Kitabı oku: «Onnen Visser», sayfa 42
»Und man kann für ihn nichts mehr tun, mein guter Doktor?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß er vor dem Ende noch die Besinnung wiedererlangt.«
Am Nachmittag, als die jungen Leute gestärkt erwachten, war Mikosch noch schläfriger als vorher, sein Kopf schmerzte, er konnte nichts genießen und schon am folgenden Tage mußte Doktor Fischer auch an sein Lager geführt werden. Es war der Typhus, welcher sich vorbereitete.
Nun lagen zwei Kranke im selben Zimmer; böse traurige Tage folgten dem Einzug in Altona. Während Geerd Kluin mehr und mehr in sich zusammensank, phantasierte der alte Zigeunerhauptmann oft so stark, daß ihn zwei seiner treuen Pfleger kaum im Bette festzuhalten vermochten. Bald befand er sich auf dem schmalen unsichtbaren Fahrdamm des Teufelsloches im fernen Rußland; er fühlte das hereinspülende Wasser, er durchlebte nochmals die Todesangst jener Stunde – dann wieder lachte er leise vor sich hin. »Ich bin doch schlauer als sie alle, ich kenne die Wege, die niemand weiß, ich passe in jede Verkleidung hinein! Ha, ha, ha, kaufen Sie Rettich, schöne schwarze Rettich!«
Doktor Fischer kam zweimal am Tage, sein Gesicht war sehr ernst. »Die Hoffnung habe ich noch nicht aufgegeben«, sagte er. »Solch ein Zigeuner ist eine zähe Natur!«
Das klang wenig tröstlich, aber es war doch etwas und weit mehr, als vielen Tausend anderen zuteil wurde. Bald nach dem Weihnachtsfeste kam jener Tag, an welchem auf dem Kirchhofe zu Ottensen die ersten Opfer der Franzosenwillkür in das große gemeinsame Grab gelegt wurden. Hunderte von Leichen, alle in weiße Tücher gehüllt, empfing die eisige Erde; wie wenn eine Schlacht geschlagen und die gefallenen Helden reihenweise in das letzte Bett gelegt werden, so trug man hier von allen Seiten, aus allen Straßen die gemordeten Hamburger im Totenkleide herbei – wahrlich, wie der Dichter sagt: »Ein ganzes Völkergeschlecht.«
Tausende gaben den Armen das letzte Geleit, auch unsere jungen Freunde gingen mit hinaus und warfen die Schaufeln voll Erde in das Massengrab, dessen Tiefe so grenzenloses, so unerhörtes Elend mit ihrem stillen Frieden deckte.
Tausende lagen noch krank, Tausende waren bestimmt, diesen Vorausgegangenen zu folgen, aber dennoch war die Wut der Franzosen nicht gestillt, ihre Menschlichkeit nicht erwacht. Der Hamburger Krankenhof wurde geräumt und seine Insassen nach Eppendorf gebracht; von achthundertundsechzig Menschen starben dabei auf dem mit der furchtbarsten Unmenschlichkeit geführten Transport ihrer fünfhundertundachtzig. Die Börse wurde während dieser Schreckenszeit zum Pferdestall verwandelt, die Börsenhalle zum Heumagazin.
Es erschien auch wieder eine neue Proklamation, durch welche man den Einwohnern verbot, von ihrem Eigentum irgend etwas zu verkaufen, natürlich bei Todesstrafe. Es befanden sich am Neujahrstage im ganzen nur noch fünftausend Zivilpersonen in der Stadt; die Franzosen hatten ihren Zweck erreicht, sie konnten sämtliche Vorräte allein verzehren, dennoch aber veranstalteten sie in der Nacht auf den ersten Januar abermals eine Treibjagd in den Gängen und Höfen des nördlichen Viertels, und zwar, um die Juden aus den Toren zu bringen und nachher ihre Wohnungen zu plündern.
Unterdessen rückten die Russen von Norden heran und stürmten den Vorort Eimsbüttel. Ein Flammenmeer bezeichnete die Stelle, wo Napoleons Soldaten geschlagen worden waren, zugleich aber brachte dieser Tag den Altonaern eine sehr angenehme Beruhigung; es kamen jetzt keine Franzosen über das verlorene Dorf mehr in die Stadt hinein, um mit Güte oder Gewalt Lebensmittel zu erlangen.
