Читайте только на Литрес

Kitap dosya olarak indirilemez ancak uygulamamız üzerinden veya online olarak web sitemizden okunabilir.

Kitabı oku: «Onnen Visser», sayfa 41

Yazı tipi:

Alexei horchte andächtig; er hielt die Lippen halb geöffnet. Der Zaubersegen schützte ihn vollständig gegen die Angriffe des gefürchteten Upyr.

Draußen tönte, ganz aus der Nähe, plötzlich ein wilder, gellender Schrei. »Meine Kinder, meine Kinder! Ihr Unmenschen, ich will bei meinen Kindern bleiben!«

Dann ein Schlag, ein Wimmern, ein dumpfer Fall!

Feikos Kette klirrte leise, wie wenn die Hand des Trägers gebebt hätte. »Gib her den Schlüssel, Mikosch. Was auch kommen möge, es soll uns wenigstens nicht gefesselt finden.«

Der Zigeuner schien unschlüssig. »Warte noch, bis unser Freund das Rätsel löst«, sagte er. »Es ist nahe an Mitternacht!«

»Nein, nein, gib den Schlüssel. Wenn du wolltest, daß wir ruhig blieben, dann hättest du uns von dem Mittel der Befreiung nichts erzählen müssen.«

Stumm reichte ihm der Alte das kleine Instrument. Von seiner Hand fielen langsam die großen Tropfen hinab auf den Fußboden.

Feiko unterdrückte mit Mühe einen Freudenschrei; er schloß auf und die Kette sank – ein Strom neuen Lebens rann durch alle seine Adern.

»Da, Georg – schnell, schnell!«

Draußen fuhren Wagen vorüber, es erhob sich hier und da lautes, wildes Getümmel; Kommandorufe erschallten, Flüche, Wehklagen, alles durcheinander.

Da erklangen feste Schritte, die Tür wurde geöffnet und der Unteroffizier Eblé erschien mit einer starken Abteilung Soldaten, die an beiden Seiten Posto faßten.

»Alle freien Schanzarbeiter sollen vortreten!«

Der Unteroffizier ging, nachdem er das Kommando abgegeben, langsam durch den Saal und schien die Schlafenden zu wecken. Er berührte jede Schulter, streifte jede Gruppe und sprach hier und dort ein ermunterndes Wort; auch vor dem Tische unserer Freunde machte er Halt. »Allons, allons – die freien Arbeiter hinaus!«

Seine Finger preßten sich in Feikos und Georgs Schultern, er streckte den Arm aus, um zugleich das versprochene Geld und seinen Schlüssel in Empfang zu nehmen. Nur eine Sekunde, dann hatte ihm Mikosch, gewandt wie ein Taschenspieler, beides zugesteckt. »Und Nummer 210?« raunte er.

»Fort! Längst fort!«

»Wohin sollen wir denn? Was habt Ihr vor?«

»Hinaus! Weg von Hamburg, fort! Nix aben Essen, Brot!«

»Du lieber Gott, alle Armen werden aus der Stadt verjagt?«

»Freilich! Ist nicht zu ändern im Krieg!«

Er ging weiter und ungestüm drängte sich mit den übrigen die ganze Gruppe unserer Freunde zur Tür. Feiko und Georg hielten sich möglichst in der Mitte – es hätte ja zufällig irgendeiner unter den Franzosen sie erkennen und zurückschleudern können in das Elend der Gefangenschaft.

Aber die Soldaten sahen nur nach der Kette. Wer keine trug, den ließen sie unbedenklich passieren.

»Wohin geht ihr?« riefen aus dem Schlafe auffahrend die Russen. »Mikosch, Alexei, wo seid ihr?«

»Wir werden hinauskommandiert, ihr hört es ja. Adieu! Adieu!«

»Feiko!« rief eine andere Stimme, »Feiko!«

»Schnell hinaus – sie könnten Alarm schlagen!«

Noch ein rascher Sprung und die Schneefluten umtobten von allen Seiten zugleich unsere Freunde, sie standen auf der Straße, um hier durch eine andere Abteilung Soldaten in Empfang genommen und weitertransportiert zu werden.

»Vorwärts! Vorwärts! Nicht stillstehen!«

Die Unteroffiziere schoben und stießen, andere Gruppen kamen hinzu, allmählich füllte sich die ganze Straße mit Menschen in allen Lebensaltern und aus den verschiedensten Ständen. Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett begleiteten die Unglücklichen, unter denen sich viele Kranke befanden, kleine Kinder, die Insassen eines Siechenhauses, Krüppel jeder Art.

