Kitabı oku: «Bilingualer Erstspracherwerb», sayfa 4
Die separate development hypothesis von De Houwer (1990, 2005, 2009, 277–287) kann nur im Zusammenhang mit der bekanntesten Hypothese zum bilingualen Erstspracherwerb, der Ein-System-Hypothese, verstanden werden, weil sie zu dieser in radikaler Antithese steht. Die bekannteste Ausprägung der Ein-System-Hypothese (Bergman (1976, 88) bezeichnet diese Hypothese als „mish-mash hypothesis“) ist in der deutschen Linguistik unter dem Namen Drei-Phasen-Modell bekannt (Müller et al. 2011, 97). Es handelt sich um die von Volterra und Taeschner (1978) vertretene Ansicht, der bilinguale Spracherwerb laufe in drei Phasen ab. Nach einer Anfangsphase, in der die Kinder über ein einziges hybrides Sprachsystem verfügen, tritt in der zweiten Phase die sprachliche Differenzierung auf der lexikalischen Ebene und in der dritten Phase auf der syntaktischen Ebene ein. Einige Jahre lang schien das Modell die Entwicklung der sprachlichen Kompetenz bilingualer Kinder am überzeugendsten wiederzugeben. Leopold (1939–1949, 1978), Burling (1959), Murrell (1966), Swain (1972), Redlinger und Park (1980), Saunders (1982), Vihman (1982, 1985, 1986) und Arnberg und Arnberg (1985) glaubten ebenfalls, in der Sprache der von ihnen untersuchten bilingualen Kinder eine Anfangsphase mit einem einzigen undifferenzierten Sprachsystem feststellen zu können. Doch schon bald erhob sich Kritik und ab Mitte der 1980er Jahre wurden die Zweifel an dem Modell immer lauter. Neuere Daten stellten die Hypothese in mehreren Aspekten in Frage (z. B. Meisel 1986, 1989; Genesee 1989; De Houwer 1990; Gawlitzek-Maiwald und Tracy 1996; Paradis und Genesee 1996; Lanza 1997; Deuchar und Quay 2000). Aber auch einige der altbekannten Daten waren mit ihr nicht kompatibel. Nicht vergessen sollte man zum Beispiel, dass schon Ronjat (1913) bei seinem Sohn Louis eine sofort einsetzende Sprachtrennung feststellte. Heutzutage geht die Mehrzahl der Forscher und Forscherinnen von getrennten Sprachsystemen aus (z. B. De Houwer 2009; Müller et al. 2011). Die Fragestellung ist nun eine andere und zwar diskutiert man, ob und wie die beiden Sprachen in beschränktem Maße interagieren. Laut der independent development hypothesis von Bergman (1976, 88, 94) und der separate development hypothesis von De Houwer (1990, 2005, 2009, 277–287) findet, wie wir gesehen haben, keine Interaktion statt. Ab Ende der 1990er Jahre setzte sich allerdings immer mehr die Auffassung durch, dass die beiden sich entwickelnden Sprachen nicht hermetisch voneinander abgeschlossen sein können. Es handelt sich um eine Synthese der vorhin genannten gegensätzlichen Standpunkte. „The bilingual is not two monolinguals in one person.“ ‚Der Zweisprachige ist nicht zwei Einsprachige in einer Person‘, wie Grosjean (1989, 4) richtig unterstreicht. In einer holistischen Sichtweise sind bilinguale Individuen nicht die Summe von zwei vollständigen oder unvollständigen monolingualen Individuen, sondern ganzheitliche Entitäten mit einem speziellen linguistischen Profil.