Mehr und mehr verbreitete sich in Altona die entsetzliche Krankheit. Doktor Fischer, der treue Freund aller Armen und Bedrängten, wanderte von Bett zu Bett, ohne seine eigene Gesundheit zu schonen, auch in das Haus des Barons kam er wenigstens einmal täglich. Geerd Kluin lag in den letzten Zügen, er flüsterte immer vor sich hin, und was er sagte, klang unendlich traurig. »Du warntest mich, Schwager Visser, ich weiß wohl, was du damals sagtest, aber ich wollte nicht nachgeben. Mein Geld liegt in den Dünen, niemand kann es finden – Sparpfennige, ein paar Taler!«
Bei diesem Gedanken wurde er jedesmal unruhig. »Was ich mir für das kleine Vermögen kaufen möchte, ist nun dahin, die französischen Gesetze sind zu streng, gar zu streng. Paff! da fliegt die Kugel, und der Tote wird verscharrt wie ein Hund. Ich kann nie wieder Geerd Kluin werden, nie – als Martin Kracht muß ich auch sterben. Es gibt überhaupt keinen Geerd Kluin, niemand kennt ihn!«
Dann begann er leise vor sich hin zu weinen. »Begrabt mich nicht, um Gotteswillen, begrabt mich nicht – ich wollte vorher so gern meine Heimat wiedersehen – nur von fern, nur einmal – o mein liebes, liebes Norderney!«
So kam langsam der Tod heran, ganz allmählich. Während Mikosch die Krisis überstand und im Schlummer der Genesung lag, kämpfte Geerd Kluin den letzten Kampf. »Das Geld liegt gut versteckt«, sagte er, »weißer Sand rieselt darüber hin, es sinkt und sinkt, niemand findet es.«
Die letzten Worte wiederholte er mit großer Befriedigung: »Niemand! Niemand!«
»Besaß er wirklich ein Vermögen?« flüsterte der Baron. »Die Leute behaupten es«, antwortete Onnen. »Mein Onkel war immer sehr mißtrauisch und verschlossen.«
Der Baron schüttelte den Kopf. »Aber du bist sein Erbe, denke ich. Da sollte man doch Genaueres zu erfahren suchen.«
Onnen bat seinen Gönner, in dieser Beziehung alle Fragen zu unterlassen. »Wenn mein Onkel das Geheimnis mit sich ins Grab zu nehmen wünscht, so möge es geschehen«, sagte er. »Es widersteht mir, ihn durch eine List zum Sprechen zu bringen, und überdies sind auch die Dünen so ausgedehnt, so meilenlang, daß es unmöglich wäre, dort etwas Verborgenes zu suchen.«
Der Baron wandte sich ab, er fühlte ganz wie sein junger Schutzbefohlener und wollte daher an diesem Sterbebette die nüchterne Lebensklugheit nicht gewaltsam zur Geltung bringen. Geerd Kluin hätte auch wohl kaum noch irgendeines Menschen Stimme vernommen, seine Atemzüge wurden immer schwächer und schwächer.
»Zu spät«, murmelte er, »zu spät. Martin Kracht verfolgt mich, er steht hinter mir – ach, er hat Geerd Kluin erschlagen!«
Und dann war alles zu Ende. Onnen zog ein Tuch über das Antlitz des Toten, leise schlich er aus dem Zimmer und zu den übrigen, die mit ebenso blassen Gesichtern umhergingen wie er selbst. Der Winter wollte nicht weichen; die Kämpfe am jenseitigen Ufer der Elbe dauerten immerfort, es wagte sich kein Schiff in die Nordsee hinaus, es gab keinerlei Arbeit oder Verdienst, obwohl Alexei Tag um Tag durch die Stadt wanderte, um irgendeine Beschäftigung zu erlangen. Der Baron hatte den Ledergürtel des Zigeuners versiegelt und in Gewahrsam genommen; unsere jungen Freunde lebten immer noch als seine Gäste im Hause, aber die Zeit wurde ihnen täglich länger, sie sehnten sich hinaus auf das Wasser, um endlich einem geregelten Betrieb nachzugehen und nicht länger das Brot der fremden Barmherzigkeit zu essen.
Während dieser Zeit wurde rings um Hamburg fortdauernd gekämpft; die Russen nahmen und verbrannten Harvestehude, Eppendorf und Hamm – General Davoust war jetzt auf die eigentliche Stadt Hamburg beschränkt, alles umliegende Gebiet hatte er verloren.