Mikosch und Alexei sahen einander an. »Es ist nicht der Upyr!« flüsterte ersterer. »Dem Himmel sei Dank!«

Auch Feiko und Georg beteten heimlich. Sie waren wenigstens in allem Elend freie Menschen, und – einmal über Hamburgs Grenzen hinaus – von der Gefangenschaft der Franzosen für immer erlöst.

Der Weg ging durch den oberen Teil der Steinstraße zur Petrikirche. Dort brannte Licht, die Türen standen weit offen, ein Strom dunkler Gestalten wogte fortwährend aus und ein, Wachtposten umgaben in kurzen Zwischenräumen den ganzen Bau.

»Was sollen wir hier?« flüsterte Mikosch. »Welch eine trostlose Nacht!«

»Einerlei, die Ketten sind doch im Bauhof geblieben! – Ich erschlage jeden, der mich in die Gefangenschaft zurückführen will!«

»Geradeaus!« befahl der begleitende Unteroffizier. »Hinein!«

Und als dann der letzte seiner Schar hinter dem geöffneten Portal verschwand, eilte er mit den Soldaten zurück, um neue Abteilungen hierher zu führen.

Unsere Freunde sahen einander an. »Ich glaube, wir sind im Augenblick uns selbst überlassen«, flüsterte Mikosch, »wir sind frei.«

»Probiere es einmal, Onnen!«

Der junge Mann ging zur Tür zurück und tat einen Schritt hinaus ins Freie, aber ein gefälltes Bajonett kehrte sich ihm sofort entgegen. »Kein Ausgang!«

»Es geht nicht!« flüsterte er. Wenigstens ist hier aber doch eine bessere Luft als im Bauhofe – lieber Gott, welch ein Weihnachtsabend!«

Sie drängten sich nun durch, um weiter in das Innere der geräumigen Kirche hineinzugelangen und womöglich noch einen Sitz zu finden, aber dies Bemühen war umsonst, nicht einmal alle Frauen hatten einen Platz erhalten; die Siechen und die kleinen Kinder mußten ja vorangehen.

Hart unter der Kanzel auf den kalten Fliesen kauerte die kleine Gruppe eng beieinander und an ihren Ohren rauschte vorüber, was während der letzten Stunden geschehen war – die Geschichte dieser entsetzlichen, grauenvollen Nacht.

Marschall Davoust befahl, daß bis zum Morgen alle diejenigen eingefangen und gruppenweise in die Kirchen gesperrt werden sollten, denen der Verproviantierungsschein fehlte, die daher nicht für den Winter mit Brennmaterial und Lebensmitteln versorgt waren und aus diesem Grunde den Machthabern lästig werden konnten. Er wollte sie einfach vor das Tor setzen lassen, aber in einer Weise, welche die Familienglieder voneinander trennte und durch die so entstandene Ratlosigkeit und Verzweiflung in jeder Weise schwächte.

Während die armen Leute, zum größten Teil hungernd und frierend, hinter den vereisten Scheiben ihrer Wohnungen saßen oder vielleicht gar schon schliefen, zerschlugen französische Soldaten mit den Kolben der Gewehre die Türen und befahlen den Erschrockenen, ihnen sogleich zu folgen. Es wurde ihnen kaum Zeit genug gelassen, um sich notdürftig bekleiden zu können; mitnehmen durften sie nicht das allergeringste, man antwortete auch auf keine Frage und setzte den verzweiflungsvollsten Klagen entweder ein beharrliches Stillschweigen oder die schwersten Drohungen entgegen.

In das Siechenhaus zu den gelähmten, blinden und tauben alten Frauen drangen die menschlichen Hyänen. Plötzlich erhellte sich der Schlafsaal, Bajonette blitzten im Licht, das Kommando der Unteroffiziere trieb die armen zitternden Geschöpfe aus den Betten; krank und hilflos, zum Teil unfähig, sich allein fortzubewegen, so wurden sie hinausgejagt in das Schneetreiben der Dezembernacht – die Tauben, während sie nicht wußten, was mit ihnen geschah, die Blinden, während sie sich halbtot vor Angst an die Sehenden klammerten und bei jedem Schritt fielen, um von den Kolbenstößen der Soldaten, von ihren rohen Griffen wieder emporgezerrt zu werden.

Eisnadeln wirbelten durch die Luft und trafen ihre unbeschützten Stirnen, der Schnee überflutete das graue Haar – am glücklichsten waren noch die, welche gleich nach den ersten Schritten fielen und nicht mehr aufstanden; sie gingen dem entsetzlichsten, untragbarsten Elend aus dem Wege.