Eine ganze Reihe von Hypothesen versucht seitdem, die Interdependenz und Interaktion der beiden Sprachen systematisch zu erfassen. Die dominant language hypothesis von Petersen (1988, 486) betrifft vor allem die Richtung der Sprachmischung. Sie nimmt an, dass die grammatischen Morpheme der stärkeren Sprache mit lexikalischen Morphemen beider Sprache verbunden werden, die grammatischen Morpheme der schwächeren Sprache jedoch nur mit lexikalischen Morphemen der schwächeren Sprache verbunden werden können. Bekannter ist die von Gawlitzek-Maiwald und Tracy (1996) formulierte bilingual bootstrapping hypothesis. Der auch im Deutschen verwendete Begriff des Bootstrapping und das davon abgeleitete Verb booten sind vor allem in der Informatik verbreitet und beziehen sich auf Vorgänge, bei denen mit Hilfe eines einfachen Programms komplexere Programme aktiviert werden. Beim Hochfahren eines Rechners ist typischerweise eine einfache Instruktion verantwortlich für eine Kette von Prozessen, an deren Endpunkt ein zur Funktion bereites Betriebssystem steht. Ursprünglich handelt es sich um eine schon früh in den USA geläufige metaphorische Übertragung von ‚sich selbst an den Stiefelschlaufen hochziehen‘, also eine Abwandlung der Münchhausen-Methode, auf jede Art von selbstinduziertem Prozess. In der Linguistik ist in den letzten Jahrzehnten ebenfalls oft von Bootstrapping die Rede, allerdings meistens in einem etwas anderen Sinn. Im Falle der frühkindlichen Zweisprachigkeit kann eine Eigenschaft in der Sprache A selbstverständlich keine notwendige Voraussetzung für eine Eigenschaft in der Sprache B darstellen. Bootstrapping bedeutet hier lediglich, dass eine bestimmte Eigenschaft der Sprache A eine Eigenschaft der Sprache B verstärken kann. Laut Gawlitzek-Maiwald und Tracy (1996, 903) können Strukturen der einen Sprache Erwerbsprozesse in der anderen Sprache fördern: „Something that has been acquired in language A fulfills a booster function for language B.“ ‚Etwas das in der Sprache A erworben wurde, erfüllt eine verstärkende Funktion für Sprache B.‘
Eine schwächere Fassung der Hypothese würde zumindest bedeuten, dass sprachliche Ressourcen temporär gemeinsam genutzt werden („temporary pooling of resources“). Im Bereich des Wortschatzes wurde schon vor Gawlitzek-Maiwald und Tracy (1996) vorgeschlagen, die Sprachmischung als temporäre Hilfsstrategie zu interpretieren, bei der Wörter der einen Sprache lexikalische Lücken der anderen Sprache füllen (beispielsweise Volterra und Taeschner 1978, 317; Genesee 1989, 167). Gawlitzek-Maiwald und Tracy (1996) meinen, dass dies auch auf der syntaktischen Ebene möglich sei. Besonders wenn sich die beiden Sprachen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickeln, könnten Strukturen, die in der stärkeren Sprache schon erworben wurden, den Erwerb von ähnlichen Strukturen in der schwächeren Sprache stimulieren. Die ivy hypothesis von Bernardini und Schlyter (2004) betrifft ebenfalls die Beziehung von zwei sich in einem Kind entwickelnden Sprachen und die Richtung der Sprachmischung. Die schwächere Sprache wächst wie Efeu, so die Annahme, auf dem Gerüst der grammatischen Strukturen der stärkeren Sprache.
Die cross-linguistic influence hypothesis von Hulk und Müller (2000) und Müller und Hulk (2001) beschäftigt sich ebenfalls mit der Interaktion der beiden Sprachen, geht aber über die vorhin beschriebenen Hypothesen hinaus. Sie stützt sich auf Gedanken von Paradis und Genesee (1996, 3 f.) und vor allem Döpke (1997, 1998). Da sie neben der Stimulierung auch die Verzögerung der einen Sprache durch die andere ins Auge fasst, erweitert sie die Hypothese von Gawlitzek-Maiwald und Tracy (1996). Auch sie geht von der grundsätzlichen Annahme zweier getrennter Sprachsysteme aus. Die beiden sich autonom entwickelnden Sprachsysteme können sich jedoch unter bestimmten Voraussetzungen gegenseitig beeinflussen. Der Spracheinfluss führt nicht zu einem gemischten oder fusionierten System, sondern manifestiert sich, wie von Paradis und Genesee (1996, 3 f.) angedeutet, als Transfer, Beschleunigung oder Verzögerung von grammatischen Eigenschaften. Das kann zu einer Sprachentwicklung führen, die sich von derjenigen eines monolingualen Kindes unterscheidet. Der Spracheinfluss betrifft lediglich Teilbereiche einer Sprache und hängt von der spezifischen Kombination der beiden von dem Kind erworbenen Sprachen ab. Hulk und Müller (2000, 228 f.) und Müller und Hulk (2001, 2) formulieren zwei Bedingungen für den Spracheinfluss. Erstens müssen sich die in Frage kommenden grammatischen Phänomene an der Schnittstelle zwischen Syntax und Pragmatik befinden. Die zweite und entscheidende Bedingung finden wir bereits in Döpke (1997, 106 f., 1998, 558 f., 581 f.). In bestimmten syntaktischen Bereichen müssen die beiden Sprachen überlappen. Genauer gesagt, die Sprache A verfügt über Konstruktionen, die zwei syntaktische Interpretationen zulassen, und in der Sprache B ist eine dieser beiden Interpretationen möglich. Ein wesentlicher Unterschied dieser Hypothese gegenüber der bilingual bootstrapping hypothesis ist demnach, dass der Spracheinfluss auf innersprachliche und strukturelle Faktoren zurückgeführt wird und nicht auf außersprach liche, wie beispielsweise ein starkes Kompetenzgefälle zwischen stärkerer und schwächerer Sprache (Yip 2013, 123).