Von den Getreuen der Hanseatischen Legion kamen die besten Nachrichten. Der Holzhändler Pehmöller schrieb seiner jungen Frau häufig Briefe und erschien sogar eines Tages persönlich im Hause des Barons. Seine Abteilung lag in Ritzebüttel, er war daher mit mehreren Genossen über die Elbe nach Glückstadt gegangen und durch Holstein nach Altona.
Wie ihn das Kriegsleben verändert hatte! Selbst Frau und Kinder erkannten kaum in dem braunen derben Soldaten den Mann, der vor Ärger blaß und krank an jenem Tage der Plünderung aus Hamburg fortzog, aber die Freude des Wiedersehens war unbeschreiblich, grenzenlos. Wie viele Tausende hatten nicht seitdem außer aller irdischen Habe die verloren, welche ihnen auf Erden das Liebste waren.
Onnen erhielt die besten Grüße aller derer, welche damals durch seine rechtzeitige Warnung gerettet wurden; Rosenberg, der Getreidehändler, war zum Hauptmann befördert, Karl Pehmöller selbst zum Leutnant.
Die Tage, während welcher er sich zum Besuche in Altona befand, blieben allen in angenehmster Erinnerung, obwohl immer neue Schreckensbotschaften aus Hamburg jeden frohen Eindruck trübten und selbst in die sonnigste Stunde ihre Schatten warfen. Auf dem Heiligengeistfelde waren wieder drei brave Patrioten erschossen worden, etwas später abermals drei – näher und näher an die beiden Schwesterstädte Hamburg-Altona heran zog sich die Reihenfolge kleiner Gefechte.
An der Sternschanze trafen Kosaken und Franzosen im Scharmützel zusammen; im Verlauf des Kampfes entzündeten letztere den dänischen Teil von Eimsbüttel und die zu Altona gehörende Straßenseite des Schulterblattes, ja sie wollten auch die große Gärtnerstraße und die Rosenstraße verbrennen, so daß ganz Altona in Aufruhr geriet.
Noch lag die Elbe unter der festen Eisdecke des Winters, die wenigen vorhandenen Brunnen hätten das Verderben von der Stadt nicht abwenden können, es galt daher, die schurkische Absicht der Franzosen zu vereiteln. Altonas Neutralität war von ihnen anerkannt, sie durften dieselbe also auch nicht brechen.
Der Oberpräsident, Graf Blücher, begab sich persönlich nach Hamburg und erwirkte dort eine Anerkennung des Vertrages, während dieser angstvollen Stunden aber sammelten sich alle jungen Männer, mit den bekannten, ledernen Noteimern versehen, am Hummeltor und an den Eimsbütteler Grenzen, um den Flammen, sobald sie das Altonaer Gebiet berühren würden, nach Möglichkeit zu wehren.
Die Franzosen umschlichen fortwährend die letzten Häuser. Plötzlich einzufallen und die noch in ihrem vollen Besitzstande verbliebene Stadt bei guter Gelegenheit zu plündern – das war es, was sie wünschten.
Auch unsere Freunde standen auf Wache. Das Feuer verzehrte wieder Hunderte von Häusern, aller Schnee schmolz trotz des härtesten Frostes, eine sengende Glut erfüllte die Luft. Zuweilen züngelten Flammen hinüber auf das altonaische Gebiet, irgendeins der heute noch stehenden uralten Häuser der Gärtnerstraße fing Feuer, aber ebenso schnell waren die Löschvorrichtungen bereit – Hunderte von Händen brachten in langer Kette das Wasser aus den nächsten Brunnen herbei und das Unglück wurde rechtzeitig abgewendet.
Gegen Morgen mußten die Franzosen unverrichteterdinge abziehen. Graf Blücher hatte es verstanden, den Marschall, so sehr er sich auch sträubte, an das einmal gegebene Versprechen zu binden.
Alle diese Ereignisse verträumte Mikosch in dem wohltätigen Schlummern der Genesung. Bei Bahrenfeld, Eppendorf, Nienstedten, Eimsbüttel und dem Grevenhof, in allen Dörfern bei Harburg oder, mit anderen Worten, im Kranze um Altona herum donnerten die Kanonen, auf dem Heiligengeistfelde wurden beinahe täglich mehrere Hinrichtungen vollzogen, aber er bemerkte von allem dem nichts. Doktor Fischer erklärte diesen ruhigen traumlosen Schlaf für das Zeichen wiederkehrender Gesundheit, er war mit seinem Patienten sehr zufrieden, und so konnten es die übrigen auch sein.
