Kitabı oku: «Die Erinnerung an unbekannte Städte», sayfa 5
II
FRÜHLING
Schachspielerin
Vanessa stieg vorsichtig die Treppe des Hochhauses nach oben. Im Staub auf den Stufen konnte sie ihre Fußabdrücke vom letzten Mal erkennen. Damals hatte sie Winterstiefel angehabt, jetzt trug sie ihre alten, von Stoffbändern zusammengehaltenen Turnschuhe. Im ersten Stock blieb Vanessa stehen und lauschte. Nichts war zu hören. Die Türen der drei Wohnungen standen offen. Sie sah in eine hinein. Der Boden war bedeckt mit aufgerissenen Müslipackungen, verbeulten elektrischen Geräten, Kleidern und Büchern. Dazwischen lag Mäusekot. Nichts hatte sich verändert, seit Vanessa das letzte Mal hier gewesen war. Irgendwann sollte sie die Kleider mitnehmen, reinigen und auf dem Markt als Lumpen verkaufen.
Vanessa ging weiter nach oben. Die Treppe war aus Stein, trotzdem sah der Winkel zwischen der Wand und den Stufen zunehmend verschoben aus. Auch im nächsten Stockwerk standen die Türen zu den Wohnungen offen. Vanessa blickte wieder in eine hinein. Durch ein Gitternetz von rostigen Stahldrähten sah sie in die offene Landschaft, Teile der Wand waren heruntergestürzt. Moos wuchs am Boden und bedeckte Formen, die an ein Sofa und einen Stuhl erinnerten. Efeu kletterte die Wände hoch.
Sie stieg ein weiteres Stockwerk hinauf, und noch eins. Die Stufen wurden glitschig, Vanessa musste sich an den Wänden abstützen, um nicht auszurutschen. Etwas tropfte auf ihre Hand. Vanessa roch daran. Es war nur Wasser. Ein Knacken ging durch die Treppe.
Im obersten Stockwerk, dem siebten, blieb Vanessa stehen. Sie griff in ihre Hosentasche. Darin lag kühl der Schlüssel. Sie schloss die Tür auf und stemmte sich dagegen, bis sie mit einem Ruck aufsprang. Der Rahmen sah nicht verzogen aus, dennoch klemmte die Tür jedes Mal mehr, sie sollte sie heute offen stehen lassen. Das Licht war gedämpft, Vanessa hatte die Rollläden halb heruntergelassen. Vor dem zerbrochenen Küchenfenster, das auf den Balkon führte, war der Rollladen ganz geschlossen, trotzdem kroch ein kühler Luftzug hindurch. Die Scherben lagen unberührt in der Ecke, in die sie sie gekehrt hatte.
Die Wohnung war vollständig in Schwarz und Weiß eingerichtet gewesen. Ein schwarzes Sofa, darunter ein weißer Teppich, der unterdessen gelb geworden war. Ein Couchtisch aus Glas, dick mit Staub bedeckt. Vergilbte Vorhänge, die unten einen schwarzen Rand hatten. An der Wand hing hinter Glas eine Zeichnung, auf der mit einer dünnen Linie die Umrisse einer nackten, dicken Frau nachgezeichnet waren. Wie immer ging Vanessa als Erstes zum Bild, wischte den Staub weg und betrachtete die Frau.
Auf dem Weg zur Küche fuhr sie mit der Hand über das staubbedeckte Bücherregal. Vanessa hatte einige der Bücher verkauft, keines hatte viel Geld abgeworfen. Die übrigen schienen wertlos. Nur erfundene Geschichten und viele Bücher über Mathematik.
