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Kitabı oku: «Onnen Visser», sayfa 40

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Am ruhigsten verhielten sich die Strafgefangenen, vielleicht weil ihnen das Todesurteil sozusagen in jedem Augenblick über dem Kopfe hing. Auch hier fanden sich viele Angehörige der besseren Stände, Leute mit den Manieren gebildeter Menschen, die jetzt Kartoffeln schälten oder die größten Löcher in ihren Kleidern eigenhändig nähten. In einem Winkel saßen die Russen, und hier war es, wo der Unteroffizier mit barscher Stimme befahl, noch weiter zusammenzurücken.

»An diesem Herd müssen drei Leute ihr Essen mit euch kochen. Schnell!«

Die eingeschüchterten Menschen leisteten sofort Gehorsam, Mikosch und unsere beiden Freunde konnten auf dem mit allerlei Abfällen, kleinen Pfützen und Sandhaufen bedeckten Fußboden ihre Plätze einnehmen; die Russen verzehrten beinahe stumpfsinnig das, was ihnen als Abendessen geliefert worden war, Heringe und etwas Roggenbrot mit Schmalz, dazu ein Trunk dünnes Kochbier. Was Georg und Feiko betrifft, so nahmen sie, einem Blick des Zigeunerhauptmanns gehorchend, von den Ankommenden keinerlei Notiz; auch Onnen blieb äußerlich ruhig, so daß es aussah, als seien Fremde zu Fremden gesetzt – Leute, die einander vollständig gleichgültig waren.

Der Unteroffizier suchte wie zufällig das Auge des alten Zigeuners. Mikosch verstand ihn sofort; es schien ebenso von ungefähr, als er in die Tasche griff und dann mit dem Kopfe nickte – befriedigt verließ der Soldat den Saal, um sein eigenes, wahrscheinlich nicht minder unangenehmes Quartier aufzusuchen und vorerst wenigstens in der Hoffnung auf einen blanken preußischen Taler bei sehr frugalen Rationen zu schwelgen.

Mikosch hatte noch kein Wort gesprochen, jetzt aber wandte er sich zu seinem jüngeren Stammesgenossen. »Welch eine schreckliche Luft!« sagte er in russischer Sprache.

Ringsumher horchten die Matrosen plötzlich auf. »Siehe da, ein Landsmann!« rief in freudigem Tone der eine.

»Ach! Ihr seid Russen?«

»Gewiß, Kamerad. Großrussen aus der Moskauer Gegend.«

»Ich natürlich auch!« log mit seinem liebenswürdigsten Lächeln der Zigeuner. »Aber wie kommt ihr denn hierher, Leute – und gar in die Sträflingskleider? Der Teufel hole die Franzosen lotweise!«

»Womöglich noch in dieser Nacht!«

Es bildete sich um den Herd herum eine lebhaft schwatzende, durch die fremde Sprache von den übrigen völlig abgetrennte Gruppe; auch Alexei begann eifrig zu fragen und zu sprechen, so daß schließlich die drei Deutschen in der Mitte aller Russen vollkommen unbemerkt blieben und Zeit fanden, miteinander nach Wunsch zu plaudern; die List des alten Zigeuners hatte ihnen den Weg bestens geebnet.

»So sehen wir uns wieder!« flüsterte Onnen, mühsam den Ausdruck seiner Züge beherrschend. »Habt ihr viel gelitten, Georg und Feiko?«

»Furchtbar!« antwortete schaudernd der Steuermann. »Jasko und Luiz brachten uns getreulich bis nach Reval, soweit ging auch alles gut, wir hatten die Genugtuung, die Reste der großen französischen Armee auf Krücken davonhinken zu sehen, und fanden später ein nach England bestimmtes Schiff, aber dann kamen die Tage des Leidens. Der ›Kaiser Paul‹ wurde aufgebracht und wir gerieten in die Hände der Franzosen. Ich sage dir —«

Onnen schüttelte den Kopf. »Du brauchst mir nichts zu erzählen, Feiko, ich selbst habe Ähnliches erlebt. Hunger und Kolbenstöße, eine wahrhaft unmenschliche Behandlung, das ist das Schicksal der Kriegsgefangenen auf den französischen Schiffen.«

»Mir haben die Unholde ins Gesicht gespuckt!« warf Georg ein.