In die Armenhäuser, in die Gotteswohnungen, in Buden und Keller trugen die Schergen des Marschalls das Verderben. Hinaus in die Winternacht schleppten sie jedes lebende Wesen, taub gegen Bitten und Vorstellungen, taub gegen die Stimme der Menschlichkeit, der Religion, bloße Handlanger derer, die selbst Sklaven eines Gewaltherrschers waren und die durch ihr Beispiel das Heer demoralisiert hatten. Als anständige, lebensfrohe Leute kamen die Soldaten aus Frankreich; als Tiger in Menschengestalt kehrten sie dahin zurück, Schäden und Verluste hinterlassend, an deren Tilgung drei Menschenalter zu arbeiten hatten.

Eiserne Fäuste trieben die Heimatlosen in entweihte Kirchen, aus denen das Vieh für die Stunden dieser Schreckensnacht entfernt worden war. Ganze Straßen standen jetzt leer, ganze Budenreihen und Höfe – fünfundzwanzigtausend Menschen hatten seit dem vorhergehenden Tage ihr letztes Hab und Gut verloren.

Stumpfsinnig sahen die einen vor sich hin, händeringend jammerten die anderen. Ein Durcheinander von Stimmen, von Weinen, Beten und lautem verzweifeltem Schreien erfüllte die Kirche; kleine Kinder mischten ihre Angstrufe mit dem Schluchzen der Mütter, mit den beharrlich wiederholten Fragen derer, welche sich in ihrem guten Rechte gekränkt wußten und das nun nicht so ruhig hingehen lassen wollten.

Besonders eine alte Frau setzte die Geduld ihrer Unglücksgenossen auf eine harte Probe. Es war ein rundliches, behäbiges Mütterchen, etwas harthörig zwar, aber sonst gesund; die Zunge befand sich in steter rastloser Tätigkeit.

»Meine neue Haube mit der gelben Rose«, sagte sie kläglich, »und die sechs Mark im Bettstroh und —«

»Aber laßt das nun doch endlich einmal ruhen, Frau! Ihr leidet ja nichts anderes, als was auch alle übrigen ertragen müssen. Die gelbe Rose wird doch nicht so schwer zu ersetzen sein!«

»Und der neue Kohltopf«, fuhr die Alte fort, »lieber Himmel, er hat zwölf Schillinge gekostet! – Ja, und wann ziehen wir denn überhaupt in die Gotteswohnungen wieder hinein? – Wenn nur nicht jetzt alle Sachen ruiniert werden! Sollten die Franzosen wohl stehlen?«

»Gelbe Rosen nicht!« antwortete die schnippische Stimme von vorhin.

»Gute Frau«, bat eine weinende junge Mutter, »hattet Ihr Kinder, versteht Ihr Euch auf ihre Krankheiten? Mein armer kleiner Bube verdreht die Augen so schrecklich!«

Ein Kreis von Frauen umgab die Unglückliche, das Schreckenswort Krämpfe ging von Mund zu Mund, ein Schluchzen erfüllte rings die Umgebung. Wieder versuchte jemand, hinauszukommen und Hilfe herbeizuholen, aber die Wachtposten ließen ihn nicht durch, selbst dann nicht, als ihnen Geld geboten wurde.

»Es ist vier Uhr morgens«, hieß es, »sobald der Tag anbricht, werdet ihr alle hinausgeführt, also wartet noch kurze Zeit.«

»Aber unterdessen stirbt mein kleiner Knabe!«

Der Soldat zuckte die Achseln. »Können nix helfen«, sagte er. »Monsieur le Marechal a ordonné.«

»Wohin werden wir gebracht?« fragte ein Mann den Soldaten.

»Aus den Toren – comme ci, comme ça!«

Es wurde in der offenen Tür ein wenig Schnee gesammelt und derselbe dem sterbenden Kinde auf den Kopf gelegt, aber ohne eine Besserung herbeiführen zu können; das kleine Wesen rang mit dem Tode und die, welche es umstanden, falteten ihre Hände, zitternd vor Grauen und Furcht, zugleich um des eigenen und des fremden Schicksals willen.

Hier umstanden fünf Kinder ein blasses Elternpaar, dort stützte und trug ein erwachsener Sohn den alten Vater. Wohin das Auge blickte, sah es Tränen und stumme oder laute Verzweiflung; was das Ohr hörte, waren Ausbrüche des bittersten Schmerzes.