Dann kam die Nachricht von dem Siege der Alliierten vor Paris. Die Stadt hatte kapituliert und Ludwig der Achtzehnte war als König anerkannt; Marschall Davoust nahm von diesen Vorgängen aber geflissentlich keine Notiz, sondern brandschatzte womöglich nur um so ärger, ja, in einer geradezu wahnwitzigen Weise, er ließ auf den Straßen die alten Frauen prügeln, er ließ Leute erschießen, die mit seinen Soldaten von den jetzt massenhaft vorkommenden Desertionen gesprochen hatten, er verbot alles Glockenläuten und schickte ohne Wahl oder irgendeinen Schein von Recht den Bürgern die Rekonvaleszenten der Armee zur Verpflegung in die Häuser – endlich aber hatte auch seine Stunde geschlagen; es war sein eigener Onkel, der Staatsrat Davoust, welcher ihm das Abberufungsschreiben nach Hamburg brachte.
Zugleich wurden die Städte Hamburg und Harburg als Teile des Königreichs Frankreich proklamiert und dann die feierliche Besitzergreifung durch das Aufziehen der weißen Fahne dem fanatischen und unbeugsamen Marschall vorher angekündigt.
Die Tore Hamburgs waren an diesem Tage schon seit dem frühen Morgen geöffnet und der Verkehr nach allen Richtungen hin freigegeben. Das geschah im April, als Mikosch unter den blühenden Kirschbäumen des Gartens saß und, in wärmende Decken gehüllt, seine verräucherte alte Stummelpfeife wieder mit dem früheren Behagen rauchte. Neben ihm lag Ruff im Sonnenschein und dann und wann kam eins der Kinder, um mit dem braunen zutraulichen Gesellen zu spielen.
Noch acht oder vierzehn Tage, dann wollte der Alte den Stab weitersetzen; er fühlte sich kräftig genug, um die jungen Leute nach Ostfriesland zu begleiten und namentlich Onnen in Person der verlassenen Mutter wieder zuzuführen. Es war außer dem unglücklichen Geerd Kluin im Hause des Barons niemand gestorben, andererseits aber stand der Verlust eines treuen und sehr geschätzten Freundes nahe bevor – Doktor Fischer, der Arzt, welcher Tage und Nächte den Vertriebenen geopfert hatte, der unermüdliche Menschenfreund war vom Typhus ergriffen und lag sterbend; jede Stunde konnte die Nachricht seines Todes bringen.
Der Baron saß häufig am Bette des langjährigen Freundes; er war es auch, der ihm die Augen zudrückte und an dessen Seite die drei jungen Ostfriesen den von der ganzen Stadt betrauerten Mann zur letzten Ruhestätte im Schatten der Heiligengeistkirche begleiteten. Er war gefallen auf dem Felde der höchsten Ehren, im Dienste seiner armen, von Haus und Herd vertriebenen Mitmenschen.
Als die Tore Hamburgs geöffnet wurden, machten sich Onnen und Alexei auf, um die Feierlichkeiten der neuen Besitzergreifung von Seiten Frankreichs mitanzusehen. Sie konnten es ohne Furcht vor Schaden; der Paß des alten Häuptlings sicherte sie vollständig.
Welch eine Veränderung war mit der Straße von Hamburg nach Altona seit jenem Tage der Austreibung vor sich gegangen! Jetzt lag das Heiligengeistfeld im grünen Schmuck und auf den Trümmern der verbrannten Vorstadt St. Pauli begann neues Leben sich zu regen. Der Friede, der langentbehrte goldene Friede war ja nun gesichert und auch die Befürchtung, daß Hamburg wirklich eine französische Stadt bleiben werde, wurde im Grunde nirgends gehegt. Man freute sich der günstigen Stunde, obwohl freilich Marschall Davoust mit allen seinen größeren oder kleineren Henkersknechten immer noch die ruinierte Stadt behauptete.
Von den Wällen flatterten die weißen Fahnen, am Mittag sollte eine solche auch auf der höchsten Spitze des Michaelisturmes erscheinen und damit das Ende der napoleonischen Schreckensherrschaft verkünden. Tausende erwarteten in den umliegenden Straßen den Augenblick dieses glückverheißenden Ereignisses.