»Mir auch. Aber laßt uns von angenehmeren Dingen sprechen – ich erhielt einen Brief aus Norderney!«

Er erzählte nun den Genossen alles, was ihm die Mutter geschrieben, Freude und Trost nach langer, bitterer Entbehrung in ihre Herzen zurückbringend, dann gestand er ihnen die traurigen Pläne seines Onkels und warnte sie vor der drohenden Gefahr. »Mich verrät der Unglückliche nicht, weil ich eben seiner Schwester Sohn bin«, setzte er hinzu, »aber bei euch wird die Sache anders. Geerd Kluin stirbt vor Hunger und Heimweh zugleich – wer weiß, was geschehen könnte, wenn ihn einmal die Verzweiflung übermannt.«

»Er erkennt uns nicht«, meinte Feiko. »Die langen Bärte, die verwilderten Haare, das alles schützt uns. Aber was macht er denn überhaupt in Hamburg, dein Onkel? Auf Norderney galt er für einen sehr reichen Mann!«

»Das ist er auch wirklich – sein Geld liegt in den Dünen vergraben.«

»Und mittlerweile hungert er hier zu Tode! Nun, ein jeder nach seinem Geschmack. Komm, Onnen, wir wollen uns nebeneinander auf das Stroh legen und noch die halbe Nacht hindurch zusammen plaudern.«

Das geschah nun zwar nicht wörtlich. Wer am Tage Schanzen gebaut hat, der widersteht des Nachts den Einflüssen der Ermüdung nur bis zu einem gewissen Grade, und auch unsere Freunde schliefen schon, ehe noch die erste Morgenstunde geschlagen hatte. Mikosch fand beim Ausmarsch zur Arbeit Gelegenheit, dem Unteroffizier einen Taler in die Hand zu drücken, freilich nicht, ohne für diesen Preis gleich eine kleine, ihm aber sehr wertvolle Vergünstigung zu erkaufen. »Herr Soldat«, sagte er, »wenn Sie mich nicht zuweilen ein wenig mit dem Bären spazierengehen lassen, ja, dann hört das Geldverdienen auf. Bei den vier Schillingen, welche wir vom Kaiser erhalten, sind eben Ersparnisse unmöglich.«

Der Unteroffizier nickte. »Natürlich«, sagte er. »Werden sich finden Gelegenheit.«

»Ich bezahle, was Sie für mich tun können, Herr Soldat.«

»Oui, oui, mir nur lassen Zeit. Ich daran denken.«

Er ordnete die ihm unterstellten Züge von Arbeitern so, daß die Zigeuner bei ihren Freunden blieben und ließ regelmäßig den alten Häuptling, sobald der betreffende Offizier seine Runde vollendet hatte, entschlüpfen, um mit dem Bären auszugehen. Mikosch erhielt zwar in der ausgeplünderten, dem Hunger preisgegebenen Stadt nur höchst selten ein paar Schillinge, aber er bezahlte aus dem geheimen Schatz im Ledergürtel seinen Gönner und stand sich gut dabei.

So kam der achtzehnte Oktober heran; der ewig denkwürdige Tag, an welchem Napoleons Heere auf deutschem Boden so vollständig geschlagen wurden. Die Nachricht dieser Niederlage gelangte sehr bald zur Kenntnis des verhaßten Marschall Davoust, aber er verdrehte dieselbe, aus Furcht, das Ansehen der Franzosen möge leiden, in ihr gerades Gegenteil, er ließ die ganze Stadt illuminieren und ein gewaltiges Feuerwerk veranstalten, dann gab er einen Ball, zu dem alle Damen Hamburgs eingeladen wurden und für welchen er sämtliche Erfordernisse aus den Läden und Niederlagen einfach requirierte.

Ganz ebenso ging es ihm allerdings auch mit den geladenen Tänzerinnen; es kam keine einzige. Der Franzose wußte sich indessen zu helfen, er ließ durch Polizisten und Nachtwächter die Schauspielerinnen in den Ballsaal bringen und feierte so ein Fest, das in allen seinen Teilen aus frecher Lüge, Erpressungen und Gewalttätigkeit zusammengesetzt war.

Durch die Verbindungen, welche die braven Patrioten der Hanseatischen Legion mit Hamburg heimlicherweise immer noch unterhielten, kamen indessen die Berichte über den wahren Hergang der Schlacht bei Leipzig doch allmählich in die rings umschlossene Stadt hinein; jetzt galt es für die Franzosen, noch alles an sich zu raffen, was irgend im Bereiche ihrer Hände lag, um womöglich, wenn sie vertrieben wurden, nichts zurückzulassen, als eine leere, zu Grunde gerichtete und doch vorher so blühende, so schaffensfrohe Stadt. Die sogenannten Kontributionen, Requisitionen und was es sonst für Namen gab, alle diese Räubereien im kleinen nützten nichts mehr, denn das Volk war ausgeplündert und die Wohlhabenden vertrieben – es mußte energischer vorgegangen werden.

