Kitabı oku: «Machtästhetik in Molières Ballettkomödien», sayfa 6
Fazit
Zusammenfassend lässt sich für die Dramenstruktur in Molières Ballettkomödie anführen, dass es drei fiktionale und eine realitätsbezogene Kommunikationsperspektive gibt. Der Zuschauer verfolgt bei der Wahl der dramatischen Perspektive das Geschehen aus der Sicht der daran beteiligten Figuren. Er nimmt aus der metadramatischen Perspektive die binnenfiktionale Realitätsverfremdung wahr, die von einem medialen Umschwung begleitet ist. Aus der theatralischen Perspektive betrachtet er die Entfaltung der Geschichte als Spiel. Er konfrontiert auf der lebensweltlichen Perspektive die auf der Bühne dargestellten Normen mit seinen eigenen Verhaltenserwartungen respektive mit seinem Erwartungshorizont. Die zugrunde liegende Geschichte fungiert dabei als Referenzpunkt für die einzelnen Perspektiven.1 Daraus lässt sich konkludieren, dass sich die Dramenstruktur der Ballettkomödie aus den vier vermittelnden Kommunikationsebenen und der Ebene der Geschichte zusammensetzt.
Wie das Weltmodell strukturell im Sujet angelegt ist und wie die Sujethaftigkeit der Texte bestimmt werden kann, wird im Folgenden mit einer gattungstypologisch adaptierten Version des lotmanschen Sujet-Modells erläutert.
2.2 Sujetstruktur
Die Ebene der Geschichte spielt im Hinblick auf die Dramenstruktur eine entscheidende Rolle, da sie als Bezugspunkt für die einzelnen Kommunikationsebenen gilt. Vor dem Hintergrund eines Sinngehalts der Geschichte lässt sich das Ereignis beziehungsweise Sujet als ihr thematischer Kern verstehen. Sein Gerüst wird aus dem kulturellen System, aus welchem der literarische Text entspringt, zusammengesetzt und künstlerisch verdichtet respektive modelliert. Der Kultursemiotiker Jurij Lotman geht davon aus, dass das Sujet ein semantisches Feld ist, das in zwei komplementäre Teilmengen gegliedert ist und die binäre Struktur von Kulturmodellen reflektiert.1 Die Sujethaftigkeit in künstlerischen Texten substanziiert sich immer in ihrem Verhältnis zum kulturellen Leitbild der Norm. Einerseits kann die klassifikatorische Grenzlinie zwischen den beiden Bereichen überschritten werden, sodass Texte als revolutionär bezeichnet werden können, sofern die Grenzziehung missachtet wird und der Held sich im neu betretenen Teilbereich etabliert. Andererseits kann die Grenzlinie respektiert werden, sodass Texte als restitutiv bezeichnet werden können, sofern der Held innerhalb eines Teilbereichs verweilt.2 Dergestalt stellt die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes ein Ereignis innerhalb der Geschichte dar.3 Die Anordnung von Ereignissen bildet die übergeordnete Handlungsstruktur, also das Sujet, sodass das Ereignis im Umkehrschluss „die kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus“4 darstellt. Die Entfaltung eines Ereignisses respektive der Übergang über eine semantische Grenzlinie ist somit als Sujet zu bezeichnen.5 Das Sujet kann entweder assimilierend in Bezug auf die Kohärenz einer alten Ordnung oder akkommodierend in Bezug auf eine neue, noch vage Kohärenz wirken.6 Daraus ergibt sich, dass die Sujethaftigkeit in verschiedene Abstufungen einzuteilen ist.