Von Relevanz für den bilingualen Erstspracherwerb ist auch die von Paradis (1984, 1985, 1993, 2004, 2007) vorgeschlagene activation threshold hypothesis, die zu erklären versucht, wie mehrsprachige Individuen Sprache verarbeiten. Die Grundidee dieser psycho- und neurolinguistischen Hypothese ist, dass die Verfügbarkeit sprachlicher Elemente von der Häufigkeit ihrer Aktivierung und dem Zeitabstand zur letzten Aktivierung abhängt. Ein sprachliches Element wird erst dann aktiviert, wenn eine ausreichende Anzahl positiver neuronaler Impulse vorhanden ist. Diese Anzahl stellt die Aktivierungsschwelle dar (Paradis 1993, 138, 2004, 28). Die Schwelle ist dauernder Variation unterworfen. Jedes Mal wenn ein Element aktiviert wird, sinkt die Schwelle und weniger Impulse sind zu seiner Reaktivierung notwendig. Wenn jedoch ein Element über längere Zeit nicht reaktiviert wird, erhöht sich die Schwelle wieder. Je länger ein Element nicht aktiviert wird, desto höher steigt die Schwelle. Die Aktivierung eines neuronalen Elements hat zur Folge, dass sich die Aktivierungsschwelle potentieller Mitbewerber automatisch erhöht. Paradis (1993, 138, 2004, 28) spricht hier von Inhibition. Für das bilinguale Individuum bedeutet dies, dass durch die Aktivierung einer Sprache die Schwelle der zweiten Sprache erhöht wird, um Interferenzen zu unterdrücken. Der intensive Kontakt mit einer Sprache vermindert die Aktivierungsschwelle dieser Sprache und erhöht gleichzeitig die Schwelle der zweiten Sprache, wodurch sich in letzterer Sprachabbauphänomene wie Sprachmischung, Wortfindungsschwierigkeiten und so fort manifestieren können (Paradis 2007, 125–129). Die Hypothese ist zweifelsohne attraktiv, weil sie für den subjektiven Eindruck vieler multilingualer Sprecher und Sprecherinnen, die verminderte Verwendung eine ihrer Sprachen erschwere den Zugriff auf sie, eine theoretische neurolinguistische Erklärung bietet. Allerdings fehlen bis heute Studien, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der verminderten Intensität des Kontaktes mit einer Sprache und ihrem Abbau nachweisen können (Dostert 2009, 47).
In der Forschung zum monolingualen Spracherwerb wird oft die Frage gestellt, wie es möglich ist, dass Kinder mit solch einer erstaunlichen Schnelligkeit neue Wörter lernen. Oftmals kennen sie ein neues Wort nach nur einmaligem Hören. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass Kinder sich an kognitiven Leitlinien orientieren, welche die möglichen Wortbedeutungen einschränken (Tomasello 2003b, 84–87). Mit anderen Worten, Kinder würden beim Bedeutungserwerb dank kognitiver Prinzipien eine bestimmte Wortinterpretation einer anderen vorziehen. Zwei Prinzipien dieser Art könnten sein, dass sich ein Wort auf eine Klasse von Objekten bezieht, die sich gleichen, und dass sich ein Wort auf ein ganzes Objekt und nicht auf Teile davon bezieht (whole object assumption). Das bekannteste diesbezügliche Prinzip ist jedoch das principle of contrast (Clark 1987). Die von Markman und Wachtel (1988) angenommene mutual exclusivity assumption, im Deutschen Ausschließlichkeitsprinzip genannt (Szagun 2006, 145), bezeichnet zwar nicht genau das Gleiche, steht damit jedoch in engem Zusammenhang. Es handelt sich um die Annahme, laut der „any difference in form in a language marks a difference in meaning“ (Clark 1987, 2). Die Anwendung des Prinzips erleichtert den Kindern den Erwerb neuer Wörter, da es die möglichen Hypothesen über ihre Bedeutung einschränkt. Kinder nehmen beim Erwerb neuer Wörter an, dass sich zwei Wörter nicht auf das gleiche Objekt beziehen. Laut Clark (1987, 12) führt das allerdings dazu, dass Kinder anfangs Schwierigkeiten bei der semantischen Beziehung zwischen Unterbegriff und Oberbegriff haben. Wenn beispielsweise ein Erwachsener auf einen Hund zeigt und sagt Das ist ein Tier, wenden zwei- und dreijährige Kinder ein Nein, das ist ein Hund. Clark (1987, 13) nimmt an, dass das Kontrastprinzip auch bei bilingualen Kindern wirksam ist und in den Anfangsphasen des Spracherwerbs zur Vermeidung von Äquivalenten oder interlingualen Synonymen führt:
Young bilingual children face a similar problem. In the earliest stages of acquisition, they often accept only one label for a category despite exposure to a label from each language [...]. The result, from the young child’s point of view, is a single lexicon in which all terms should contrast.