Weshalb auch nicht? Wem es erlaubt scheint, den armen Gemüsehändlerinnen ihre Bohnen und Kartoffeln zu stehlen, der braucht sich keinen Zwang mehr aufzuerlegen.

In der Nacht vom vierten auf den fünften November ließ Marschall Davoust den Inhalt der Hamburger Bank mit Beschlag belegen und wieder einige zwanzig der angesehensten Bürger, welche einen Protest gewagt hatten, auf offenem Boote in stürmischer Nacht über die Elbe nach Harburg bringen und dort in das Gefängnis werfen.

Vierspännige Blockwagen holten darauf in den nächstfolgenden Nächten die baren Summen und die Silberbarren aus dem Bankgebäude; ja, der General Chaban ließ sogar in der Altonaer Münze aus diesem Metall Geldstücke mit seinem Namen prägen.

Verurteilungen zum Tode, zur Brandmarkung und Zwangsarbeit, Auspeitschungen und sonstige Bestrafungen folgten einander wie die Flocken im Winter; der Hunger und das pestartige Fieber rafften Tausende dahin.

Es gab keinen Markt mehr, keine offenen Läden, keine Arbeit; Leichengeruch wehte durch die Straßen, die Stufe des äußersten, unerträglichsten Elendes war erreicht.

In diese Zeit des schrecklichen Leidens fiel für unsere Freunde ein heller, glänzender Lichtstrahl. Aus einem Hotel am Jungfernstieg gelangte eines Tages eine Botschaft in den Bauhof, ein Brief an Onnen, in welchem ihn Baron Liliencron aufforderte, einen Augenblick herüberzukommen.

An den Befestigungen wurde jetzt der kurzen Tage wegen nicht mehr so stark gearbeitet, Onnen fand daher Zeit, sich sogleich zum Jungfernstieg zu begeben, und sprang fort, so schnell es ihm möglich war.

Der Baron hatte ein Extrazimmer genommen, er saß hinter der Flasche und schien in sehr guter Stimmung. »Politische Nachrichten, Zigeuner«, sagte er. »Allerlei Gutes!«

Onnen war etwas enttäuscht. »Herr Baron«, stammelte er, »ich hoffte, es sei ein Brief von meiner Mutter.«

»Es ist mehr als das, mein Junge! Dein Vaterland ist frei, die Franzosen haben Ostfriesland ohne Schwertstreich geräumt.«

Onnen sah ihn an, das Blut drang in heißen Strömen zu seinem Herzen. »Frei? Frei von dem Drucke der Fremdherrschaft? – Ach, aber mein Vater sieht es nicht mehr!«

Der Baron reichte ihm die Hand. »Daran darfst du jetzt nicht denken, Onnen. Laß mich dir den Hergang erzählen, mein Junge. Die tapfere Königsberger Landwehr hat unter Major Friccius den Feind vor sich hergetrieben, daß er lief wie ein Hase – ich sage dir, Fischerburschen und Straßenjungen haben die abziehenden Franzosen mit Steinen geworfen! – dann sind Donsche Kosaken in Emden und Aurich eingerückt; das ganze Ostfriesland jubiliert, als sei jeder einzelne Mensch neugeboren.«

»Ach«, rief Onnen, »und ich bin nicht dabei!«

»Aber du wirst es bald sein, mein ungeduldiger Freund. Noch kämpft man im engsten Umkreise von Hamburg, doch die Franzosen sind auf der ganzen Linie geschlagen – selbst in Frankreich ist Napoleons Ansehen im Schwinden begriffen. Das war es, was ich dir erzählen wollte.«

Er reichte dem tief erregten jungen Manne ein Glas Wein und stieß dann mit ihm an. »Auf glückliche Nachhausekunft, Junge!«

Onnen tat Bescheid, vor Aufregung kaum fähig zu sprechen. »Meine Frau läßt dich bestens grüßen«, fuhr der Baron fort, »ebenso auch die Kinder und dein Schützling, Frau Pehmöller. Ihr Mann kämpft mit Begeisterung gegen die Franzosen; in jedem Briefe schickt er dir seine herzlichsten Grüße.«

Onnen dankte mit Tränen in den Augen. Es schien jetzt alles besser, glücklicher zu gehen; auch der kleine Heinz Bruhns war von seiner schweren Krankheit längst wieder genesen, und den Vater desselben hatte unser Freund bei den Schanzarbeiten, mit ungebrochenem Mute der frohen Zukunft harrend, gesehen – ob wirklich die Sonne der Freiheit, des wiedererlangten Bürgerglücks für das deutsche Land im vollen Glanze am Himmel aufgehen würde?