In der Küche sah alles ordentlich aus. Sie hatte nichts stehen gelassen und die Schränke wieder geschlossen. Das verdorbene Essen hatte sie vom Balkon geworfen, das brauchbare mitgenommen, immer nur ein paar Gläser und Packungen auf einmal. Sie hatte sie zu Hause in ihrem Zimmer versteckt, damit sie sie hervorholen konnte, wenn die Mutter und sie nichts mehr zu essen hatten. Für ein Glas Oliven hatte sie auf dem Markt zehn Kronen bekommen, von denen sie einen Monat lang Brot und Milch kaufen konnten. Sie selbst hatte noch nie eine Olive gegessen. Sie schwammen in einer trüben Flüssigkeit. Dass einer je Olive eine halbe Krone ausgab, widerte sie an. Oliven seien obendrein sauer, hatte Marion gesagt.
Wie immer öffnete Vanessa die Schränke und sah sie durch. Jedes Mal fiel ihr etwas auf, das ihr bislang wertlos erschienen war und für das ihr dann doch eine Verwendung in den Sinn kam. Aber die Geschirrschränke waren unterdessen beinahe leer, nach und nach hatte ihr Inhalt die Töpfe zu Hause ersetzt. Hier stand noch ein Sieb. Es war sauber und wahrscheinlich etwas wert, Vanessa ließ es dennoch stehen.
Den Kühlschrank öffnete sie erst gar nicht; vermutlich war selbst der Schimmel, der ihn durchzogen hatte, mittlerweile abgestorben. Sie betrachtete das Schwarz-Weiß-Foto, das am Kühlschrank hing. Es zeigte eine Reihe Hochhäuser, von der Straße aus aufgenommen, wie Vanessa erst nach einer Weile verstanden hatte. Kein Leben war auf der Fotografie. Nichts als glänzende Fenster.
Vanessa ging ins Schlafzimmer. Diesen Raum mochte sie besonders. Das Doppelbett war schwarz bezogen, das Kopfkissen weiß. Sie dachte an die Frau, die hier geschlafen hatte, jede Nacht, ganz allein im Dunkeln.
In ihrer Vorstellung war die Frau etwa so alt wie ihre Mutter. Sie war schön und groß, hatte pechschwarze Haare und eine senkrechte Falte zwischen den Brauen. Sie sprach wenig, aber wenn sie etwas sagte, klang ihre Stimme laut und sicher. Von Beruf war sie offenbar Schachspielerin, denn im Schrank hatte Vanessa ein Schachbrett gefunden. Darum hatte sie ihre Wohnung auch schwarz-weiß eingerichtet. In ihrer vielen freien Zeit dachte die Frau über nutzlose Dinge nach, einfach, weil es ihr Freude machte. Erfundene Geschichten und Mathematik. Damals hatte man so gelebt. Reich war die Frau gewesen, so reich, wie es heute nur die Soldaten waren. Vanessa hatte einige Kleider der Frau anprobiert, aber sie hingen an ihr wie Säcke. Fast alle waren schwarz. Die Frau hatte eine große Menge an Schuhen mit Absätzen besessen, Größe zweiundvierzig. Vanessa und ihre Mutter hatten beide Größe neununddreißig. Auch die Schuhe waren fast alle schwarz, einige glitzerten. Sie hatte sie nicht verkaufen können, niemand wollte Schuhe mit Absätzen.
Staub wirbelte auf, als Vanessa sich auf das riesige Bett setzte. An der Wand hingen weitere Fotografien in Schwarz-Weiß, andere standen angelehnt am Boden. Die Frau war vielleicht nicht mehr dazugekommen, sie aufzuhängen. Den meisten Schmuck, den sie gefunden hatte, hatte Vanessa verkauft, vieles war wertlos gewesen, Plastik und Holz, wenig Silber. Nur einen schweren Goldring hatte sie auf dem Nachttisch zurückgelassen. Vanessa hatte ihn bislang nicht eingesteckt. Sie hatte immer gewusst, dass sie ihn würde holen müssen, bevor das Haus einstürzte, aber sie hatte sich auch eingebildet, das Haus würde stehen bleiben, solange der Goldring noch hier war. Sie dachte an Erwins fette Wangen und wie bewundernd die Mutter ihn anschaute, wenn er redete. Sie schüttelte sich und streifte sich den Goldring über den Daumen. Er saß viel zu locker.