‚Kleine zweisprachige Kinder stehen einem ähnlichen Problem gegenüber. In den frühesten Erwerbsphasen akzeptieren sie oft nur ein Etikett für eine Kategorie, obwohl sie in jeder Sprache mit einem Etikett konfrontiert sind [...]. Das Ergebnis ist, vom Standpunkt des Kindes, ein einziger Wortschatz, in dem alle Wörter zueinander in Opposition stehen.‘
Bilinguale Kinder würden jedoch früher als monolinguale Kinder zwei Wörter für das gleiche Objekt akzeptieren. Ab einem Wortschatz von 150 Wörtern würden sie merken, dass sie es mit zwei verschiedenen Sprachsystemen zu tun haben und das Kontrastprinzip nur innerhalb einer Sprache und nicht sprachübergreifend wirksam ist. In Clark (1993, 98) wird diese Grenze sogar auf 50 Wörter gesenkt. Es gibt allerdings Daten, sowohl von monolingualen als auch von bilingualen Kindern, die gegen das Kontrastprinzip sprechen. Blewitt (1994) weist nach, dass zwei- und dreijährige Kinder unter bestimmten Testbedingungen sehr wohl zwei Bezeichnungen für ein Objekt zulassen und gleichzeitig spezifische Unterbegriffe und Oberbegriffe akzeptieren (Tomasello 2003b, 73, 86). Eine Schildkröte kann also eine Schildkröte und ein Tier sein. Zwei- und dreijährige Kinder scheinen schon ein elementares Verständnis von semantischen Hierarchien zu haben. Die Erkenntnisse über Äquivalente im frühen bilingualen Erstspracherwerb stellen das Kontrastprinzip ebenfalls in Frage. Wie zahlreiche Studien nachweisen, treten Äquivalente auf, sobald zu Beginn des zweiten Lebensjahres die ersten Wörter und Holophrasen (Einwortäußerungen) produziert werden. Deuchar und Quay (2000, 59) stellen beispielsweise bei dem von ihnen beobachteten Kind im Alter von 0;10 bis 1;10 eine ganze Reihe von Äquivalenten fest und schließen daraus, dass das Kontrastprinzip in diesem Fall nicht zutreffen könne. Nur unter der Annahme, dass bilinguale Kinder von Beginn an über zwei getrennte Sprachsysteme verfügen, könne man das Kontrastprinzip aufrechterhalten (2000, 62).
3.3 Untersuchungs- und Forschungsmethoden
Die Daten, die zur Analyse der Fragestellungen und zur Überprüfung der Hypothesen herangezogen werden, stammen aus allen Bereichen der kommunikativen Kompetenz mehrsprachiger Kinder. Die ‚klassischen‘ Studien beschäftigten sich vornehmlich mit der Morphologie, der Syntax und dem Lexikon, seltener mit der Phonologie, wobei diese Bereiche recht isoliert voneinander betrachtet wurden. Auch neuere Untersuchungen fokussieren zumeist einzelne Bereiche, versuchen jedoch, diese innerhalb des gesamten kommunikativen Verhaltens vernetzt zu betrachten und zu analysieren.
Die in der Forschung zum bilingualen Erstspracherwerb eingesetzten Untersuchungsmethoden gehören zum gängigen Repertoire der Spracherwerbsforschung, der Psycholinguistik im Allgemeinen, der Neurolinguistik und teilweise auch der Soziolinguistik. Grundsätzlich kann man zwischen zwei Methoden oder empirischen Ansätzen unterscheiden, der Langzeituntersuchung und der Querschnittuntersuchung.