Er hoffte es jetzt und verabschiedete sich bei seinem freundlichen Gönner mit dem Ausdrucke der innigsten Dankbarkeit. Wieviel gab es nicht in dieser Nacht zu erzählen – sie sprachen heute wirklich bis zum Morgen miteinander, die drei jungen Leute, sie feierten, ob auch räumlich getrennt, doch mit ihren Landsleuten das Fest der endlichen Erlösung aus tiefem, ja, aus dem tiefsten, schrecklichsten Elend, dem der Fremdherrschaft.

Jetzt war der Monat Dezember angebrochen. Eine furchtbare Kälte, als die des Belagerungswinters noch vielen Hamburg-Altonaern aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern wohl erinnerlich, eine selten eintretende entsetzliche Kälte herrschte in der Stadt. Elbe und Alster waren gefroren, das Feuerungsmaterial teurer als in gewöhnlichen Zeitläufen, das Brot und die Lebensmittel geradezu unerschwinglich. Eine einzige Schnitte Roggenbrot kostete sechzehn Schilling, also etwa nach unserem deutschen Reichsgelde eine Mark zwanzig Pfennig.

Daß unter solchen Umständen zwei Drittel aller Einwohner krank darniederlagen, kann eben nicht wundernehmen.

Die französischen Machthaber sannen jetzt auf Mittel, sich der durch ihre Verhöhnung alles Rechtes und aller Menschlichkeit zu Bettlern gemachten Hamburger zu entledigen; ihre Schanzen waren fertig, die Stadt eine Festung ersten Ranges, die baren Mittel sowie sämtliche beweglichen Güter in ihren Händen – also fort mit den unnützen Brotessern.

Es erschien eine neue Proklamation, wahnwitzig und grausam zugleich:

»Alle Einwohner sind gehalten, sich sofort für die Dauer von sechs Monaten zu verproviantieren und das Register ihrer Vorräte an Brennmaterial, Speck, Mehl, Kartoffeln, Fleisch und Früchten auf die Mairie einzuliefern. Wer das versäumt, wird mit fünfzig Stockprügeln bestraft; wer unangemeldete Vorräte bei sich verbirgt, dem sollen sie zum Besten der Garnisonverwaltungen und Lazarette konfisziert werden, wer endlich erklärt, sich nicht verproviantieren zu können, der muß die Stadt innerhalb vierundzwanzig Stunden verlassen. Sollte er später noch in Hamburg angetroffen werden, so wird ihn der Büttel vor das Tor schaffen; seine Sachen aber sind dem Fiskus verfallen.«

Dieser empörende, aller Menschlichkeit hohnsprechende Befehl machte in Hamburg nur wenig Eindruck. Diejenigen, welche noch Lebensmittel besaßen, hüteten sich, das zu verraten, weil sie sehr wohl wußten, daß ihnen unter irgendeinem nichtigen Vorwande sogleich alles genommen werden würde, die Armen dagegen schwiegen aus Furcht.

Marschall Davoust ließ seine Bekanntmachung wiederholen – der Erfolg war auch diesmal der gleiche.

Nun begann ein widerwärtiges, scheußliches Treiben. Es eilte ja, mitten im härtesten, kältesten Winter die Hungernden, Beraubten einfach abzuschütteln, weil sie lebende Wesen waren und als solche essen und trinken wollten.

Französische Soldaten drangen in jedes Haus und durchsuchten alle Räume. Waren ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt, fand sich irgendwo ein gefüllter Mehlsack oder eine Speckseite, so wurden vorläufig diese Dinge mit Beschlag belegt und hinterher der bedauernswerte Eigentümer zur Bestrafung angemeldet.

Vor den Wachen auf dem Zeughaus- und Großneumarkt gab es in dieser Unglückszeit bestimmte Stellen, an denen man, häufig in Davousts und Vandammes Gegenwart, diese entwürdigenden Exekutionen vollzog. Die Franzosen fanden dabei auf jede Weise ihre Rechnung, denn das Volk wurde eingeschüchtert; es brachte jeden über den Bedarf des gegenwärtigen Tages hinausgehenden Gegenstand auf die Mairie, nur um sich vor dem Stocke des Profosen zu bewahren.

Mikosch ging, gedrängt von sämtlichen jungen Leuten, eines Tages zum Maire, gestand, daß er sich und seine Söhne unmöglich verproviantieren könne, und bat um die Erlaubnis, Hamburg verlassen zu dürfen; dieselbe wurde ihm indessen rundheraus verweigert. »Sie können bleiben«, hieß es, »Schanzarbeiter sind von dieser Verfügung ausgenommen.«

»Aber die Schanzen sind beinahe vollendet, gestrenger Herr«, wagte der Zigeuner dem berüchtigten Maire Rüder entgegenzuhalten.