»In einer Stunde beginnt der Tag«, flüsterte Mikosch. »Ich habe dem Unteroffizier Eblé den Schein des Herrn Polizeidirektors gegeben; daraufhin will er mir meinen Bären hierherschicken. Wenn er nun unehrlich wäre, nicht Wort hielte?«

»O Himmel, jetzt fängst auch du an zu klagen!«

»Ja, ja, Herr, was sollte ich machen, um mein Tier zu bekommen?«

»Du versteckst dich hinter die Orgel – gezählt sind wir nicht – und gehst zum Bauhof zurück. Ein Schlaukopf wie du wird sein Ziel wohl erreichen.«

»Da kommt Ruff!« sagte Onnen dann. »Ein Soldat führt ihn.«

Mikosch stürzte vorwärts, der Franzose bekam ein reichliches Trinkgeld und der Bär eine jener Näschereien, welche sein Herr für ihn immer in der Tasche trug. Er schlug den linken Arm um den Kopf des Tieres und blieb trotz aller Kälte mit ihm in der offenen Tür stehen, bis am Himmel das erste Grau erschien und nun eine sonderbare Prozession ihren Anfang nahm. Man hatte sämtliche Gassenkehrerwagen herbeigeholt und begann nun, die in der Kirche Befindlichen hineinzutreiben.

Dabei verfuhren die Soldaten nach erhaltener bestimmter Vorschrift in einer vollkommen barbarischen Weise. Hier wurde ein Wagen mit lauter Kindern angefüllt, dort einer mit Frauen; hier beförderte man hilflose Greise, dort ihre Angehörigen; die Männer mußten warten bis zuletzt.

Ein Toben und Schreien, ein Tumult ohnegleichen beherrschten den Platz vor der Kirche. Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett hinderten die unglücklichen Menschen, welche den verlorenen Ihrigen nacheilen wollten; sie warfen sich zwischen die abfahrenden Wagen und die Zurückbleibenden, hier und da entstand ein Handgemenge, tönte ein Aufschrei – dann färbte sich der Schnee mit blutroten Streifen, und sekundenlang herrschte die Stille des Entsetzens. Bei einem Frost, der die Augenlider erstarren ließ und den Atem wie eine weiße Perldecke gegen die Kleidungsstücke zurücktrieb, bei einem außergewöhnlich harten Frost sahen im Dämmergrau des Morgens Eltern ihre kleinen, halbbekleideten und vom Hunger ermatteten Kinder davonfahren, ohne zu wissen wohin, und ob dieselben jemals zu ihnen zurückkehren würden. Die Franzosen legten Schwerkranke zu sechs und zehn auf einen jener ungesäuberten, zum niedersten Dienst bestimmten Wagen, rissen die Unglücklichen von den Ihrigen und brachten sie nach der Höhenluft, Uhlenhorst, nach Winterhude und Hohenfelde, wo dann die Pferde ausgespannt und die Vertriebenen ihrem Schicksal überlassen wurden.

Recht alten und halb gelähmten, weder als Nahrungsmittel noch für den Militärdienst brauchbaren Gäulen geschah es dann wohl, daß man sie gleich an Ort und Stelle erschoß; Kranke, Kadaver und Wagen mitten auf der Landstraße verlassend, gleichviel, was aus ihnen werden mochte.

Einzelne Frauen holten aus den Falten ihrer Kleider, aus verborgenen Taschen noch Geld oder irgendwelche goldene und silberne Schmuckgegenstände hervor; sie baten flehentlich die Soldaten, alles hinzunehmen und ihnen dafür ihre Kinder zurückzugeben, ja, sie nur neben den Wagen hergehen zu lassen, aber ganz umsonst – die Leute hatten strenge Befehle, sie durften dieselben zugunsten der unglücklichen Frauen nicht verletzen.

So oft ein Wagen davonfuhr, klang bitteres Schluchzen dem letzten Rollen und Knirschen der Räder nach; herzzerreißend tönten die Weherufe der Kranken, die unschuldigen Stimmen kleiner Kinder – eine Welt voll Elend und Jammer öffnete sich den entsetzten Blicken.

Allmählich wurde die Kirche leer. Frauen, Kinder und Kranke waren weggebracht; jetzt nahmen einzelne Abteilungen von Soldaten die Männer in ihre Mitte und zwangen auch diese, fortzugehen, hinaus in das ungewisse Schicksal, in Eis und Frost, vielleicht in den Tod.

Feiko atmete tief, wie aus erlöstem Herzen. »Nun noch eine halbe Stunde, dann haben wir das Tor hinter uns – dann sind wir frei! frei!«

»Sei still – man muß nicht vorausrechnen!«

Sie blieben dicht nebeneinander, Mikosch führte den Bären an der Kette, Onnen und Alexei gingen ihm zur Seite, während Feiko und Georg zwischen den übrigen Männern ihre Aufstellung nahmen. Auf ein: »Vorwärts, Marsch!« des kommandierenden Unteroffiziers setzte sich der Zug gegen das Millerntor hin in Bewegung.