Die verschiedenen Grade der Sujethaftigkeit sind nach Lotman mit den Termini ‚Ereignis‘ und ‚Metaereignis‘ zu fassen und hängen davon ab, ob das Ereignis reversibel oder irreversibel ist:7 Der Begriff ‚Ereignis‘ ist hierarchisch als Oberbegriff einzelner Ereignisse zu verstehen und impliziert auf dieser Ebene eine Aktion, die eintritt, wenn eine Figur die Grenze zweier semantischer Räume8 übertritt, allerdings das System dieser semantischen Räume in der dargestellten Welt dabei „in der Zeit invariant“9 bleibt und sich nur der Zustand der Figur verändert, die Weltordnung aber in ihrer Konstanz erhalten bleibt. Für ein Ereignis ist es irrelevant, ob es sich physisch konkret oder innerhalb der Psyche der Figuren zuträgt. Es restituiert folglich die Ausgangssituation der Handlungswelt in der Komödie. Dagegen liegt ein Metaereignis dann vor, wenn eine Figur die Grenze zweier semantischer Räume überschreitet, allerdings infolgedessen das System dieser semantischen Räume in der dargestellten Welt „selbst in der Zeit transformiert wird“10 und sich nicht nur der Zustand der Figur verändert, sondern auch die Weltordnung modifiziert wird. Es revolutioniert folglich die Ausgangssituation der Handlungswelt in der Komödie. In letzter Konsequenz verlieren etablierte Ordnungsgrundsätze der Handlungswelt ihre semantischen Räume.
Die in Molières Ballettkomödien existierenden Metaereignisse bedürfen einer weiteren Erklärung. Obschon sich das Weltbild tatsächlich ändert, sind die Reichweite und deren revolutionäre Wirkung beschränkt, fehlt doch das ästhetische Handlungskohärenzkriterium der innerfiktionalen vraisemblance, die in der Klassik auf dem Kompositionsprinzip der raison fußt. So kann beispielsweise die Rechtfertigung für die gezogene semantische Grenzlinie innerhalb der Fiktion fehlen und die Fiktion dennoch sinnfällig erscheinen. Außerdem kann die Handlungswelt verfremdet in einem exotischen respektive märchenhaften Raum-Zeit-Universum dargestellt werden und die schicksalhaften, übermenschlichen Fügungen können nur indirekt mit der höfischen Weltordnung korrespondieren. Es fehlt ein apodiktischer, lebensweltlich legitimierter Maßstab innerhalb der Fiktion, der diese Metaereignisse bedingt mit dem zeitgenössisch-kulturellen Kontext in Einklang bringen lässt. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen ist hinsichtlich des Grenzgängertums von einem limitierten Metaereignis zu sprechen.
Der von Andreas Mahler eruierte frühneuzeitliche Sujetwandel11 impliziert verschiedene Grade der Sujethaftigkeit literarischer Texte, die zu Molières Zeiten vorwiegend im Theater ausgedrückt werden. Transformation gestaltet sich in der Tragödie weitaus stärker als in der Komödie, da in Letzterer das Konstruktionsprinzip in Zusammenhang mit dem Auftreten des Komischen und seiner Aufhebung steht.12 In Molières Ballettkomödien greift dieses Restitutionsprinzip nicht mehr ganz. Das dynamische Moment des Sujetumbruchs gibt sich darin deutlich zu erkennen, dass die Aufhebung des Komischen an manchen Stellen nicht mehr stattfindet. Die konfliktive Situation wird einfach überspielt, hinweggespielt. Es manifestieren sich neue Strukturen, die unterschwellig auf ein Metaereignis hinweisen, da der Konflikt am Ende der Komödie nicht aufgelöst, sondern mittels musikalischer und tänzerischer Einlagen fortgetragen wird. Das moralische Substrat wird ästhetisch neutralisiert, seinem moralischen Duktus enthoben. Die transformierte Handlungswelt besteht weiterhin ohne die Restitution der alten Ordnung fort, allerdings unter dem Deckmantel einer List, die den subversiven Charakter des Sujets maßgeblich mitprägt.