Vanessa stand auf. Es war Zeit zu gehen. Trotzdem kurbelte sie den Rollladen in der Küche nach oben. Er quietschte und klemmte, etwas knallte, dann drehte die Kurbel leer, und der Laden bewegte sich nicht mehr. Vanessa kroch durch die Öffnung auf den Balkon. Die Luft draußen war kühl.
Von hier aus konnte man weit sehen. Der Wald wich durch die Abholzung immer weiter zurück und war von den Bauern durch Reihen von Tännchen ersetzt worden. Direkt neben dem Hochhaus lagen zwei Schutthalden. Die eine war schon alt, der Schutt dicht überwuchert. Zwischen den moosbedeckten Trümmern wuchsen kleine Birken, und zwei verbeulte Stahlgerüste ragten in die Höhe. Es war kaum noch erkennbar, dass hier ein Haus gestanden hatte, das wahrscheinlich ebenso hoch gewesen war wie das, auf dessen Balkon Vanessa stand. Die andere Schutthalde war frischer. Eine Wand stand unversehrt, die Fenster darin klafften wie Zahnlücken. Auch dieses hatte sieben Stockwerke. Das Donnern des Einsturzes hatte das ganze Dorf auf die Straße getrieben, Kinder hatten geschrien, die Erwachsenen hatten im Licht der Fackeln die Augen aufgerissen. So sieht Angst aus, hatte Vanessa gedacht, diese weiten Augen. Wie froh alle gewesen waren, dass es eines der leer stehenden Häuser war, das eingestürzt war. Seitdem war Vanessa die Einzige, die sich noch hertraute.
Das erste Mal, als sie in die Wohnung eingedrungen war, hatte sie den Weg über die Nachbarswohnung und diesen Balkon nehmen müssen, weil die Tür versperrt war. Als sie erst einmal drin war, hatte sie den Schlüssel für das Hauptschloss gleich finden können, aber es gab drei weitere Sicherheitsschlösser. Sie hatte in allen Schubladen gesucht, bis sie die Zweitschlüssel schließlich ganz weit hinten im Kleiderschrank in einem Glas mit Schraubdeckel gefunden hatte. Seltsam, dass die Schachspielerin so viel Angst gehabt hatte vor einem Einbruch. Vielleicht waren hier früher viele wertvolle Dinge gelagert gewesen, die sie alle mitgenommen hatte. Vanessa lehnte sich ans Balkongeländer und blickte nach unten auf den Vorplatz des Hauses. Mit dem Fuß schob sie eine einzelne Scherbe unter dem Geländer hindurch und zählte, bis sie mit einem fernen Klirren unten auftraf. Einundzwanzig, zweiundzwanzig.
Aussaat
Ludwigs Rücken schmerzte. Er blieb stehen und streckte sich. Vor ihm lag der rohe Acker, darüber türmten sich die Wolken. Es windete. Seine Schüler hatten ihn überholt und beugten sich weiter vorn über das Feld. In den Händen hielten sie verblichene Plastiksäcke, die im Wind flatterten und in die sie immer wieder griffen. Immerhin musste man den Mais nicht tief in die Erde stecken, zwei Zentimeter genügten, hatte Nima gesagt. Nima hatte alle Bücher über Landwirtschaft, die nicht von der Zentrale eingezogen worden waren und die er folglich in Walters Bibliothek finden konnte, gelesen. Auch wenn die einen veraltet, die anderen auf Französisch waren oder Seiten fehlten, habe er sich den Inhalt so leicht merken können, als sei er schon immer für die Landwirtschaft bestimmt gewesen, hatte er Ludwig erzählt. Nima hatte früher einmal in einem Büro gearbeitet und angeblich keinen Kaktus am Leben halten können.