Als Onnen und Alexei das weitgeöffnete Millerntor passierten, sahen sie die französischen Soldaten, Gewehr bei Fuß, auf den Wällen stehen. Der Marschall wollte den Sturz seines vergötterten Kaisers nicht anerkennen, er fügte sich nur der Gewalt und wartete ungeduldig auf die Rückkehr eines Boten, den er selbst dem entthronten Napoleon geschickt hatte – inzwischen versuchte er es, die Soldaten zur Widersetzlichkeit, zur Rebellion gegen den neueingesetzten König von Frankreich aufzuhetzen.
In den Straßen der Stadt wogte es von Gendarmen und Zivilpersonen. Viele Hamburger hatten an ihren Hüten und Mützen die hanseatische Kokarde befestigt; die Franzosen versuchten, dieselben wieder herabzureißen, und so entstanden unaufhörliche Reibereien, welche bis in die Nacht hinein dauerten.
Onnen und Alexei gingen allen diesen Streitigkeiten aus dem Wege; sie standen gegen Mittag in Gesellschaft Tausender von Menschen auf dem Platze vor der großen Michaeliskirche und sahen zum Turme empor. Wann endlich würde die Fahne erscheinen!
Dann schlug es zwölf – der bestimmte Zeitpunkt kam heran.
Aller Herzen schlugen schneller; die Leute hielten ihre Hände gefaltet, zahllose Frauen und Kinder schluchzten laut.
Und nun öffnete sich eine Luke. Goldiger Sonnenglanz umflutete die Turmspitze, langsam bauschten im Winde die weißen golddurchwirkten Lilien von Frankreich – des Korsen Herrschaft, Deutschlands unermeßliches Elend war gebrochen, das zeigte, allen sichtbar, dieses Symbol.
»Gib acht«, flüsterte Alexei, »nun kommt ein Hurra, das Tote erwecken könnte.«
Aber er irrte vollständig. Die Stille einer religiösen Feier lag auf der ganzen Versammlung, ein Knie nach dem anderen beugte sich im Gefühl überwältigenden Glückes, eine Stirn nach der anderen sank in die gefalteten Hände. Sie riefen nicht Hurra, die gefolterten, über alles Maß hinaus gequälten Hamburger – sie beteten.
Und hinter ihren Reihen ritt Marschall Davoust, todesbleich, mit zusammengebissenen Zähnen. Ein Gottesurteil vollzog sich an dem Mann ohne Gewissen, und er empfand schwer und furchtbar drückend die eiserne Wucht desselben.
Die weiße Fahne war es, die er selbst und sein Gebieter bekämpft hatten, mit der sie rangen, bis der Kaiseradler den scharfen Schnabel erheben könnte, um die Lilien zu zerfetzen. Der wahnwitzige Traum von einem Weltreich, einer Weltherrschaft, schien kurze Zeit hindurch zur Wirklichkeit werden zu sollen, dann zerrann auf Rußlands Eisfeldern das Trugbild; des Adlers Schwingen wurden matt.
Ganze Völkerschaften gerieten ins Elend, Hunderttausende fluchten dem korsischen Tyrannen, man jagte ihn wie ein flüchtiges Wild, man entriß ihm Stück nach Stück den Herrschermantel – er mußte erkennen, wie sehr ihn die Menschheit verabscheute.
Und dann, aus Blut und Trümmern, aus einem Meer von Tränen erhob sich die Fahne mit den Lilien, sie flatterte im Sonnengold und Morgenwind, sie war das sichtbare Zeichen göttlicher Gnade für alle die Tausende, welche da auf ihren Knien lagen und dem Vater im Himmel für die Botschaft des Friedens aus Herzensgrund dankten.
Leise präludierte drinnen im Heiligtum die Orgel, und dann erschallten die Klänge des Dankliedes tief und feierlich dahin über die große Gemeinschaft derer, welche nach Jahren der Fremdherrschaft und des Leidens endlich, endlich erlöst waren – erlöst durch die Tapferen, welche dem französischen Volke die Fahne seines legitimen Königshauses zurückerobert hatten.
»Nun danket alle Gott!«
Brausend und gewaltig fielen alle die Tausende von Stimmen ein in das fromme Lied. Was jeder dachte und empfand, was die Herzen durchflutete und schwellte, das sagte ja dieser Gesang, das widerhallte in jeder einzelnen Strophe desselben. Auch Onnen und Alexei sangen mit; für beide junge Leute bedeutete ja der Sturz Napoleons die unbehinderte Rückkehr in das Vaterland zu denen, welche sie liebten.