Ein finstrer Blick traf seine Stirn. »Man bezahlt euch, nicht wahr? – Hinaus!«

Mikosch ging, er wußte, daß Stockprügel verabfolgt wurden, wo immer eine Gelegenheit zur Bestrafung vom Zaun gebrochen werden konnte.

Unterwegs, auf dem Marsche nach Eppendorf begriffen, sah er die Kinder des Hamburgischen Waisenhauses im langen Zuge, still und vielfach weinend nebeneinander dahingehen. Scharen von Bürgern gaben den Kleinen das Geleite, Frauen und Kinder weinten mit ihnen, hie und da umhüllte eine mitleidige Seele irgendein besonders schwächliches oder anscheinend krankes kleines Geschöpf mit einem wärmenden Kleidungsstück; Brotschnitten wurden verteilt, Äpfel und Speisereste; man tröstete die unglücklichen, jetzt doppelt heimatlosen Kinder in jeder Weise.

Auch diese Armen hatte ein kurzer Befehl des Marschalls aus ihrer bisherigen Wohnung vertrieben. Das Waisenhaus sollte Kranke aufnehmen, also mußten die Gesunden weichen.

Vor der Tür des Gebäudes hielten mehrere Wagen, welche der Hausvater bestellt hatte, um die Betten und Kleidungsstücke der Kinder nach Eppendorf zu schaffen, aber ein Adjutant des Marschalls trat dazwischen und verbot jede Entfernung von Gebrauchsgegenständen. »Alle vorhandenen Betten sind für die Kranken«, erklärte er.

Der brave Hausvater sah über die Brille hinweg kopfschüttelnd zu dem herrisch auftretenden Franzosen hinüber. »Wenn der Herr Offizier mich begleiten möchte«, sagte er lächelnd, »ich hätte noch eine Bemerkung hinzuzufügen.«

Klirrenden Schrittes folgte ihm der Franzose. Der redliche, aber etwas derbe alte Hamburger blieb vor dem ersten Bett im Schlafsaal stehen und deutete mit der Rechten auf dasselbe. »Herr Offizier, ist es möglich, daß Soldaten, also erwachsene Männer darin schlafen können?« sagte er im Tone ruhigen Spottes.

Der Franzose zog seine Lorgnette hervor; er betrachtete die Kinderbetten, als seien dieselben nie vorher bemerkte Naturwunder. »Wirklich!« schnarrte er, »das ist so! Arme Kinder! – Herr Direktor, ich verspreche Ihnen, zu laß die Bett ici!«

»Danke!« versetzte trocken der Hausvater. »Ich denke es auch. So haben denn die Kinder in ihrer Verbannung wenigstens ein Weihnachtsgeschenk – man setzt sie nicht, wie so viele ehrliche Hamburger Bürger, des Notwendigsten beraubt, einfach vor die Tür.«

Das hatte der Franzose nicht verstanden oder er war zu klug, um nachzufragen. Die Kinderbetten konnten aufgeladen und nach Eppendorf gebracht werden; am Nachmittag zogen dann kranke Soldaten in das Waisenhaus, mit dessen Besitzergreifung das letzte öffentliche Gebäude, alle Kirchen, Schulen und Bibliotheken eingerechnet, den militärischen Zwecken anheimfiel. In der Jakobi-, Petri- und Heiligengeistkirche standen Pferde, in den übrigen lagerten Stroh- oder Futtervorräte.

So kam der vierundzwanzigste Dezember, der Weihnachtsabend heran. Die französischen Machthaber gaben Feste und Bälle, sie schwelgten, während Tausende im unerträglichsten Jammer und Elend vergingen; ihre Equipagen rollten durch die dunklen, menschenleeren Straßen, ihre galonierten Diener trugen alle erdenklichen Delikatessen aus den Niederlagen zusammen und aus ihren Häusern hervor schallte rauschende Ballmusik – auf der ganzen übrigen Stadt dagegen lag Totenstille.

Wer hätte nicht schon von dem berühmten Hamburger Weihnachtsmarkt, dem Dom gehört? Wer kennt nicht die auf allen Marktplätzen gehäuften Schau- und Verkaufsbuden, die Seiltänzer, Affentheater, Polichinells und Riesendamen, mit deren Leistungen Hamburg und namentlich die Vorstadt Sankt Pauli von alters her aus der ganzen holsteinischen und hannoverschen Umgebung die Besucher zu Tausenden heranzuziehen pflegt? – In dem Trauerjahr 1813 war alles verödet; kein Tannenbaum stand auf dem Hopfenmarkt zum Verkauf, kein Rauschgold und Flitterkram, keine bunte Kerze hing in den Schaufenstern. Es gab niemand, der noch Luxusgegenstände bezahlen konnte.