Am Morgen hatten die Schüler gelacht und einander in den Acker gestoßen, jetzt waren sie ruhig. Morgen würden sie wieder in der Schule sitzen, er und die Schüler, erschöpft vom heutigen Tag, stiller als im Winter und doch unkonzentrierter, weil sie mit den Gedanken beim Mais wären und hofften, dass dieses Jahr der Pilz nicht kam. Fusarium. Ein Wort, das alle Schüler kannten. So wie Ludwig und seinen Studienkollegen die Namen der Computerviren vertraut gewesen waren, die sich von einem Tag auf den anderen überall verbreitet und sogar die damals ganz neuen Wearables erwischt hatten. Styx9 und Styx10. Er hatte sie beinahe so sehr gehasst wie heute den Fusarium, der im letzten Jahr die halbe Maisernte vernichtet hatte. Auf einer Dorfversammlung hatte Lisas Mann Michael behauptet, daran sehe man doch, dass Nimas Bücherwissen nutzlos war. Aber schließlich waren Nimas Bohnen und Kartoffeln doch besser gewachsen als die der anderen.
Ludwig warf einen prüfenden Blick in seinen Plastiksack. Bald würde er bei Nima mehr Saatgut holen müssen. Die Maiskörner waren feucht, Nima hatte sie eingeweicht. Auch der Boden war feucht, und seine alten Turnschuhe undicht, seine Fußsohlen fühlten sich klamm an. Was hätte er nicht für Wanderschuhe gegeben. Urs hatte welche. Wenn Urs starb, würde Ludwig Sina fragen, ob er die Schuhe haben konnte. Aber Urs war nicht gerade alt, so bald würde er nicht sterben, was dachte er da bloß? Die Wolken wanderten rasch über den weiten, gelblichweißen Himmel. In der Ferne flog ein Schwarm Krähen auf. Sie mussten dringend eine zweite Vogelscheuche bauen.
Am Abend würde er noch den Schulstoff für morgen vorbereiten müssen. Quadratische Gleichungen. Ludwig bückte sich und drückte zwei Maiskörner in den Boden. Je 75 Zentimeter Abstand zwischen den Reihen, in einer Reihe alle zehn Zentimeter ein Korn. Nur diese Mathematik war wichtig, sie war die Lösung für eine Gleichung, bei der es um alles ging.
Bei der Kartoffelaussaat vor einer Woche hatte Lisa auf demselben Feld gearbeitet wie er. Sie hatte einen blauen Rock getragen, der am Ende des Tages voller Erdflecken gewesen war. Sie hatten kaum miteinander gesprochen, ständig war jemand in der Nähe gewesen. Aber er sollte nicht an sie denken.
Ludwig spürte einen Druck auf den Ohren, schon seit dem frühen Morgen. Er fürchtete sich davor, wieder krank zu werden. Die Grippe im Winter hatte eine Müdigkeit hinterlassen, die er nicht abschütteln konnte. Vielleicht hatte sie seine Vitaminreserven aufgezehrt. Bestimmt hast du Magnesiummangel, hätte seine Mutter gesagt. Heute sprach niemand mehr von Magnesium. Womöglich enthielt der Mais welches. Nima hatte gesagt, Mais und Weizen, das könne man abwechseln, ohne sich um den Rest der Fruchtfolge zu scheren, der Boden lauge so nicht aus. Hoffentlich irrte er sich nicht.
Ludwig drückte ein weiteres Maiskorn mit dem Daumen in die kühle Erde. Nima hatte die Bodentemperatur jeden Tag gemessen. Endlich war sie über acht Grad gestiegen, warm genug für den Mais. Wenn der Boden kälter war, verdarben die Körner in der Erde. Gestern hatte Ludwig in seinem Gemüsegarten den Kohl gepflanzt, den er in seiner Stube in alten Gläsern hatte keimen lassen. Bislang sahen die Pflanzen gut aus mit ihren violetten Stängeln und ihren blaugrünen Blättern. Letztes Jahr war sein Kohl das erste Mal richtig gewachsen, er hatte jeden Tag nach ihm gesehen. All der Aufwand für ein paar wenige Mahlzeiten.