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es notwendig, eine dritte Abstufung der Sujethaftigkeit zu etablieren, das Pseudo-Metaereignis, das – so meine Definition – dann vorliegt, wenn eine Figur die Grenze zweier semantischer Räume konspirativ übergeht, allerdings infolgedessen das System dieser semantischen Räume in der dargestellten Welt hypothetisch im Sinne eines metafiktionalen ‚Als-ob‘ „selbst in der Zeit transformiert wird“ und sich der Zustand der Figur verändert. Die Weltordnung wird mit einer List modifiziert und es findet keine heldenhafte Konfliktaustragung, keine Endbereinigung statt. Das Pseudo-Metaereignis revolutioniert folglich die Ausgangssituation der Handlungswelt in der Komödie, obgleich die Reaktion auf die Grenzüberschreitung ausbleibt, da die Geschichte vorzeitig endet und mit Balletttänzen ausklingt. Da die Endsituation im Einklang mit den Intentionen der vermeintlich reüssierenden Figur steht, zeigt dieses Schauspiel ein Potenzial an subversiven Elementen auf. Das Theaterstück divergiert sowohl vom eigentlich herrschenden Weltbild der Handlungswelt in der Komödie als auch von der tatsächlichen Wirklichkeitserfahrung der Zuschauer, sodass ein komplexer Grenzraum zwischen gesellschaftlicher Referenzialität und (meta-)theatraler Fiktion entsteht. Diese Komödien enden im Zeichen des Scheins eines Metaereignisses, sind aber aufgrund der inszenierten Täuschung in ihrer Sujethaftigkeit als Pseudo-Metaereignisse zu bezeichnen. Ein limitiertes Metaereignis grenzt sich schließlich von einem Pseudo-Metaereignis dadurch ab, dass hier eine objektive Weltbildtransformation gelingt und sonach ein höheres revolutionäres Potenzial impliziert ist. In Anbetracht der Tatsache einer Koexistenz von Pseudo-Metaereignissen und limitierten Metaereignissen spiegeln Molières Ballettkomödien gesellschaftliche Umbrüche in ihren Sujethaftigkeitsgraden wider.
Für die Erfassung der Sujethaftigkeit der Komödien spielt die Struktur der einzelnen Sujetschichten eine wichtige Rolle, die wiederum im Hinblick auf die Bestimmung der komischen Agone relevant sind. Die erläuterten Zusammenhänge lassen erkennen, dass sich das künstlerische Sujet in verschiedene Schichten unterteilen lässt, da die sujetkonstitutiven Ereignisse einen Knotenpunkt von textexternen und -internen Weltsystemen bilden. Sie werden sowohl auf den lebensweltlichen Kontext hin zugeschrieben als auch bedeutsam im Hinblick auf ihren binnenfiktionalen Handlungsweltkontext. Die Hauptsujetschicht orientiert sich am kulturellen System, da dieses den Maßstab für die Sujethaftigkeit literarischer Texte bildet; sie ist als Grundstruktur zu bezeichnen. Ergänzend treten textspezifische Nebensujetschichten hinzu, die auf dieser Grundstruktur beruhen, sich aber aus dem textinternen Normenverständnis ergeben, welches sich in Molières Ballettkomödien aufgrund unmoralischer wie auch amoralischer Verhaltensweisen der Figuren in der Handlungswelt konstituiert. Es ist davon auszugehen, dass beide Schichten in einem Interdependenzverhältnis zu den genannten Kommunikationsebenen stehen.13 Daraus folgt, dass die Sujetebenen als „Ermöglichungsmomente für bestimmte Vermittlungsformen“14 begriffen werden. Der thematische Kern der Ballettkomödie entfaltet sich über die verschiedenen Sujetschichten und die Kommunikationsebenen. Doch worin besteht dieser thematische Kern in Molières Ballettkomödien?