Onnen hatte an seine Mutter einen langen Brief geschrieben, den ihm eine befreundete Hand in Altona auf die Post brachte; dann war der ganze Saal von seinen Insassen nach Möglichkeit gefegt und gesäubert worden, um doch, so gut es eben ging, den heiligen Abend zu feiern. Mikosch gab das Geld für zwei Flaschen Rum und ein paar Pfund Zucker, ein Kessel mit Wasser wurde auf den Herd gesetzt und die zerschlagenen Fenster durch Lumpen notdürftig verhüllt. Eine flackernde Tranlampe erhellte den Umkreis des Tisches, dem heute abend die Karten fernblieben.

»Mikosch«, flüsterte Onnen, »sei gut, lade den Unteroffizier zu einem Glase Punsch an unseren Tisch.«

Der Zigeuner nickte. »Daran dachte ich selbst schon, Herr!«

Er ging hinüber in denjenigen Teil des Bauhofes, welcher als Kaserne diente, und spähte nach dem Unteroffizier Eblé, dem die Obhut eines Teiles der Strafgefangenen anvertraut worden war; nach einigem Suchen fand er ihn auch und konnte seine Einladung anbringen, aber der Franzose, obwohl er sich sonst einem guten Tropfen keineswegs abgeneigt zeigte, der sonst so habsüchtige Franzose schien heute unruhig und zerstreut. »Merci, monsieur«, sagte er. »Können nix trinken, aben nix Zeit.«

Mikosch war sehr erstaunt. »Am Weihnachtsabend, Herr? Sie scherzen.«

Der Unteroffizier schüttelte den Kopf. »Große Ernst, große Ernst, Monsieur – können ich nicht lernen Ihren Namen!«

Er sah nach allen Seiten und näherte sich dann, als er in dem Unwetter dieses Tages keinen Menschen erblickte, hastig dem Zigeuner. »Wir beide heute maken einen Handel?« raunte er, während seine Augen habgierig glänzten. »Ihr und ich!«

Mikosch erschrak ein wenig; auch er hatte eine kleine Schwäche für gemünztes Metall und fürchtete nicht mit Unrecht einen Angriff auf die Schätze des Ledergürtels, aber dennoch bewahrte er äußerlich seine Fassung. »Ein Geschäft, mein lieber Herr Eblé? Lassen Sie hören! Wenn es sein kann, bin ich gewiß dabei.«

Der Unteroffizier spielte mit einem kleinen Schlüssel, den er in der Hand hielt; seine bohrenden Blicke hafteten fortwährend an dem Gesicht des Zigeuners. »Aben ich Augen«, sagte er, »und aben ich Ohren. Eh bien! Ich sehen, daß Monsieur nicht lieben sehr die russisch Gefangen – lieben viel mehr zwei junge Leute, das sind Deutsche – heißt Georg die eine und heißt, glauben ich, Fego die andre.«

Mikosch lächelte äußerst liebenswürdig. »Es traf sich, daß gerade diese beiden jungen Leute persönliche Bekannte sind, mein werter Herr Eblé! Aber gewiß werden Sie mir aus dieser Angelegenheit keinen Vorwurf machen wollen.«

»Durchaus nicht! Aber aben ich doch hören und sehen ricktig?«

»Das allerdings. Sie sind Menschenkenner, Monsieur Eblé!«

Der Franzose lächelte geschmeichelt. »Ihr sehen diese Schlüssel?« fragte er.

»Gewiß! Was soll‘s mit ihm?«

»Das die Schlüssel sein für Kette von Gefangene! Maken auf! Maken zu! – Nun sprechen von Handel wir beide. Heute nacht kommen große Exekution.«

Der Zigeuner erschrak »Gott behüte uns, Monsieur Eblé, was wird denn geschehen?« fragte er voll Bestürzung.

»Pst! Davon kann ich sprecken nix. Noch nix. Aber kommen ich heute nacht mit zwanzig Soldaten in Schlafsaal – wollen Ihr dann haben dieser Schlüssel und maken auf in dunkel Ecke ganz heimlich die Kette von Monsieur Fego und Monsieur George?«

»Um sie freizulassen? Mit tausend Freuden, Herr, aber —«

»Pst! Sagen gar nix aber! Was bezahlen für Schlüssel?«

Mikosch seufzte. »Sie halten mich doch nicht für reich, Monsieur Eblé? Ich bin ein armer Teufel, der sich, genau genommen, durch die Welt bettelt!«