Die Wolken hatten sich aufgelöst, aber die Sonne war hinter der Staubschicht weitergewandert und das Licht hatte abgenommen. Der Wind war stärker geworden. Wie lang so ein Tag auf dem Acker war.
Seit dem Mittagessen lief ihm ein Lied nach. Er erinnerte sich nur an Satzfetzen, einzelne Zeilen, die sich wieder und wieder abspielten, in etwas anderes übergehen wollten und nicht konnten.
But you don’t really care for music, do you.
Alle waren erschöpft auf dem Boden gesessen und hatten schweigend gegessen. Da sagte Sarah mit vollem Mund »Hallelujah« und das Lied war aus den Tiefen seiner Erinnerung aufgetaucht.
Jeder Schritt schmerzte im Rücken. Wie schön es wäre, sich auf die kalte Erde sinken zu lassen und die Augen zu schließen. Die ersten Schüler waren schon heimgegangen. Zwei Reihen noch, und er hatte seinen Teil getan und konnte ebenfalls nach Hause. Nima würde zufrieden sein. Wie war das Lied nur weitergegangen? Vielleicht sollte er wieder einmal die verlassenen Häuser ums Nachbardorf herum durchsuchen, auch wenn sie drohten, einem über dem Kopf einzustürzen. Irgendwo musste es doch noch einen CD-Player und CDs geben. Ganz selten fand man auch noch halb leere Batterien. In seiner Kindheit hatte er selbst einen CD-Player besessen, danach waren die Lieder zu etwas Körperlosem geworden und das Gerät zu Elektroschrott. Die Musik hatte im Raum zwischen den Geräten Platz gehabt, jederzeit konnte man sie aus dem Nichts zu sich rufen. In Wahrheit wusste er ja, dass die Lieder als Information auf Servern gespeichert gewesen waren, dass sie bei Bedarf mit Lichtgeschwindigkeit durch Kabel geschickt wurden, um in seiner Wohnung dann als Mikrowellen bis zum kabellosen Kopfhörer zu gelangen, wo sie die Lautsprechermembran zum Vibrieren brachten und schließlich in Form von Schallwellen in seinen Gehörgang drangen. Aber angefühlt hatte es sich für ihn immer, als wäre die Musik in der Luft gespeichert, als wären die Informationen überall, wie eine Atmosphäre, und müssten auch in diesem Moment noch da sein, direkt neben seinem Ohr, darauf wartend, dass jemand richtig hinhörte. Er wusste nicht mehr, von wem das Lied war. Hallelujah. Ein Wort für Petra und für Hendrik, nicht für ihn.
Ludwig hatte Nima, der manchmal Gitarre spielte, gleich nach der Mittagspause nach dem Lied gefragt. Es war ihm peinlich gewesen, vor Nima zu singen, aber Nima hatte ruhig zugehört. Er kannte es nicht.
But you don’t really care for music, do you. Die Liedzeile schien Ludwig einen Vorwurf zu machen. Er hatte die Leidenschaft seiner Freunde für Musik tatsächlich nie ganz verstanden. Wenn er beim Lernen manchmal irgendeine Playlist gehört hatte, hatte er nicht gemerkt, wenn die Musik abbrach. Du bist wohl ein visueller Mensch, hatte seine erste Freundin gesagt, als sie ihm ihre Lieblingslieder vorspielte und er ungeduldig wurde. Aber nein, er war auch kein visueller Mensch. Weder visuell noch akustisch noch taktil noch sonst etwas. Dafür konnte er programmieren. Was für ein Trost.