Die meisten der in den beiden nächsten Kapiteln beschriebenen Studien, etwa diejenigen von Ronjat (1913) oder Leopold (1939–1949), stellen den typischen Fall einer Langzeit-, Longitudinal- oder Längsschnittuntersuchung dar. In einer solchen Untersuchung wird der bilinguale Spracherwerb zumeist eines Kindes, seltener mehrerer Kinder, während eines bestimmten, manchmal jahrelangen Zeitraums systematisch beobachtet und registriert. Eine Langzeituntersuchung ist ein aufwändiges und arbeitsintensives Unterfangen, das einen oder mehrere Forscher und Forscherinnen über Jahre hinweg beschäftigt. Daher beschränken sich die meisten dieser Untersuchungen auf ein Kind oder günstigenfalls auf eine kleine Anzahl von Kindern. Da es sich um die Untersuchung einzelner Kinder, also einzelner Fälle handelt, spricht man auch von einer Fallstudie, im Englischen case study. Langzeituntersuchungen liefern ein genaues Bild der sprachlichen Entwicklung eines bilingualen Kindes. Dieser Umstand begünstigt die Formulierung von Hypothesen zum bilingualen Erstspracherwerb. Wie Yip und Matthews (2007, 57 f.) unterstreichen, stammen die meisten neueren Hypothesen und Theorien von Langzeituntersuchungen. Da diese Einzelfälle dokumentieren, sind sie jedoch bezüglich der allgemeinen Gültigkeit eines bestimmten Entwicklungsstadiums weniger aussagekräftig. Doch Forschungsergebnisse kumulieren sich und die Resultate einer einzelnen Langzeituntersuchung können jederzeit mit denjenigen vorhergehender Untersuchungen verglichen werden. Mit anderen Worten, eine Fallstudie dokumentiert zwar einen einzelnen Fall, findet jedoch nicht in Isolation, sondern vor dem Hintergrund anderer Untersuchungen statt (Deuchar und Quay 2000, 2).
Die Beobachtung der Kinder und die Registrierung ihrer sprachlichen Kompetenzen kann ganz unterschiedliche Ausmaße annehmen, zwei Methoden sind jedoch für Langzeituntersuchungen charakteristisch: Während die ersten Studien auf Tagebucheinträgen beruhten, stammt heutzutage ein Großteil der Daten von Audio- und/oder Videoaufnahmen. In jedem Fall, egal ob es sich um einfache Tagebucheinträge oder technisch anspruchsvolle Videoaufnahmen handelt, besteht ein im Prinzip unüberwindliches methodologisches Problem, das bekannte observer’s paradox:
The aim of the linguistic research in the community must be to find out how people talk when they are not being systematically observed; yet we can only obtain these data by systematic observation. (Labov 1972, 209)
‚Das Ziel der sprachwissenschaftlichen Forschung in der Sprechergemeinschaft muss sein herauszufinden, wie Menschen sprechen, wenn sie nicht systematisch beobachtet werden; doch wir können diesen Daten nur durch systematische Beobachtung erlangen.‘
Eine Konversation, die dadurch unterbrochen und eben auch verändert wird, dass der Forscher oder die Forscherin eine Äußerung des Kindes in das Tagebuch einträgt, ist ein typisches Beispiel für diese paradoxe Situation.
Tagebucheinträge hängen vom jeweiligen registrierungswürdigen Ereignis ab und erfolgen deshalb notwendigerweise in unregelmäßigen Zeitintervallen. Daten aus Tagebüchern beinhalten immer ein bestimmtes Maß an Subjektivität (McLaughlin 1978, 73). Ungewöhnliche oder nicht der Norm entsprechende Äußerungen werden mit größerer Wahrscheinlichkeit festgehalten als korrekte und unauffällige. Aus diesem Grund sind Tagebucheinträge weder repräsentativ noch für quantitative Rückschlüsse geeignet. Detaillierte und verlässliche Tagebucheinträge stellen jedoch eine wertvolle Ergänzung der Audio- und Videodaten dar. Seltene Phänomene, die in den Aufnahmen nicht zu Tage treten, können auf diese Weise erfasst und beschrieben werden. Yip und Matthews (2007, 72) weisen z. B. darauf hin, dass Relativsätze in ihren Aufnahmen kaum aufscheinen und die spezielle Entwicklung der pränominalen Relativsätze nur dank der Tagebucheinträge nachvollzogen werden kann.