Alle Straßen waren Kopf an Kopf voll Menschen. Eine Völkerwanderung von fünfundzwanzigtausend Personen braucht viel Platz, namentlich wenn außerdem noch etwa viertausend transportierende Soldaten hinzukommen.

Überall stäubte und wirbelte der Schnee, überall rangen verzweifelnde Menschen umsonst gegen das entsetzliche Verhängnis. Man hatte nicht Wagen genug auf treiben können, um alle aus den Toren zu bringen; ganze Züge mußten gehen, wobei es dann natürlich nicht ausbleiben konnte, daß Greise und Kranke, unfähig gegen den Sturm zu kämpfen, am Wege liegenblieben und dort unbeachtet starben.

Je weiter gegen das Millerntor der Zug vorwärts schritt, desto häufiger wurden diese stillen Gestalten. Zuweilen hatte der fallende Schnee ihre Körper schon ganz bedeckt, zuweilen sahen aus dem stäubenden weißen Puder nur noch die Augen hervor, gramvoll und verzweifelnd blickend, eine stumme Anklage gegen die, welche sengend und brennend, mit allen Mitteln herzloser Barbarei ganz Hamburg ins Elend gestürzt hatten.

Auf dem Großneumarkt stockte der Zug. Von rechts und links her nahten aus den Gängen Hunderte und aber Hunderte, die alle durch das Millerntor hinausgebracht werden sollten; ein Gedränge vor der Wache hinderte den Durchgang, dort hatten sich etwa fünfzig oder sechzig Männer zusammengerottet und schienen einen Auflauf verursachen zu wollen. Sie entrissen den Soldaten die Gewehre und schlugen mit den Kolben um sich.

»Wir wollen in Hamburg bleiben; niemand hat das Recht, uns aus unserer Heimat zu verjagen!«

»Schufte, die ihr seid, gebt uns unsre Frauen und Kinder heraus!«

Andere erbitterte Leute kamen hinzu, der Knäuel wurde immer dichter und dichter, die Soldaten schlugen mit der flachen Klinge dazwischen, mehrere höhere Offiziere erschienen, und Geschrei und Toben erfüllte den Platz. Das Blut floß in Strömen, Tote gerieten unter die Füße der Menge – wie ein Sturm brausten die wilden Kampfrufe aus so vielen Hunderten von Kehlen.

Dann erschien, vom Dragonerstall herbeigerufen, eine Abteilung Kavallerie und rückte schonungslos vor. Die Massen drängten in eiliger Flucht zurück gegen den alten Steinweg; wer nicht rasch genug laufen konnte, der wurde überritten oder in dem schmalen Eingang der Straße gegen die Mauern gepreßt, daß er erstickte, ehe noch die Menge Raum gab.

Marschall Davoust erschien persönlich; er gab den Befehl, keinen Rebellen zu schonen, sondern mit der äußersten Strenge zu verfahren.

Allmählich konnte sich der Zug wieder in Bewegung setzen, namentlich da jetzt zwei Wege zur Verfügung standen, der durch die Schlachterstraße und der über den alten Steinweg. Kavalleristen ritten vorn und hinten; es blieb für die Unglücklichen, von Haus und Hof Vertriebenen kein Gedanke an Flucht mehr möglich.

Jetzt war der Zeughausmarkt erreicht, das breite Millerntor kam in Sicht.

Feiko wischte die großen Tropfen von der Stirn. »Mikosch, es ist mir, als wären wir seit einer Ewigkeit unterwegs! – Da, da, hinter dem Eisengitter liegt die Freiheit!«

»Wie langsam es geht! Lieber Himmel, wie langsam!«

»Und doch hatten wir in Hamburg ein erträgliches Auskommen«, sagte Onnen. »Wovon aber sollen wir jetzt leben?«

Mikosch lächelte. »Es ist noch auf viele Wochen hinaus gesorgt, Herr!«

»Durch dein Geld, Alter, du wolltest —«

»Sei doch ruhig. Ich fange eben von vorn wieder an, das ist alles!«

Immer näher kam das Millerntor; Georg Wessel drückte verstohlen die Hand des Zigeuners. »Ich finde früher oder später eine Heuer auf einem Schiffe, irgendeine Arbeit, Mikosch, und dann zahle ich dir auf Heller und Pfennig zurück, was du jetzt für mich auslegst.«

Feiko nickte. »Bei Gott, Mikosch, ich auch!«

Der Zigeuner lächelte. »Wartet, bis ich euch die Rechnung schicke, Kinder. Ach, da ist die Wache – jetzt noch hundert Schritte und wir sind frei!«

»Marschall Davoust reitet immer noch mit den übrigen Offizieren nebenher!«

»Er kann uns jetzt nichts mehr tun, er —«

Mikosch erschrak. Neben ihm tauchte aus dem Gewühl ein kleiner, alter Mann empor, ein erdfahles Gesicht sah ihn an und heiße, fieberglühende Finger umklammerten begierig seine Hand.