2.2.1 Handlungsaspekte und Sujetstruktur
Jacques Truchet leitet das Vorwort seines Sammelbandes Thématique de Molière mit einem Wort ein, das die thematische Dimension der Komödien repräsentiert: ‚Polyphonie‘. Es demonstriert die Themenvielfalt sowohl innerhalb eines Theaterstücks als auch in der Werksgänze. Um die Gesamtheit des Komödienuniversums überblicken zu können, sind die Sujetstrukturen der Stücke im Einzelnen zu betrachten. Hierzu erleichtert ein Zitat von Truchet den Einstieg:
La thématique moliéresque est toujours strictement hiérarchisée: en chaque pièce, en chaque scène, en chaque tirade, un thème majeur et central draine tous les autres et assure l’unité; les autres lui sont subordonnés et n’apparaissent qu’en passant, quitte à ce qu’en une autre pièce la hiérarchie se trouve inversée […].1
Es handelt sich um eine hierarchisierte Polyphonie und nicht um eine gleichrangige. Diese Erkenntnis lässt sich für mich gemäß den obigen Ausführungen mit den Begriffen ‚Hauptsujetschicht‘ und ‚Nebensujetschichten‘ fassen. Der Terminus ‚Sujet‘ ist dem der ‚Handlung‘ vorzuziehen, da ersterer im Unterschied zur rein dramenstrukturierenden Handlung wegen seiner Korrespondenz mit dem kulturellen System in Bezug zu zeitgenössischen Moral- und Wertevorstellungen steht. Dennoch erscheint es an einigen Stellen der Analyse zum Zwecke einer differenzierten Betrachtung von Belang, beide Begriffe zu verwenden. Eine Engführung der Termini bestimmt den Begriff der ‚Sujetstruktur‘. Manfred Pfister spricht von einer triadischen Struktur der Handlung im Drama, die aus einer Ausgangssituation, dem Veränderungsversuch und der veränderten Situation besteht.2 Dieser Vorgang ist als Sujetbewegung zu bezeichnen, da sich der thematische Kern unter dramentextstrukturierenden Konditionen ‚bewegt‘. Die Handlungsstruktur lässt sich folglich aus der Sujetstruktur ableiten und über den Sujetbegriff lassen sich lebensweltliche Moralkonzeptionen auf den Dramentext applizieren.
Der Handlungsbegriff zentriert sich auf eine Figur, die in der Haupthandlung der Komödie der komische Held ist. Von ihm und seiner Motivation wird die Handlung in Gang gebracht. Diese Motivation wird mit dem von Henri Bergson geprägten Begriff der idée fixe näher beschrieben. Es handelt sich um eine eigensinnige Idee, die von einer Hauptbühnenfigur unnachgiebig verfolgt wird; selbst wenn deren Ausführung ständig unterbrochen wird, kommt die von ihr besessene Figur immer wieder auf sie zurück.3 Das handlungsmächtige Subjekt ist der komische Held in Molières Komödien, der seine Ideologie verabsolutiert und maßgeblich das Handlungsgerüst beeinflusst. Das Initiationsereignis des Umschlagens von einer vernünftigen zu einer unvernünftigen Figur wird in den Komödien impliziert, nicht aber thematisiert; eine Thematisierung erfährt lediglich das Ausleben der transformierten Persönlichkeit. Die anderen Bühnenfiguren widersetzen sich der Entfaltung dieser idée fixe und sorgen für einen Konflikt. Besondere Brisanz erhält dieser Konflikt dadurch, dass die komischen Helden Autoritätsfiguren in den Handlungswelten verkörpern, sodass sich die Auseinandersetzung mit den anderen Bühnenfiguren bis zu einer hochgradigen Sujethaftigkeit im Spiel hochschaukeln kann. Aus dieser Konstellation ergibt sich eine Dynamik, anhand derer sich die Komödienhandlung im Sinne eines abstrakten Strukturprinzips als dominant paradigmatische Reihung von ridicula charakterisieren lässt.4 Ein Moment der Unordnung dient als Ausgangspunkt für die Intrige, die letzten Endes ein Tauziehen um die Macht thematisiert. Molières Komödiensujets stehen im Zeichen eines Machtkampfes, denn dort wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.5
Bevor es jedoch zu einer Auseinandersetzung zwischen dem komischen Helden und den anderen Figuren kommt, fand bereits eine psychische Konfliktsituation im Inneren des komischen Helden statt, die von einer Grenzüberschreitung gezeichnet ist und deren Resultat in seinem Agieren exteriorisiert wird. Dieses präkomödiale Dilemma prägt die Ausgangslage der Komödienintrige. Der komische Konflikt ist auf die idée fixe zurückzuführen, die wiederum innerpsychisch im komischen Helden verwurzelt ist und ihre Motivation im amour-propre hat. Der Begriff der Eigenliebe ist im Diskursfeld der französischen Moralistik zu verorten, die den interêt als symptomatisch für das menschliche Handeln begreift. Die Eigenliebe steht vor dem gesellschaftlichen Interagieren des Individuums, vor der sozialen Rolle.6