Der Franzose lächelte. »Das glauben ich nix«, erklärte er rundheraus. »Ihr verstehen Zauber, Ihr haben Buch, große Geheimnis – Ihr können maken Geld.«

»Ach, du lieber Himmel, ich wollte, es wäre so!«

»Es so sein. Wollen Ihr geben zehn Taler für Schlüssel?«

»Das ist zu teuer, bester Herr, viel zu teuer! Ja, wenn ich wüßte, daß Georg und Feiko entfliehen könnten, daß sie —«

»Pst! Die junge Leute können fliehen, weit fliehen, kommen nix wieder zurück ici – ich es sagen.«

Der Zigeuner begriff je länger, desto weniger das, was ihm der Franzose mitteilte. »So sprechen Sie doch deutlicher, Herr«, rief er ungeduldig.

»Das nix können. Zehn Taler für diese Schlüssel!«

Mikosch schien plötzlich von einem Gedanken ergriffen. »Hören Sie, Herr Unteroffizier«, rief er, »kommen Sie heute nacht auch in den Schlafsaal am anderen Flügel?«

»Gewiß, mein Freund! Warum fragen das?«

»Kennen Sie da den Strafgefangenen Nummer 210? Er ist ein großer, starkgebauter Mann mit blondem Vollbart und heißt Theodor Bruhns!«

»Kenne ihn! Was sollen er?«

Der Zigeuner sah fest in das Gesicht des Franzosen. »Wenn Sie auch seine Ketten öffnen wollen, so sollen Ihnen die zehn Taler gewiß sein, Herr!«

Der Unteroffizier überlegte. »Ich können ihm vertrauen?« sagte er unschlüssig. »Diese Mann kein Verräter?«

»Ganz gewiß nicht. Ich bürge für ihn!«

»Bon. Dann er sollen aben die Freiheit heute.«

»Und Sie das Geld, Herr Unteroffizier!«

Der Franzose beugte sich weiter vor. »Nix aben von Geld in Tasche jetzt?« raunte er atemlos vor Gier.

»Wahrhaftig nicht, aber ich bleibe Ihnen das Versprochene auf keinen Fall schuldig, mein werter Herr.«

Der Unteroffizier nickte. »Das wünschen ich«, sagte er mit bedeutsamem Tone. »Ihr nicht zahlen die Geld, dann schießen ich mit Pistole und treffen diesen jungen Mensch, das Ihr lieben sehr – Oinon heißen er, Euer Sohn!«

Mikosch erbebte. Welch ein feiner Beobachter war dieser Mann!

»Geben Sie mir nur den Schlüssel«, sagte er. »Ich zahle!«

Das leichte und doch so bleischwer wiegende Stück Metall glitt aus der Hand des Unteroffiziers in die des Zigeuners. Die beiden Männer trennten sich und Mikosch kam zurück in den Schlafsaal, wo seine Mitteilungen das größte Erstaunen erregten. Niemand begriff ihn, aber dennoch beherrschte das Vorgefühl einer Katastrophe die Herzen aller. Was mochte Neues, Schlimmes im Werke sein?

Der Teekessel kochte; Gläser, Tassen und Blechbecher standen auf dem Tische, ein großes Weißbrot lag als Festessen in der Mitte. Onnen hatte die Kartoffelschüssel sowie einen Holzlöffel herbeigeholt und begann jetzt den Punsch zu brauen, aber er war nicht bei der Sache, ebensowenig Feiko und Georg; besonders diese beiden letzteren flüsterten fortwährend. Wenn nicht der Schlüssel in den Händen des Zigeuners ein bündiger Beweis gewesen wäre, so würden alle an ein Mißverständnis geglaubt haben.

»Was ist mit euch?« fragte einer aus der kleinen Schar gefangener russischer Matrosen, »was habt ihr nur?«

Onnen reichte ihm ein gefülltes Glas. »Nichts, Kamerad«, versetzte er. »Laßt uns anstoßen – es ist doch immer ein eigen Ding, den heiligen Abend fern von der Heimat und noch dazu als Gefangener zu verbringen. Weißt du‘s noch, Mikosch, heute vor einem Jahre waren wir die Gäste eines russischen Bauernhauses!«

»Und Georg und ich befanden uns auf dem Meere«, warf Feiko ein. »Möchten für uns alle bald bessere Zeiten kommen!«

Die Gläser klangen aneinander, auch von den übrigen Tischen her scholl Gesang und Becherklingen hinaus in das wilde Schneetreiben des Dezemberabends. Sie feierten alle: den heiligen Abend, diese Opfer einer traurigen, entsetzlichen Zeit, alle, nur jeder einzelne auf seine besondere Weise.