Um speziell die Entwicklung des Wortschatzes festzuhalten, wird in heutigen Studien gelegentlich ein Lexikontagebuch geführt (Deuchar und Quay 2000; Klammler 2006; Klammler und Schneider 2011), in das die Eltern, wenn möglich täglich, die neuen Wörter des bilingualen Kindes eintragen. Die Tabelle 1 zeigt die Einträge im Alter von 1;4;11 aus Deuchar und Quay (2000, 15). Es gibt für solche Tagebücher kein spezielles Format. Entscheidend ist lediglich, dass die Eltern oder andere Beteiligte darin das Alter, das vom Kind verwendete Wort, die phonetische Transkription, die Bedeutung oder Bedeutungen des Wortes und Informationen zum außersprachlichen Kontext vermerken. Statt die Wörter des Kindes nach einer der beiden Sprachen zu klassifizieren, ist es sinnvoller, die Sprache der Gesprächspartner und -partnerinnen zu vermerken. Dadurch kann man später nachzeichnen, ob und wie sich das Kind an der Sprache der Gesprächspartner und -partnerinnen orientiert. Eine Klassifikation der Wörter nach Sprache ist hingegen oft schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, da viele Wörter (onomatopoetische oder lautmalerische Wörter, in beiden Sprachen gleichlautende Wörter, Eigennamen) in beiden Sprachen verwendet werden. Überdies enthalten besonders in den frühen Phasen des Spracherwerbs die Wörter der Kinder zumeist nur eine oder zwei Silben, was die Zuordnung zusätzlich erschwert (De Houwer 2009, 178). Wie man an den Tabellen 2 und 3 in Kapitel 5 sehen kann, sahen sich Volterra und Taeschner (1978) deshalb gezwungen, eine zusätzliche Kategorie anzulegen (Gawlitzek-Maiwald und Tracy 1996, 909; Klammler und Schneider 2011).
Tab. 1: Einträge, Lexikontagebuch im Alter von 1;4;11 (Deuchar und Quay 2000, 15)
Situation | Word | Gloss | Pronunciation | Additional information | Language of adult |
breakfast at home | gone | [gɔ:] | on finishing her cereal and juice | Spanish | |
breakfast at home | bajar | get down | [ba] | wanting to get down from her highchair | Spanish |
at home after breakfast | panda | [pa] | bringing mother a book showing panda | Spanish | |
leaving the house | casa | house | [ka] | pointing at the house from outside | Spanish |
lunchtime at university | zapato | shoe | [pa] | referring to her shoe | English |
arriving home | casa | house | [ka] | outside the house | Spanish |
at home | más | more | [ma] | wanting more of something | Spanish |
at home | bajar | get down | [ba] | wanting to get down | Spanish |
Audio- und Videoaufnahmen finden in regelmäßigen Zeitintervallen statt. Der subjektive Faktor bei der Auswahl der zu beschreibenden Phänomene wird dadurch vermieden und die Daten können zu quantitativen und statistischen Zwecken herangezogen werden. Je kürzer die Intervalle sind und je länger die Aufnahmen, desto genauer und zuverlässiger ist selbstverständlich die Datenerfassung. Aufgrund vieler objektiver Beschränkungen, wie z. B. zeitliche Verfügbarkeit und Bereitschaft der Kinder und ihrer Eltern, verfügbare Räumlichkeiten, verfügbare technische Ausrüstung oder Dauer der Transkriptionsarbeit, liegen wöchentliche Aufnahmen im Ausmaß von einer Stunde schon an der oberen Grenze der Machbarkeit. Bei einer sich über ein oder zwei Jahre erstreckenden Beobachtungszeit ist die Menge der zu bearbeitenden und analysierenden Daten schon so enorm, dass sie im Normalfall auch bei einem einzigen beobachteten Kind nur von einer Forschergruppe bewältigt werden kann. Aber auch diese Daten können nur einen Bruchteil der kindlichen Äußerungen dokumentieren. Tomasello und Stahl (2004) schätzen, dass die im CHILDES-Datenbanksystem verfügbaren Aufnahmen jeweils nur ca. 1 % der vom Kind produzierten und gehörten Sprache erfassen. Häufige Sprachstrukturen treten in solchen Daten sicherlich an den Tag, seltene Erscheinungen können hingegen auch nach stundenlangen Aufnahmen fehlen, weshalb ich vorhin auf den Nutzen verlässlicher Tagebucheinträge hingewiesen habe. Die Dauer der Intervalle und Aufnahmen erweist sich dann als besonders wichtig, wenn bei Überlegungen zum Entwicklungsverlauf der Zeitpunkt des ersten Auftauchens einer Sprachstruktur bestimmt werden soll (Yip und Matthews 2007, 61).