Diese konfliktive Situation im Innern des komischen Helden lässt sich mit Lotmans Sujetmodell erfassen, weil der komische Held innerhalb der Gesellschaft lebt und sich die Konsequenzen seines vom amour-propre gesteuerten Lebens im sozialen Umfeld niederschlagen. Es existieren in diesem Fall zwei semantische Teilräume: Ein Teil ist mit dem Begriff der bienséance, der andere mit seiner Aufhebung, der malséance, zu besetzen. Das Konzept der bienséance ist äußerst vielschichtig, wie Abbé de Bellegarde durch die Pluralisierung des Begriffs kenntlich macht:
Les bienséances sont d’une étendue infinie: Le sexe, l’âge, la profession, le caractère, le tems, le lieu, imposent des devoirs differens: Il faut connoître ces differences, & s’y assujettir, si l’on veut se faire au goût du monde: Quelque mérite que vous ayez, si vous vous dispensez d’observer les bienséances, vous passerez pour un homme impoli qui ne sait pas vivre, & qui n’a nul discernement de ce qui peut plaire.7
In diesem Zusammenhang umfasst der Begriff der bienséance in der französischen Klassik die gesellschaftliche Schicklichkeit, ein Diskurs, der sich aus Liberalität und Weltgewandtheit zusammensetzt und das soziale Wohlverhalten zum Ziel hat;8 malséance umfasst das Gegenteil, die gesellschaftliche Unschicklichkeit. Die bienséance ist nicht immer von einem moralischen Duktus beherrscht, sondern auch von einem gesellschaftsästhetischen, der an die Vernunft gekoppelt ist: „La bienseance est la raison apparente, & […] la convenance est la raison essentielle. La raison consiste à respecter les bienséances.“9
Dadurch, dass der komische Held aus dem Teilbereich der bienséance heraustritt, substituiert er die sozialen Konventionen durch seine Eigensinnigkeiten. Er überschreitet die Grenze der gesellschaftlichen Schicklichkeit und begibt sich in das Feld der malséance. Sein Verhalten charakterisiert ihn in unklassischer Manier als unangepasst, antisozial und arrogant, weil er einzig seiner idée fixe frönt und sich selbst zu einer herausragenden Persönlichkeit macht. Dieses störende Moment wird im fünften Kapitel der aristotelischen Poetik als nichtige Fehlhaltung definiert und gilt als Hauptmerkmal der Komödie: „Das Lächerliche ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht“10, da der Spleen des komischen Helden nicht zu einer tatsächlichen Weltbildtransformation beiträgt. Selbst wenn die Konsequenzlosigkeit der komischen Handlung betont wird, bleibt oft ein bitterer Nachgeschmack im Handlungsresultat, wird das soziale Gefüge doch empfindlich beeinträchtigt: Die komischen Helden missachten jeglichen Aspekt des art de plaire, der ihnen nicht zum eigenen Vorteil gereicht. Sie sind jene lästigen Zeitgenossen, die Molière in seiner ersten Ballettkomödie Les Fâcheux in den mannigfaltigsten Erscheinungen auf der Bühne vorbeiziehen lässt und zugleich programmatisch für seine weiteren Werke einführt. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das Ausleben der jeweiligen idée fixe in Le Bourgeois gentilhomme und Le Malade imaginaire, zwei Ballettkomödien, in denen die eigentliche Intrige erst in der zweiten Hälfte der Komödie richtig beginnt. Davor versucht Monsieur Jourdain aus dem Bürgerstand hinauszutanzen und Argan sich seiner nicht vorhandenen Krankheiten zu entledigen. Durch die mentale Grenzüberschreitung von einem gesellschaftlich akzeptablen zu einem gesellschaftlich inakzeptablen Verhalten verleiht sich der Held das Attribut ‚komisch‘, denn er lebt nach seiner Verwandlung fortan in dem Irrglauben, dass seine Maßstäbe auch für die Figuren in seiner Umgebung gelten. Die Helden sind lächerlich, weil sie komisch sind. Ihre Naivität macht sie zu komischen Figuren und zum potenziellen Spielball der anderen.11 Diese innerpsychische Ausfechtung des Helden ist als innerer Agon zu bezeichnen.