Er hatte das Lied wahrscheinlich in dem Café neben seiner ersten kleinen Wohnung in der Stadt gehört. Wenn er beim IT-Support den ganzen Tag am Telefon alten Leuten zugehört hatte, hatte er keine Energie mehr, sich ein Abendessen zu kochen. Die Alten kamen mit ihren Touchscreens nicht zurecht und brachten sich in Gefahr. Er sorgte sich um sie, nachdem sie aufgelegt hatten. Manchmal begannen die Wearables in der Nacht zu brennen. Das geschah vermehrt nach dem Auftauchen der beiden Computerviren, und die Alten, die vergessen hatten, die Wearables abzustreifen, verbrannten mit ihnen. Das Café, in das er sich nach solchen Tagen setzte, war hell gewesen, und an den Wänden hatten comicartige Porträts von hässlichen Leuten gehangen, die sich von Minute zu Minute unmerklich veränderten, bis der grinsende Mann mit langen Zähnen plötzlich zu einer grünhaarigen Frau mit Spiralenaugen geworden war. Das hatte ihn nicht irritiert, er hatte sich rasch daran gewöhnt, dass die Bilder sich veränderten, zuerst auf Werbeplakaten, dann überall. Es gab viele kleine dunkle Tische. Immer lief Musik.
Stimmte es, dass sie auch in den Supermärkten Musik gespielt hatten? Während die Kunden in Ruhe von allem nehmen konnten, was sie brauchten, Rindfleisch, Mangos, Streichhölzer, Zahnpasta, Toilettenpapier, durften sie auch noch Musik hören, Streichmusik, Bässe. Er hatte nie darauf geachtet. Hör doch mal den Songs zu. Iss ein Steak für mich. Doch es war unmöglich, seinem vergangenen Ich Nachrichten zu schicken.
Die Mittagspause war zu lange her. Ludwig bekam solche Lust auf Fleisch, dass ihm Tränen in die Augen traten. Vorgestern hatte er die getrockneten Füße eines Huhns in die Suppe geworfen, und jetzt war nichts mehr davon übrig. Er gab seinen Hühnern inzwischen keine Namen mehr. Er hatte sich ausgerechnet, dass er nur alle drei Monate eines schlachten durfte. Aber er hatte seine eigenen Regeln satt. Ludwig drückte das letzte Maiskorn in den Boden und richtete sich auf. Er schüttelte den Plastiksack, er war leer. Vielleicht würde er doch schon heute Abend das fetteste Huhn schlachten. Hühnersuppe würde den Druck auf den Ohren vertreiben.
Ein Fahrradkurier fuhr den Acker entlang. Ludwig beobachtete, wie er abbog und vor Ludwigs Haus stehen blieb. Umständlich klaubte er einen Brief aus seinem Anhänger und warf ihn in den Briefkasten. Ludwig faltete den Plastiksack zusammen und steckte ihn in die Jackentasche. Mit einem Mal waren die Rückenschmerzen und der Hunger verflogen.
Kamin
Die Tür zum Haus war nur angelehnt. Leise Stimmen drangen aus dem Innern. Die Mutter lachte gedämpft, eine dunkle Männerstimme antwortete. Erwin. Schon wieder. Vanessa öffnete die Tür und schlich den Gang entlang in Richtung der Treppe. Vielleicht konnte sie unbemerkt an den beiden vorbeikommen, den Goldring und das Putzmittel in ihrem Zimmer verstecken und gleich wieder nach draußen entwischen. Das Putzmittel hatte sie im Treppenhaus des Hochhauses hinter einem Blumentopf mit einer verdorrten Pflanze gefunden. Es war noch halb voll.
»Vanessa!«, rief die Mutter. Enttäuscht blieb Vanessa stehen. Die Mutter klang aufgedreht. So wie sie nur klang, wenn sie einen Mann zu Besuch hatte. Vanessa drehte sich um. Die Mutter stand im Türrahmen der Küche und lächelte. »Komm, Nessa, Erwin und ich machen Frühstück.« Dabei war es bald Mittag.
