich so alt war wie du, habe ich auch an allem gezweifelt. Ich konnte mir nicht vorstellen, so zu leben wie meine Eltern.«
»Du lebst ja auch nicht wie sie«, sagte Nathanael.
»Zum Glück.« Die Mutter stand auf. Sie warf die geschälten Kartoffeln in einen Topf. Sie lächelte und schaute über seinen Kopf hinweg. »Du wirst ein guter Prediger werden.«
Spinnen
Ludwig saß am Küchentisch und studierte ein Schaubild, das den Körperbau einer Spinne zeigte. Je länger er es betrachtete, desto weniger sah es aus wie ein Lebewesen. Stattdessen ähnelte es einem Wegnetz, das in viel zu viele verschiedene Richtungen verlief. Eine Kreuzung mit einem Vorderleib, einem Hinterleib und Tastorganen.
Dabei spürte er, wie seine Kehle langsam anschwoll. Schon am Morgen war er mit einem Kratzen im Hals aufgewacht.
Er wusste kaum etwas über Spinnen. Sein Biologielehrer am Gymnasium war ein verträumter, langsamer Mann mit Bart gewesen, dem er gerne zuhörte, solange es nicht um das Innere des Menschen ging. Und doch war ihm vom gesamten Biologieunterricht nichts geblieben. Das hatte er erst vor ein paar Jahren gemerkt, als er anfing, das Fach in der Dorfschule zu unterrichten.
Während des Studiums war er einmal bei einem Kollegen zu Hause gewesen, um zu lernen. In seinem dunklen und unaufgeräumten Schlafzimmer hatten mehrere Terrarien gestanden, in denen Vogelspinnen lauerten. Ihr Biss sei gar nicht so gefährlich, hatte der Kollege behauptet. Ludwig hatte sich die Vogelspinnen höflich angeschaut. Wie konnte der nur in diesem Zimmer schlafen? Er hatte ihn nie wieder besucht.
Ludwig hielt das Schaubild in der einen Hand und zeichnete es mit der anderen an der Tafel langsam nach. Die Tracheen, die Spinndrüsen und die Augen. Hinter sich hörte er das leise Schaben der Bleistifte. Er kam sich vor wie ein Hochstapler, als hätte er das Innere der Spinne frei erfunden, oder sei zumindest auf eine Erfindung hereingefallen.
Seine Kreide brach ab, er bückte sich danach und hörte die Schüler hinter sich tuscheln. Als er sich wieder aufrichtete, wurde ihm schwindlig. Er stützte sich mit der Hand an der kühlen Wandtafel ab und schloss kurz die Augen. Dann malte er weiter. Schweiß rann ihm über die Stirn, seine Nase kitzelte, und es war ihm egal, dass die Schüler lauter wurden. Nach einer Weile setzte er sich an sein Pult und sagte, sie sollten den Text aus dem Biologiebuch lesen, wenn sie mit dem Abzeichnen fertig waren. Sarah meldete sich.
»Ja, Sarah?«, sagte Ludwig.
»Spinnen sind eklig. Können wir stattdessen nicht lieber Schmetterlinge behandeln?«
»Schmetterlinge sind auch ekelhaft, wenn man sie sich genau anschaut«, warf Marion ein.
Marion saß neben Vanessa und schwieg meistens. Wenn sie doch einmal etwas sagte, schien es ein besonderes Gewicht zu tragen, und Ludwig hatte das Gefühl, darauf ermutigend reagieren zu müssen. Aber ihm fiel nichts ein.
Vanessa verdrehte die Augen. »Ich bringe ständig Spinnen auf der bloßen Hand nach draußen. Die beißen nicht.«
»Typisch«, sagte Sarah verächtlich.
Ihre Freundinnen lachten. Marion sank tief in ihren Stuhl. Vanessa schaute Ludwig wütend an. Aber was sollte er tun, er hatte keine Lust, noch mal eine Rede darüber zu halten, wie nützlich Spinnen waren und dass sie Wespen fingen, das hatte er alles schon gesagt.
Er bereute, keine Spinne in einem Glas mitgebracht zu haben, die er der Klasse zeigen konnte. Daran hätte er denken sollen. Aber jetzt im Winter gab es ohnehin nicht so viele. Ludwig unterdrückte ein Niesen, sein Kopf schmerzte immer stärker.
Sein Blick wanderte von der Klasse zur großen Landkarte an der Wand. Das Gebiet, in dem sich das Dorf befand, Nord 1, war blau eingezeichnet, daneben, verstreut über die Landschaft, die anderen Gebiete, Ost 2 in Gelb, Süd 1 in Rot, West 3 in Grün, dazwischen graue leere Landschaft. Im grauen Niemandsland lag auch die Stadt, in der er studiert hatte, er sah ihre Straßen noch vor sich, die Fassaden mit den eingemeißelten Statuen, die langen Busse, die Apotheken, in denen es diese kombinierten Grippemittel gab, die einen so wunderbar schlafen ließen.
»Pause«, verkündete er, obwohl es zu früh war.