Der Marschall spornte sein Pferd, Gift und Galle im Herzen. Am Nachmittag sollten die Truppen dem neuen König von Frankreich den Fahneneid leisten, das war dem mit seinem Gebieter entthronten Gewaltherrscher schwerer, als es der Tod auf dem Schlachtfelde gewesen wäre.
Fast unter den Augen der Vorgesetzten desertierten die Soldaten an diesem Tage zu Hunderten, namentlich solche, welche in fremden Ländern gewaltsam zum Militärdienst gepreßt worden waren, Holländer, Spanier und Italiener; es wanderten allein über vierhundert Niederländer in der Richtung auf Bremen über die Veddel und Harburg davon, ohne durch die französischen Anführer daran verhindert zu werden.
Auf der Elbe lagen vom Grevenhof oberhalb der Stadt bis nach Neumühlen dänische und englische Kanonenboote in großer Anzahl. Wo der starrsinnige Marschall versuchte, noch an den Befestigungswerken arbeiten zu lassen, da wurden die unglücklichen Leute von den Schiffen aus erschossen – wo in der Stadt selbst irgendeine Stimme sich des errungenen Sieges der Alliierten freute oder sonst ein gegen den entthronten Kaiser gerichtetes Wort sprach, da ließ der Marschall sogleich auf dem Heiligengeistfelde den Schuldigen hinrichten.
Ein Geist der Rebellion, des Auflehnens gegen diesen Gewaltherrscher machte sich freilich damals je länger, desto stärker geltend. Wenige Tage nach der Anerkennung Ludwigs des Achtzehnten sollte der Marschall erfahren, welche Gesinnung das Volk gegen ihn hegte.
Es war an einem Sonntag. Mikosch und die übrigen hatten einen Spaziergang nach Ottensen unternommen und wollten durch die Palmaille zurückkehren, als ihnen schon von weitem ein bedeutender Volkshaufen bemerkbar wurde. Der Zutritt zur Palmaille war in der Gegend des heutigen Bahnhofes fast vollständig gesperrt.
»Was gibt es?« fragte Onnen.
»Drinnen im Hause des Generals Grafen Bennigsen befindet sich Marschall Davoust, der Henker«, antwortete eine Stimme. »Und den wollt ihr sehen, Leute?«
»Jawohl – sehen und vielleicht sonst noch etwas.«
Ein allgemeines Gelächter folgte diesen Worten. »Möge er nur kommen, der gute Marschall – hohe Herren brauchen ja immer einen besonderen Empfang, wißt ihr!«
»Natürlich! Natürlich!«
Unsere Freunde drängten sich durch die Massen, bis vor das Haus des Generals; hier war an kein Durchkommen mehr zu denken. Wie eine feste Mauer standen die Menschen, jedes Auge beobachtete die Tür, hinter welcher der verhaßte Franzose sich befinden sollte.
Ein Wachtposten ging gemessenen Schrittes auf und ab; er schien klüglich die erregte Menge zu übersehen, selbst Fragen und beleidigende Zurufe ließ er unbeachtet.
»Du, Russe, sag einmal, ist es der Marschall, welcher bei deinem Gebieter speist?«
»Dummer Polacke, man müßte ihn prügeln, damit er das Antworten lernt!«
»Seid doch ruhig, Leute, wir können ja warten.«
»Unterdessen entkommt der Franzose durch den Garten nach der Elbstraße!«
»Hoch zu Roß? Das wäre unmöglich!«
»Und unmöglich wäre es auch, daß sich Marschall Davoust verkröche. Er ist tapfer wie ein Löwe, das muß ihm selbst sein Feind nachsagen.«
»Sieh! Sieh! Wer bist du denn, daß der Mordbrenner an dir einen so warmen Lobredner findet? Komm doch einmal hervor, Bürschchen!«
Es entstand ein Drängen und Stoßen, jemand wurde geohrfeigt, Frauen kreischten, die Menge teilte sich und der Gemaßregelte entschlüpfte, so schnell ihn seine Füße trugen. »Der Marschall ist doch ein tapferer Mann!« rief er aus einiger Entfernung, »tapferer als irgendein Deutscher!«
»Wart, verfluchter Däne!«
Es begann eine eifrige Jagd und vielleicht würde bei den damals hochgehenden Wogen politischer Erregung auch noch Blut geflossen sein, wenn nicht gerade zur rechten Zeit eine Stimme gerufen hätte: »Da kommt der Marschall!«
Niemand dachte mehr an den flüchtenden Dänen, aller Augen sahen hinüber zu der Tür, die jetzt den verhaßten Franzosen herausgeben sollte.