Die Aufnahme spontaner kindlicher Sprachäußerungen muss sorgfältig geplant und vorbereitet werden. Die Umgebung und das Setting sollten kindgerecht und vor allem natürlich sein. Speziell dafür eingerichtete Räumlichkeiten bringen zwar technische Vorteile, stellen meistens jedoch im Unterschied zum gewohnten Spielzimmer des Kindes eine neue Umgebung dar. Wichtig ist eine ungezwungene Atmosphäre, da Kinder rasch herausbekommen, dass sie im Mittelpunkt des Geschehens stehen, und die Erhebung dadurch verfälscht werden kann. Bei bilingualen Kindern sollten je Sprache unterschiedliche Gesprächspartner und -partnerinnen zur Verfügung stehen. Diese sind idealerweise Personen, mit denen das Kind gewöhnlich Umgang hat und mit denen es vertraut ist (Mutter, Vater, größere Geschwister, enge Verwandte oder Freunde). Neue, ungewohnte Personen können das kindliche Sprachverhalten beeinflussen. Aus diesem Grund ist die Anwesenheit des Forschers oder der Forscherin nur in Ausnahmefällen empfehlenswert. Wenn es technisch und organisatorisch machbar ist, sollte man deshalb die jeweiligen Gesprächspartner und -partnerinnen bezüglich Aufnahmedauer, -intervall und -modus unterweisen und ihnen danach die Aufnahme ganz überlassen, wie das in den Studien von Lanza (1997), Klammler (2006) und Koroschetz (2008) gehandhabt wurde.
Zur Transkription gesprochener Sprache gibt es eine ganze Reihe erprobter Verfahren und Formate. In der Spracherwerbsforschung werden die Aufnahmen zumeist gemäß dem CHAT-Format (Codes for the human analysis of transcripts) transkribiert und annotiert. Es handelt sich um ein Format, das für die Transkription gesprochener Sprache nicht unbedingt das geeignetste ist. Denn wie bei jedem vertikalen oder sequenziellen Transkriptionsformat kann das gleichzeitige Sprechen von zwei oder mehreren Gesprächsteilnehmern nur schwer dargestellt werden. Das CHAT-Format sieht darüber hinaus für jede Äußerung eine neue Zeile vor und zwingt dadurch automatisch zu einer Segmentierung in Redeeinheiten. CHAT wird deshalb bei der Transkription von Gesprächen zwischen Erwachsenen selten angewendet (eine der wenigen Ausnahmen ist das C-ORAL-ROM-Corpus; Cresti und Moneglia 2005). Es hat aber in der Forschung zum mono- und bilingualen Spracherwerb große Verbreitung und kann als Standard betrachtet werden. Das Format wurde im Rahmen des CHILDES-Datenbanksystems (Child language data exchange system; http://childes.psy.cmu.edu/; MacWhinney 2000) entwickelt, das an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh betrieben wird. Es ist verhältnismäßig leicht zu handhaben und wird durch spezielle Software und ausführliche Handbücher unterstützt. CHAT-konforme Transkripte können mit dem CLAN-Programm (Computerized language analysis) systematisch durchsucht werden. Der größte Vorteil des Formates ist die Möglichkeit, die standardisierten Transkripte nach Rücksprache mit den Administratoren in die Datenbank hochzuladen. Diese stehen dadurch der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur freien Konsultation zur Verfügung. Das CHILDES-Datenbanksystem enthält zurzeit mehr als 130 Korpora, d. h. Sammlungen von Aufnahmen, die nach einheitlichen Standards aus vielen verschiedenen Einzelsprachen erhoben wurden.