»Du Zigeuner, höre – der da hinter dir geht, der junge Bursche, kennst du ihn? Heißt er nicht Georg Wessel?«

Mikosch hatte fast augenblicklich seine Fassung wiedergefunden. »Was meinst du, Martin Kracht?« sagte er gelassen. »Ich kenne keinen Georg Wessel.«

Der kleine, alte Mann ächzte. »Aber ich weiß es gewiß«, preßte er hervor. »Der andre dort heißt Feiko Hansen – sie sind beide Deserteure, sie —«

»Wirst du schweigen, Onkel!« raunte Onnen. »Soll ich etwa deinen Namen laut heraus rufen!«

»Das kannst du nicht – zum Schutze deines eigenen!«

»Auge um Auge, Onkel Geerd, du sollst schweigen!«

»Es sind also wirklich Feiko und Georg! Sie haben Gelegenheit gefunden, aus dem Bauhofe zu desertieren! – Hallo, Herr Offizier! Hallo —«

Er kam nicht weiter, Onnens Hand lag fest auf seinem Munde. Die nächsten, jetzt vergehenden Minuten durchlebten unsere Freunde fast ohne Bewußtsein.

Das große eiserne Tor öffnete sich, der Zug stockte auf Augenblicke, dann flogen die Riegel zurück und die Kavalleristen nahmen Aufstellung zu beiden Seiten.

Onnens Arm wurde herabgedrückt, für einen Augenblick blieb Geerd Kluin sich selbst überlassen. »Herr General«, rief er, »hier sind Deserteure, hier —«

Aber jetzt war das Tor überschritten, die Menge wälzte sich hinaus und der Ruf verhallte ungehört. Wie ein Stein fiel es von Onnens Herzen.

Noch einige Schritte weiter, und er sah nach dem alten Manne – Geerd Kluin lag wie leblos am Boden.

Die jungen Leute hoben ihn auf und trugen ihn weiter. »Mikosch«, flüsterte Onnen, »er ist der Bruder meiner Mutter.«

»Wir wollen ihn auch mitnehmen, Herr! – Du lieber Himmel, ich fange auch an, mich nach Ruhe zu sehnen.«

»Hier herrschen immer noch die Franzosen«, sagte Feiko. »Was denkst du, Mikosch – gehen wir nicht lieber nach Altona?«

»Ja, gewiß, gewiß!«

Rings um das Tor her gähnte das öde, schneebedeckte Heiligengeistfeld. Von der heutigen Eimsbüttelerstraße existierte damals noch kein Haus, die Gegend des Elbparkes war Wiese, der Spielbudenplatz ohne Alleen und der große, dem Seileramt gehörige Raum hinter der jetzigen Reeperbahn ganz freie Fläche – soweit das Auge reichte, sah es nichts als nur das öde, weiße Leinentuch und die wirbelnden Flocken.

Fast alle Vertriebenen zogen nach Altona. Tausende näherten sich dem Nobistore, nur einer einzigen Hoffnung, einem Wunsche Raum gebend – die Franzosenherrschaft zu fliehen.

»Der Weg ist lang«, seufzte Onnen. »Werden wir den alten Mann ganz bis nach Altona tragen können?«

»Wir wechseln ab«, meinte Alexei. »Es wäre unmöglich, ihn liegen zu lassen!«

Von der Seite her näherte sich ein hochgewachsener Mann dem Zuge. »Herr«, sagte er, seine beiden gewaltigen Hände unserem Freunde entgegenstreckend, »Herr, kennen Sie mich noch? Sind Sie es, der mich losgekauft hat?«

»Bruhns!« rief Onnen, »Gottlob, Sie sind hier! Wie ist es Ihnen denn gelungen, sich aus der Stadt zu flüchten?«

Der Riese schüttelte den Kopf. »Das hat einer bezahlt«, wiederholte er. »Der Windbeutel, der Franzose, der kommt zu mir gestern abend ganz im Dunkeln und sagt: ›Monsieur 210, schließ Sie auf seine Kette mit dieses Schlüssel und marschier Sie aus, wenn ich kommandiert! Aber sagen Sie nix, das sein bezahlte Sie wissen schon, das war der Muschö Eblé!«

Mikosch erklärte nun die ganze Sache und wehrte den Danksagungen des braven Speicherarbeiters, indem er hinzufügte, daß der Unteroffizier für die erhaltenen zehn Taler noch ein übriges getan habe. »Laßt uns nun nur so schnell wie möglich nach Altona zu kommen suchen«, bat er.