Nur der seitwärts gelegene Torweg war geöffnet worden; zwei Reitknechte brachten am Zügel ein schönes arabisches Pferd, dessen Satteldecke das Wappen des Marschalls zeigte. Durch die Menge ging ein Murmeln der Befriedigung; sie hatten also doch richtig gesehen, diejenigen, welche den Franzosen erkannten – nun mußte er auf jeden Fall herauskommen, mußte sich der versammelten, nach Tausenden zählenden Menge ungeschützt preisgeben.
Die nun folgende Pause der Erwartung schien allen eine Ewigkeit. Wieder erinnerten einige an die große Elbstraße. »Der Garten führt ja ganz bequem den Berg hinab – kein Auge kann die Sache beobachten.«
»Vielleicht steht das Pferd hier, um die Flucht des Marschalls zu decken.«
»Ah! – Ah! Jetzt kommt er!«
Die Doppeltüren öffneten sich; der Wachtposten präsentierte und alle Welt sah, wie sich der Franzose von dem ihn begleitenden General Bennigsen verabschiedete. Die beiden hohen Herren wechselten einen zeremoniellen Gruß, dann trat der Marschall hinaus auf die Straße. Unbekümmert, den letzten Knopf seiner Handschuhe schließend, sah er über das Meer von Köpfen ruhigen Blickes dahin.
Ein lautes Pfeifen und Zischen, ein tausendstimmiger Wutschrei empfing ihn. Davoust lächelte kalt, als höre er da Töne, die ihn nicht betrafen, etwas ganz, ganz Gleichgültiges. Langsam bestieg er das scharrende Pferd, die Knechte traten zur Seite – ein Zungenschlag und das Tier setzte sich in Galopp, die breite Palmaille hinab.
Ein Hagel von Steinwürfen erhob sich im selben Augenblick; die Menschenmenge schien den Weg versperren zu wollen, hier und da traf ein Wurfgeschoß das Pferd oder den Reiter, aber ohne die Kaltblütigkeit des letzteren erschüttern zu können. Er riß ein Pistol aus der Brusttasche und feuerte mitten in den Menschenhaufen hinein.
Nach rechts und links stoben die Leute auseinander; ein Mann fiel, von der Kugel getroffen, zu Boden und eine breite Blutspur färbte das Pflaster. Der Marschall ließ plötzlich sein Tier hoch aufbäumen und über die Nächststehenden hinwegsetzen; dann hatte er Raum gewonnen zur wilden Jagd durch die Mühlenstraße und weiter durch ganz Altona nach St. Pauli.
Tausende folgten ihm; das Pflaster wurde aufgerissen, um Steine zu erhalten, bis zum Nobistor dauerte die Jagd, dann streckten sich französische Bajonette den Nachstürmenden entgegen und der Marschall konnte den rasenden Galopp seines Renners mäßigen.
Der Getroffene war nur leicht an der Schulter verwundet, die Niedergeworfenen nur geschrammt, aber dennoch währte die Erbitterung fort; es vergingen Stunden, ehe der Platz wieder ganz still und verlassen dalag wie vorher.
Onnen und Mikosch sahen einander an. »Tapfer ist er doch!« flüsterte unser Freund. »Er schätzt das eigene Leben um nichts höher als das fremde.«
Sie gingen langsam nach Hause, wo schon alle Vorbereitungen zur Abreise getroffen wurden – nur wenige Tage noch, dann mußte sich‘s entscheiden, ob eins der dänischen Kanonenboote nach der Nordsee auslief und die kleine Gesellschaft unserer Freunde mitnehmen konnte; wenn nicht, dann wollten alle zu Fuß nach Bremen gehen, wo sich ohne Zweifel eine Schiffsgelegenheit finden würde.
Mikosch und Alexei hielten es in den geschlossenen Räumen des Hauses nicht länger aus, und auch die drei jungen Leute sehnten sich auf das lebhafteste nach geregelter Tätigkeit, nach dem Wiedersehen der langentbehrten Heimat.