Tatsächlich roch Vanessa schon den Qualm. Der Schornstein schien heute wieder nicht gut abzuziehen. Wieso die Mutter auch nie lernte, vor dem Feuermachen die Abzugsklappe ein paarmal zu öffnen und zu schließen. Besteck klirrte, es klang, als würde Erwin es auf den Tisch werfen.
»Keinen Hunger«, sagte sie. »Ist Erwin noch lange hier?«
Die Augen der Mutter wurden schmal. »Komm.«
Vanessa verbarg das Putzmittel auf dem Fenstersims hinter dem Vorhang und folgte der Mutter ins Wohnzimmer. Erwin stand gebückt vor dem prasselnden Feuer, er hatte zu viel Holz genommen, das sah Vanessa sofort. Sie hatte das Holz im Wald gesucht, nicht er. Sein Nacken war rot. Er drehte sich um.
»Hilf Anna mit dem Frühstück«, sagte er. Dann wandte er sich wieder dem Feuer zu.
Vanessa fühlte, wie etwas Kaltes ihre Adern durchströmte. Sie stellte sich vor, Erwin mit einem Schüreisen so hart auf den Hinterkopf zu schlagen, dass er bewusstlos vornüber ins Feuer fiele. Seine wenigen Haare würden rasch verkohlen. Dann würde das Fett in seinen Wangen anfangen zu brennen. Das Geschrei der Mutter wäre in der ganzen Straße zu hören.
Vanessa versuchte, den Blick der Mutter aufzufangen, aber diese hatte sich abgewandt. »Vanessa, hol Eier aus dem Keller. Und Brot.«
»Haben wir etwas zu feiern?«
Die Mutter antwortete nicht.
Als Vanessa wieder nach oben kam, standen die Mutter und Erwin verlegen am gedeckten Tisch. »Wir möchten dir etwas sagen. Setz dich.«
Am liebsten wäre Vanessa losgerannt, so schnell sie konnte, hätte sich kopfvoran durch das Fenster gestürzt, das in tausend Splitter zerbersten würde, hinaus in den Garten, auf die Straße, durch das Dorf. Sie rührte sich nicht.
Als die Mutter merkte, dass Vanessa ihrer Aufforderung nicht folgte, versteinerte ihr Gesicht.
»Du setzt dich jetzt.« Erwins Ton war kalt.
Vanessa ignorierte ihn.
»Hör zu«, sagte die Mutter, ohne Vanessa direkt anzusehen. »Ich weiß, dass dir das nicht gefallen wird, aber wir ziehen zu Erwin. Nächste Woche.«
Die Mutter nahm Erwins Hand. Erwin starrte Vanessa an wie einen Gegenstand, der schwer zu transportieren sein würde.
»Ich komme nicht mit«, sagte Vanessa und legte das Brot und den Korb mit den Eiern auf den Tisch. Die Dummheit ihrer Mutter war unerträglich.
»Was fällt dir ein!«, rief die Mutter.
»Das ist auch mein Haus!«, antwortete Vanessa. »Wer hat das Dach geflickt? Und den Schornstein? Geh doch! Ich bleibe hier.«
»Wir haben das Haus verkauft«, sagte die Mutter.
»Ihr?«
»Jawohl.«
»Wie kannst du nur!« Vanessas Gesicht war nass. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie angefangen hatte zu weinen. Sie wischte sich über die Wangen. »Denk doch daran, wie es das letzte Mal gelaufen ist. Mit Martin. Warum tust du uns das schon wieder an?«
»Du redest hier nicht mit!«, rief Erwin.
»Erwin, lass sie«, sagte die Mutter. »Nessa, es ist eine große Veränderung, ich weiß, ich …«
»Wer ist es? Wer zieht in unser Haus?«
»Eine Familie aus dem Nachbardorf. Sie haben zwei Jungs.«
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.