Ein Transkript im CHAT-Format besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen (Abbildungen 2, 3 und 7). Der Transkriptkopf (header) enthält auf mehreren Zeilen, die alle mit dem @-Zeichen beginnen, Informationen über die Sprache, die Gesprächsteilnehmer, die Zeit, den Ort, die Aufnahmesituation und Ähnliches. Das eigentliche Transkript beginnt danach und enthält Zeilen mit dem *-Zeichen, gefolgt von der Abkürzung für die einzelnen Teilnehmer und von ihren Äußerungen. Erläuterungen zur Äußerungssituation, zu Elementen nonverbaler Kommunikation und zu anderen Faktoren werden in den von einem %-Zeichen und Abkürzungen eingeleiteten Kommentarzeilen unmittelbar unter eine Äußerungszeile geschrieben (Abbildung 3). Durch die Abkürzungen werden die Kommentare bestimmten Kategorien zugeordnet. Die Abkürzung sit z. B. bedeutet, dass es sich um eine situationsbezogene Information handelt, mit gls werden Glossen oder Übersetzungen angezeigt.
@Loc: | Biling/Koroschetz/2de.cha |
@Languages: | deu |
@Participants: | CHI Manuel Target_Child, MOT Doris Mother |
@ID: | deu|koroschetz|CHI|2;10.14|male|||Target_Child||| |
@ID: | deu|koroschetz|MOT|||||Mother||| |
@Transcriber: | Carina |
@Date: | 09-JUN-2007 |
@Location: | Naples, Campania, Italy |
@Situation: | free playing with mother |
*MOT: | was willst du machen? |
*MOT: | die Schachtel willst du aufmachen? |
*MOT: | schaffst dus [: du es] alleine oder soll die Mama helfen? |
*CHI: | die Mama soll. |
*MOT: | hmm, was soll die Mama machen. |
*CHI: | sitz oben. |
*MOT: | wo sitzt du? |
*MOT: | was isn [: ist denn] das? |
*CHI: | ein Polster. |
*MOT: | ein Polster, was für ein Poster? |
*CHI: | von Winnie Puh. |
*MOT: | wie gehtn [: geht denn] das auf? |
*MOT: | schau auf der Seite macht man das auf, schau so. |
*MOT: | und was is(t) da drinnen? |
*CHI: | ein Zettel und ein +... |
*MOT: | das is(t) leer, die Schachtel ist nicht interessant, hmm? |
*MOT: | die machma [: machen wir] wieder zu. |
*MOT: | wart komm her, die Mama hilft dir. |
*CHI: | ein Zettel. |
*MOT: | so, und was spielma [: spielen wir] jetzt schönes? |
*MOT: | hmm, was magstn [: magst du denn] machen? |
*CHI: | tu jetz ein Pini machen. |
*MOT: | ein Picknick möchtest du machen? |
*CHI: | ein zest. |
*MOT: | ein Fest? |
*CHI: | ja. |
*MOT: | was für ein Fest? |
*CHI: | das ist ein Pinit. |
[...] | |
@End |
Abb. 2: Transkript im CHAT-Format (Koroschetz 2008 und http://childes.psy.cmu.edu)
@Loc: | Biling/Koroschetz/1it.cha |
@Languages: | ita |
@Participants: | CHI Manuel Target_Child, FAT Gianni Father, MOT Doris Mother |
@ID: | ita|koroschetz|CHI|2;9.13|male|||Target_Child||| |
@ID: | ita|koroschetz|FAT|||||Father||| |
@ID: | ita|koroschetz|MOT|||||Mother||| |
@Media: | 1it, audio |
@Transcriber: | Carina |
@Date: | 09-MAY-2007 |
@Location: | Naples, Campania, Italy |
@Situation: | free playing with father, reading a book |
*FAT: | che c’è? |
*CHI: | lila mamma. |
%sit: | The mother is sometimes present during the recording. |
*FAT: | lila? |
*FAT: | che cosa c’è di lila? |
*CHI: | le lil, le lil. |
*FAT: | ha, che cosa cerchiamo di lila? |
*FAT: | che cosa stiamo faccendo? |
*CHI: | so lila montare. |
*FAT: | montare lila cosa? |
*CHI: | lila dinari. |
%gls: | lila binario. |
*FAT: | lila? |
*CHI: | denari. |
%gls: | binari. |
*FAT: | denari? |
*CHI: | binari. |
*FAT: | binari! |
*CHI: | si. |
*FAT: | i binari lila, hoho. |
*FAT: | ma riusciamo a chiudere secondo te? |
*CHI: | si. |
*FAT: | pure secondo me riusciamo a chiudere bene. |
*CHI: | si. |
*FAT: | hoho, adesso che abbiamo chiuso ma che facciamo? |
*CHI: | camminare xxx su le lila con la lila binara. |
[...] | |
@End |
Abb. 3: Transkript im CHAT-Format (Koroschetz 2008 und http://childes.psy.cmu.edu)