Von Onnens Mutter war auf den letzten Brief keine Antwort gekommen. Die überall stattgehabten, ganz Hannover durchziehenden kleinen Gefechte und Scharmützel hatten alle Postverbindungen entweder vollständig aufgehoben oder doch sehr geschädigt, so daß durch diesen Umstand die Sehnsucht nach Norderney, in Onnens Herzen anfing, nachgerade jeden anderen Gedanken zu verdrängen.
In acht Tagen sollte nun die Wanderschaft wieder beginnen.
In Hamburg herrschte die Unordnung des Übergangszustandes. Mit Trommeln und Pfeifen bezogen eines Tages die Nachtwächter sämtliche Wachen, englische Matrosen besetzten das Arsenal und zuletzt zogen wieder die immer gern gesehenen Russen unter Bennigsen in die Stadt. Das war für die Franzosen das Signal zum Aufbruch, für den von allen Seiten nach Hamburg zurückgekehrten Pöbel aber außerdem auch die willkommene Gelegenheit, nun noch zu guter Letzt an den besiegten Feinden jede mögliche Rache zu nehmen.
Ganze Rotten sammelten sich in den Straßen, versperrten den Soldaten den Weg und griffen sie tätlich an, Steinwürfe flogen herüber und hinüber; die Franzosen luden ihre Gewehre und es entspannen sich Straßenkämpfe, welche die Russen mit blanker Waffe schlichten mußten. Die französischen Soldaten wurden dann von ihren Vorgesetzten gezwungen, auf den Wällen sämtliche Gewehre abzuschießen und in aller Stille dem vorangegangenen Marschall zu folgen.
Nun war Hamburg tatsächlich frei; der Feind hatte, gänzlich geschlagen, besiegt und verarmt, das Feld räumen müssen, nachdem ihm während der letzten Besetzung Hamburgs durch den Typhus nahe an zehntausend Mann verlorengegangen waren.
Unsere Freunde sahen noch das Jubelfest, bei dem Russen und Dänen vom Nobis- zum Millerntor Spalier bildeten, wo alle Schiffe und Häuser beflaggt waren, wo rotweiße Bänder alles und alle umschlangen – dann kam der Abschied.
Baron Liliencron hatte sich eifrigst bemüht, für seine Schützlinge Plätze an Bord eines dänischen Kanonenbootes zu erlangen, aber es war ihm unmöglich gewesen, und so mußten sie bis Bremen wandern.
Die ganze Familie, auch Frau Pehmöller mit ihren Kindern, brachten die Gäste der letzten Monate zur Fähre, die sie beim Bauhof über die Elbe setzen sollte. Nochmals sahen unsere Freunde empor zu dem ruinenhaften alten Gebäude – wie viele Tage des bittersten Elendes, wieviel Hunger und Frost hatten sie dort ertragen!
Eine furchtbare Zeit, dies letzte Jahr der französischen Besetzung!
»Nun ist‘s für uns alle überstanden«, sagte der Baron. »Gott gebe, daß Deutschland solche Zustände niemals wiedersehe!«
Onnen küßte die Kinder und diese liebkosten den Bären; nur mit Tränen in den Augen trennten sich die, welche während so schwerer Prüfungen treulich zueinander gestanden hatten.
»Ich danke Ihnen tausendmal, Onnen«, sagte Frau Pehmöller, »Sie haben mir im Augenblick der Not freundlichen Beistand geleistet, haben den Hanseaten die Flucht vor den französischen Kugeln ermöglicht – Gott lohne es Ihnen reichlich!«
Er wehrte ihr stumm, selbst tief ergriffen. Seine rechte Hand hielt der Baron, seine linke die weinenden Kinder. »Leb wohl, Onnen, leb wohl! Wir haben dich so lieb!«
»Gott beschütze euch – es ist mir, als müsse ich nochmals aus dem Elternhause scheiden.«
Auch Mikosch war tief erregt. »Wo immer der Zigeuner sein Zelt aufschlägt, wo er wandert öder seine Feuer brennen, da wird er des gnädigen Herrn gedenken und für ihn beten, für den, welcher sich zur Stunde der Not des Verlassenen annahm.«
Der Baron schlug kräftig in die Hand, welche ihm der alte Häuptling in treuherziger Dankbarkeit entgegenstreckte. »Lebe wohl, Mikosch, und möchte dein Ledergurt recht bald wieder straff werden! Was ich für dich tat, das geschah von Herzen gern!«
Auch die übrigen verabschiedeten sich und die Fähre stieß vom Ufer. Der letzte Teil der langen und gefahrvollen Reise hatte begonnen.