Da der komische Held den zentralen Handlungsträger in der Ballettkomödie darstellt, baut sich die Intrige auf der Schieflage des von ihm ausgehenden, störenden Moments auf. Letzteres hallt als bedrohliche Resonanz in der Handlungswelt wider und kann eine weitere ereignishafte Handlung generieren, da sein Egoismus und seine Selbstverblendetheit zu einem obstacle für die ihn umgebenden Figuren werden können. Diese müssen die vom komischen Helden verschobene, semantische Grenze überschreiten, wenn sie nicht in ihrer Lebensfreiheit eingeschränkt werden wollen. Besonders wenn es um einen Interessenskonflikt in puncto Liebe geht, kann dieser schnell eskalieren, ist die Liebe doch „die intensivste, den ganzen Menschen mit Leib und Seele und Geist betreffende Erfahrung zwischenmenschlicher Abhängigkeit“12, der Inbegriff des irrationalen Affekts, der sich im rebellischen Verhalten gegen die Autoritätspersonen zeigt und das psychologische Movens der Liebenden ist. Ihre Rebellion ist nicht gegen die Autorität per se gerichtet, sondern gegen das despotische Verhalten dieser. Der irrationale Affekt der Liebenden ist Auslöser und zugleich Wegbereiter für die vernünftige und moralische Leidenschaft. Diese propagiert das molièresche Liebesverständnis, bei welchem jeder Konflikt zwischen Liebe und Moral ausgeschlossen ist und das Handeln der Liebenden nicht grundsätzlich deren Moralität infrage stellt.13 Dies wird in den Komödien damit begründet, dass die wahre Liebe durch eine freie Willensentscheidung evoziert wird, die von Geliebtem und Geliebter gefällt wird. Dieses Liebesverständnis zeigt die Vorstellung des mondänen Milieus, das sich von einer antiquierten Liebes- und Ehenorm distanziert, wie Madame de Villedieu diese kritisch in ihrem Schäferroman Carmante hinterfragt:
Qu’ai-je affaire de sçavoir comme les anciens faisoient l’amour, quand je veux le faire dans ce siecle ici? Et dequoi me guerit la citation de cinq ou six autheurs qui me sont inconnus, quand il s’agit d’une affaire dont mon cœur seul doit decider?14
Molière verschreibt sich dem Liebeskonzept der bukolisch-galanten Literatur seines Jahrhunderts, in welcher der voluntative Charakter der Liebe immer wieder betont, die freie Liebe gar als Tugend gefeiert wird.15 Sein Theater reflektiert eine progressive Ideologie der Zeit, in der die freie Entscheidung zur Liebesheirat eher als ein „commitment to collective goals“16 Gehör findet, als im Sinne einer egoistischen Selbsterfüllung zu bewerten ist. In diesem Sinne reüssieren die anderen Figuren, weil sie das Machtverhältnis vorübergehend invertieren und den komischen Helden in ihre Abhängigkeit bringen, ihn unterwerfen oder ihn aus ihrem Leben verbannen. Dieses Unterfangen lässt die Lustspiele unterschiedlich ausgehen, da einerseits beide Parteien verlieren können, wie in George Dandin, oder andererseits die List nicht aufgelöst wird. Diese offene Form impliziert, dass der Kampf nach dem Komödienende weitergehen müsste. Demgemäß kann nur ein Teilerfolg für die Untergebenen verbucht werden, wie in L’Amour médecin.