»Mikosch«, rief Onnen, »du bist doch nicht krank?«

»Ich denke nicht, Herr, nur etwas müde.«

Alexei nahm den Bären und Schritt um Schritt, immer im dichten Gewühl, wurde der Weg nach Altona weiter verfolgt. Wo heute dichtbelaubte Alleen ihren Schatten spenden, wo Schaufenster sich an Schaufenster reiht und Pferdebahnen und Equipagen unaufhörlich kreuzen, da zogen am Morgen dieses ersten Weihnachtsfeiertages Tausende von Vertriebenen hungernd und frierend der Nachbarstadt entgegen. Links blieben die Aschenfelder der zerstörten Häuserreihen von St. Pauli unter Schnee begraben liegen, allmählich näherte man sich dem Nobistore.

Ob es geöffnet werden würde? – Neue bange Frage, neue Angst!

Jesus, Jesus, wenn das Dänenland den Flüchtigen versperrt blieb, wenn es keine andere Möglichkeit gab als die der Umkehr auf Hamburgisches Gebiet, in das Reich der Franzosen!

Lieber gleich in den Tod! Lieber sterben!

Bruhns, der Kornträger, näherte sich unserem Freund! »Herr, sind Sie jemals wieder bei meiner armen Frau gewesen?« fragte er mit gepreßtem, unruhigem Tone. »Ob mein kleiner Heinz wohl noch lebt?«

Das konnte Onnen bejahen, aber über die ferneren Schicksale der verlassenen Frau wußte er seit seiner eigenen Halbgefangenschaft im Bauhofe nichts mehr, ebensowenig, ob sie heute mit den übrigen Unverproviantierten ausgewiesen sei oder nicht. Der Kornträger seufzte. »Sie ist natürlich mit rausgeworfen«, sagte er in seiner derben Art, »ich muß sie nun suchen. Hier auf St. Pauli und in Altona fang ich an, und dann an der anderen Seite, bis sie gefunden sind. Bei allem Elend will ich mich doch einen reichen Mann nennen, wenn ich die beiden erst wieder habe!«

Onnen tröstete ihn, so gut es ging; in seinem eigenen Herzen war seit kurzem eine schlimme Ahnung erwacht – Mikosch sah sehr leidend aus. Er war blaß trotz der braunen Haut und schloß häufig die Augen, als sei er todmüde.

»Alter«, flüsterte Onnen, »fehlt dir etwas?«

»O nein, Herr, nur Ruhe, denke ich. Ich bin kein so junger Springinsfeld mehr wie du!«

Aber das sagte er nicht mit seinem gewohnten, schlauen Lächeln, selbst die Pfeife hatte er ausgehen lassen – Onnen seufzte heimlich.

Auch dieser lange, mühselige Weg neigte zum Ende; das Nobistor erschien weit geöffnet, dänische Soldaten standen unter voller Bepackung zu beiden Seiten und hinter ihnen zeigten sich Reihenstraße und Grund bis zum Rathausmarkt Kopf an Kopf gefüllt. Die Altonaer waren hinausgeeilt, um ihre von einem so entsetzlichen Schicksal betroffenen Hamburgischen Nachbarn willkommen zu heißen und vor allen Dingen mit irgendwelchen Erfrischungen zu versehen.

Heiße Getränke wurden den Halberfrorenen eingeflößt, man nahm die ermüdeten Kinder freundlich auf die Arme, man brachte den Männern Tabak und den Frauen wärmende Kleidungsstücke. Überall öffneten sich die Türen der anliegenden Häuser, um den Heimatlosen einen Platz am Ofen, eine vorläufige Unterkunft zu bieten.

Dicht vor der Gruppe unserer Freunde, mitten im breiten Strome des drängenden und treibenden Volkes sah man plötzlich zwei Frauen einander weinend umarmen, während ein etwas seitwärts stehender Mann einen vielleicht zehnjährigen Knaben aufhob und an sich drückte. »Mein kleiner Heinz«, sagte er freundlich, »nun ist es gut, nun hab‘ ich dich gefunden! Wo ist deine Mutter? – So, so, Mine, ich sah dich nicht gleich! Ach, guten Tag, Johanna, nun macht nur, daß ihr in die Wärme kommt, Kinder!«

Eine Frauenstimme wollte antworten, aber nur ein unbestimmtes Schluchzen brach sich Bahn. »August und Mine – habt ihr nichts gehört – von meinem Mann?«

Der Speicherarbeiter legte plötzlich die Hand auf Onnens Schulter. »Da, da – das ist mein alter, lieber Heinz! Hurra! Hurra! – Hanne, ich bin ja hier!«