Ein kleines Häuflein sang ein Kirchenlied; wieder andere, jüngere und weniger gebildete Leute irgendeinen Gassenhauer, ein poetisches Erzeugnis, wie sie Kriegszeiten immer sehr reichlich hervorzubringen pflegen; noch andere pfiffen oder sprachen lebhaft, aber das alles blieb doch frei von jener Roheit, jenem lauten Leben des gewöhnlichen Tages. Der Weihnachtsabend übt seinen besonderen Zauber; auch die Zügellosesten können sich ihm nicht entziehen.

»Und ihr habt doch etwas vor, irgendein Geheimnis!« rief wieder der Russe. »Was kann es nur sein?«

»Heimweh!« seufzte Onnen, indem er die Arme ausbreitete. »O mein liebes Norderney, du feierst deinen heiligen Abend frei vom Druck der Fremdherrschaft!«

»Und auch du, Mütterchen Moskwa!« rief der Russe. »Gott erhalte dich für und für, Gott heile alle deine blutenden Wunden.«

»Amen! Amen!«

»Laßt uns nochmals trinken und dann schlafen gehen«, riet Mikosch. »Man wird durch solche Erinnerungen traurig gestimmt!«

»Ja, ja, laßt uns schlafen!«

Alexei legte die Arme auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. »Kommen wir bald zurück nach Rußland, Alter? Ich habe Hamburg satt.«

»Still, still – da singen über uns Gefangene. Es sind Preußen aus Blüchers kampflustigen Scharen.«

»Die wahrhaftig ihre Haut dreist genug zu Markte tragen. Hört doch nur!«

Aus dem ersten Stockwerk klangen frohe Stimmen herüber; das was die Leute sangen, war ein frisches, keckes Soldatenlied.

»Im Himmel sitzt der alte Fritz,

Und schaut auf uns hernieder.

Potz Himmeltausend Hagelblitz,

Schlagt die Franzosen nieder!«

Sie rechneten darauf, daß die fremden Gewaltherrscher den deutschen Inhalt der Verse nicht verstehen würden, oder sie rechneten überhaupt schon gar nicht mehr, stießen nur noch von Zeit zu Zeit mit den längst geleerten Gläsern aneinander und wiederholten ihren grimmigen, aus tiefstem Herzen herauf quellenden Refrain: »Schlagt die Franzosen nieder!«

Dann rieselte jedesmal eine wahre Sintflut von Sandkörnern durch die Fugen und unseren Freunden auf die Köpfe. »Hurra!« schrien von unten herauf die Hamburger, »Preußen soll leben, Hurra!«

Der ganze Raum widerhallte von Klängen aller Art, aber doch in abnehmender Folge. Draußen tobte ein Schneesturm, der zuweilen ganze Massen von weißem Puder durch die Risse und Spalten der halbzerschlagenen Fenster trieb, dessen Pfeifen und Singen durch alle Teile des alten Baues tönte, ein furchtbarer Schneesturm, von anderen schauerlichen Stimmen hier und da unterbrochen.

»Was war das?« flüsterte Mikosch. »Es schrie ein Weib!«

»Kinderstimmen«, meinte Onnen. »Ha – das war eben ein Hornsignal!«

Alexei hob den Kopf, er zog aus einer Scheibe die hineingestopften Lappen und horchte. »Irgendein Auflauf«, raunte er, »ein besonderes Ereignis. Die ganze Stadt ist in Bewegung.«

Mikosch hielt in fest geschlossener Faust den kleinen Schlüssel. Das Stück Metall war wie aus heißem Wasser gezogen, das Herz des braunen Häuptlings pochte in nervöser Unruhe. Irgend etwas schwer ins Gewicht Fallendes bereitete sich vor – aber was?

Im Saale schliefen jetzt fast alle; die einen, weil sie des Guten zuviel getan hatten, die anderen aus Gram, aus Verzweiflung. Es war still in dem überfüllten Raum, die meisten Lampen erloschen, die lautesten Schreier waren verstummt.

»Horch!« flüsterte Alexei, »Bitten um Gnade, herzzerreißendes Wimmern! – Geht durch Hamburg der Upyr und würgt alles, was da lebt?«

»Still! Willst du ihn rufen?«

»Sprich den Zaubersegen, Mikosch!«

Der Alte begann zu murmeln. Es war eine Mundart, die keiner der Deutschen verstand, dem äußeren Anscheine nach eine Beschwörung, vielleicht eingelernte Silben, vielfach verzerrt, dem ursprünglichen Laute kaum noch ähnlich, aber trotzdem mit Inbrunst gesprochen, mit dem offenbaren unerschütterlichen Glauben an ihre Macht.

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30 ağustos 2016
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