In der Abstraktheit der jeweiligen idée fixe steckt also das Sujetpotenzial, das sich als polyphones manifestiert; das bedeutet, dass das zentrale Komödienthema die fixe Idee des komischen Helden ist, dem weitere textspezifische Themen untergeordnet sind. Für die Bemessung der Sujethaftigkeit der einzelnen Komödien ist Nachstehendes zu beachten: Da der intersubjektive Konflikt der Dramenfiguren den innerpsychischen Konflikt des komischen Helden – der das Weltmodell nicht transformiert – exteriorisiert, ist das Handlungsresultat des komischen Helden auf den Sujethaftigkeitsgrad des Ereignisses beschränkt und ein Metaereignis kann nur von den anderen Dramenfiguren erreicht werden. Wenn diese Figuren durch Tugenden wie Mut und Tatkraft ohne eigennützige Listigkeiten oder arbiträre Machtausübung den obstacle überwinden, können sie das Weltbild positiv modifizieren und sich selbst zu wahrhaften Helden machen. Zudem reüssieren sie mit einer metafiktionalen ‚Als-ob‘-Weltbildtransformation nach den Wünschen ihrer Opponenten weniger heldenhaft, wobei in diesem Zusammenhang von einem Pseudo-Metaereignis zu sprechen ist.
Aus dem Gesagten folgt, dass der Hauptsujetschicht eine Protosujetschicht vorangeht, die einen Sachverhalt vertritt, der sich vor der eigentlichen Komödiengeschichte ereignet; zu Letzterer ist nur das Ausleben der idée fixe und die sich daraus ergebende Intrige zu zählen. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird daher die den inneren Agon konstituierende Protosujetschicht mit der eingeführten Opposition bienséance – malséance erfasst. Gemäß Alphonse Paulys Definition „la bienseance est la raison apparente“17 kann die bienséance die raison sichtbar machen. Mit anderen Worten ausgedrückt: Der innere Agon kann nach außen getragen werden und die Hauptsujetschicht als Opposition zwischen raison – déraison bestimmt werden. Diese tiefenpsychologische18 Lesart hat zur Folge, dass innerer und äußerer Agon miteinander übereinstimmen und eine Koinzidenz zwischen Signifikat und Signifikant im Handeln des komischen Helden ausfindig zu machen ist. Diese uneingeschränkte Kongruenz von Innen und Außen entspricht nicht den klassischen Umgangsformen, die im Zeichen einer Intransparenz der Zeichen stehen, einer Dissimulation der Handlungsabsicht, sodass in Molières Ballettkomödien in der agonalen Struktur das gesellschaftliche Stigma des Außenseiters erfahrbar gemacht wird.
Die Sujetstruktur in Molières Dramentexten ist schließlich von einer prototypischen Folie bestimmt, welche die textinternen Normen in ihrer von der zeitgenössischen Norm abweichenden Gesinnung erklärt und mal direkter, mal indirekter zum Vorschein kommen kann. Die Protosujetschicht manifestiert sich in der Komödiengeschichte in der sich auf den kulturell-zeitgenössischen Kontext beziehenden Hauptsujetschicht raison – déraison, die aufgrund ihrer lebensweltlichen Kontextsensitivität auch als textextern zu bezeichnen ist. Auf der Hauptsujetschicht basiert die textinterne Nebensujetschicht, die innerhalb der déraison anzusiedeln ist und durch das Oppositionspaar ruse – bêtise bestimmt wird. Für die ballettkomödientypische Intermedienstruktur ergibt sich eine weitere textinterne Sujetschicht, die innerhalb der folie stattfindet. Diese ist als Erweiterung der Ebene raison – déraison zu begreifen und fasst die Oppositionspaare réalité – fiction zusammen.