Er drängte sich vor, er schob alles beiseite, um zu den Frauen, dem Knaben zu gelangen. »Hanne, meine liebe Hanne, weine doch nicht, es ist nun alles gut!«

Der Knabe streckte beide Arme aus. »Vater, Vater – ach, wie freue ich mich, daß die Franzosen dich nicht totgemacht haben.«

Die kleine Familie lag auf offener Straße eins in den Armen des anderen und ringsumher tönte lautes Schluchzen. Der Speicherarbeiter, vom Bette seines Kindes gerissen, als es fiebernd und bewußtlos mit dem Tode rang, der überglückliche Tedje Bruhns weinte vor Freude. »Mein Heinz, mein lieber, süßer Heinz!« – er wiederholte es immer und immerfort.

Andere, die ihr Liebstes verloren hatten, schluchzten in bitterem Gram, ganz Verlassene standen abseits, auch jetzt allein, Freunde umarmten die langentbehrten Freunde, barmherzige Menschen gingen mit großen Kannen voll heißer Getränke umher und boten sie jedem an.

Der Weg über den Marktplatz war völlig gesperrt und erst, als die engen Seitenstraßen einen Teil des Gedränges abgeleitet hatten, konnte wieder neue Bewegung entstehen. Jedes Herz schlug freier, jede Brust hob sich höher! Hier in Altona war die Schreckensherrschaft der Franzosen zu Ende, hier hatten Recht und Ordnung noch ihre geweihte Stätte; man fühlte sich nach langer marternder Unsicherheit wieder wohl und ruhig unter dem Schutz der Gesetze.

»Mikosch«, fragte Onnen, »kennst du auch in Altona eine Herberge?«

Der Zigeuner nickte. »Ja, wir müssen nach der Königsstraße. Laßt nur erst den ärgsten Strom sich ein wenig verlaufen.«

Er sprach noch, als aus dem Gewühl ein bekanntes Gesicht zu ihnen herübersah. Es war der Baron Liliencron, welcher im Drängen und Treiben des Rathausmarktes nach Hamburgischen Bekannten ausspähte und jetzt die Zigeuner erkannte. »Hallo, Onnen«, rief er, »auch mit auf den Schub gebracht? – Wen habt ihr denn da, Junge?«

Unser Freund wechselte die Farbe. »Dieser Mann ist der Bruder meiner Mutter, Herr Baron!«

»Ach, und du nimmst dich seiner an, das ist brav von dir. Wollt ihr einstweilen mitkommen in mein Haus? Ich habe den großen Gesellschaftssaal ausräumen und mit Stroh und wollenen Decken versehen lassen, da können so viele Heimatlose Quartier finden, wie der Raum nur immer fassen will.«

Mikosch zog den Hut. »Aber wir bringen vielleicht dem Herrn Baron das Fieber ins Haus«, sagte er. »Dieser Mann ist ohne Besinnung.«

Der Oberst schüttelte halb seufzend den Kopf. »Altona ist vollständig angesteckt«, antwortete er, »in meinem eigenen Haus liegen schon zwei Dienstboten krank – geht deshalb nur in Gottes Namen mit mir und seid herzlich willkommen.«

Feiko und Onnen nahmen den kranken, alten Mann in ihre Mitte und nun ging es durch die Prinzenstraße zum Quäkerberg, an dessen Fuß die Elbe unter starrem Eise begraben lag. Zum erstenmal sandte die Sonne ihre goldigen Strahlen über den Schnee dahin, das Flockentreiben hatte aufgehört, die Kälte schien minder unerträglich.

Ein sauberer, behaglicher Raum umgab die Flüchtigen, sie erhielten ein warmes Frühstück, konnten ruhig aufatmen und ruhig die Augen schließen, um stundenlang zu schlafen und sich nach den Anstrengungen dieser entsetzlichen Nacht zu erholen. Geerd Kluin wurde in einem Giebelzimmer des Anbaues sorgfältig gebettet und sogleich der Hausarzt geholt, um ihm alle nur mögliche Hilfe angedeihen zu lassen. Der freundliche alte Herr war wie außer sich, er hatte an diesem Morgen schon so viele Schrecknisse gesehen, so viele Kranke und Sterbende behandelt, daß ihm graute.

»Mindestens fünfhundert Schwächliche, Greise und Kinder sterben vor dem nächsten Morgen allein an den Folgen des Schrecks und der Kälte«, sagte er. »Auch dieser arme, alte Mann ist völlig verloren – er geht zu Grunde am Hungertyphus.«

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
30 ağustos 2016
Hacim:
830 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre