Kitabı oku: «Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren», sayfa 10

Yazı tipi:

b) Blutrache

47

Das in einigen Regionen bestimmter Länder wie Italien (Vendetta), Albanien, Griechenland, ehem. Jugoslawien und Türkei oder innerhalb bestimmter Gemeinschaften, wie etwa den Yeziden, noch heute anzutreffende Prinzip der Blutrache ist eine archaische Reaktion auf tatsächlich erlittenes Unrecht[136]. Sie verlangt von den Familienangehörigen eines Getöteten, den Mord durch eine vergleichbare Bluttat an dem Mörder oder dessen Verwandten zu rächen[137]. Kennzeichnend für die Blutrache ist eine Familienfehde, deren Ursprünge unter Umständen sehr weit zurückreichen. Ist Rache geübt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wieder die andere Familie zuschlägt. Es ist ein nicht endender Kreislauf der Gewalt. Ist der Konflikt zwischen den Familien bislang über eine Körperverletzung nicht hinausgegangen, lässt sich Schlimmeres vielleicht noch durch eine offizielle Aussöhnung beider Familien unter Einschaltung eines Vermittlers (Friedensrichters) abwenden. Wenn nicht, entstehen über Generationen hinweg anhaltende Blutfehden zwischen Familien, Dörfern und Stämmen. Mitunter genügt schon die Verletzung der Ehre oder ein als Tötungsversuch gedeuteter Gewaltangriff als Ausgangspunkt einer langjährigen Blutsfeindschaft. Familienfehden, die schon vor Ewigkeiten in der Türkei begannen, finden u.U. bei uns ihre blutige Fortsetzung mit weiteren unschuldigen Todesopfern.

48

Längst nicht immer lässt sich das die Blutfehde auslösende Ereignis sicher rekonstruieren. Es ist mitunter nur noch das „Wissen“ vorhanden, dass die Vorfahren beider Familien dereinst in der Türkei über Schafe in Streit geraten sind und mittlerweile beide Familien 3 oder 4 Tote zu beklagen haben. Und man weiß, welche Familie zuletzt Blutzoll gezahlt hat und nun, was die Blutrache anlangt, „am Zuge ist“. Mehrfach sind mir in Blutrachefällen polizeiliche Vernehmungsprotokolle begegnet, in denen ein Sohn des soeben Getöteten von der bestehenden Familienfehde berichtet und zugleich unumwunden kundtut, seinerseits den Tod des Vaters rächen zu wollen.

49

Höchst problematisch ist die Verteidigung eines unschuldigen Jugendlichen, der, wie es vor Jahren in Saarbrücken geschehen ist, durch seine yesidische Familie „bestimmt“ wurde, die Bluttat, die nicht er, sondern andere erwachsene Familienmitglieder begangen haben, unter Inkaufnahme einer maßvollen Jugendstrafe durch ein Falschgeständnis[138] auf sich zu nehmen.

5. Kinder als Opfer von Mord und Totschlag

50

Die Zahl der Kindestötungen ist alarmierend angestiegen. Glaubt man der PKS, dann ist im Jahre 2010 jeden zweiten Tag in Deutschland ein Kind umgebracht worden. Insgesamt wurden 183 Mädchen und Jungen unter 14 Jahren getötet, 2009 waren es noch 152[139].

a) Sexualmorde an Kindern

51

Die mediale Resonanz auf Sexualmorde an Kindern oder Jugendlichen ist gewaltig. Entsprechend stark ist denn auch die Anteilnahme in der Bevölkerung, wenn sie vom plötzlichen Verschwinden eines namentlich genannten Kindes und wenig später vom Auffinden der Kindesleiche erfährt. Über Abscheu und Entsetzen lösen Berichte über ermordete Kinder bei vielen Eltern große Beunruhigung aus. Nicht immer ist die Sorge völlig unbegründet: Über ein Jahrzehnt fahndete die SoKo „Dennis“ nach dem „Maskenmann“, einem mutmaßlichen Serientäter, der zwischen 1992 und 2004 fünf Jungen getötet und mehr als 40 sexuell misshandelt haben soll. Immer wieder soll er nachts unbemerkt in Schullandheime, Internate und Zeltlager eingedrungen sein und Jungen einer bevorzugten Altersgruppe mit ähnlicher Statur missbraucht oder entführt haben[140]. Am 15.04.2011 gab die Polizei endlich die Festnahme eines 40-jährigen Pädagogen aus Hamburg bekannt, der alsbald ein Teilgeständnis abgelegt und die Tötung von drei Jungen sowie etwa 40 Missbrauchsfälle eingeräumt haben soll[141]. Eine vergleichbare Mordserie an Kindern ereignete sich in den 1960er-Jahren in Pirmasens[142]. Im Schwurgerichtsprozess gegen den „Maskenmann“ vor dem LG Stade hat Nedopil als Gutachter beim Angeklagten zwar eine „schwere seelische Abartigkeit“ diagnostiziert, hielt ihn aber dennoch für uneingeschränkt schuldfähig[143].

52

Sexualmorde machen allerdings, anders als die medial bewegte Bevölkerung glaubt, nur einen geringen Prozentsatz der Tötungsdelinquenz aus. Umfragen zufolge herrscht die Meinung vor, Sexualmorde an Kindern hätten in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen. Jedoch sind nach den verfügbaren Daten die Zahlen seit Langem rückläufig[144]. Das Risiko, Opfer eines Sexualmordes zu werden, hat seit 1973 um etwa zwei Drittel abgenommen. In der Zeitspanne von 1973 bis 1987 wurden insgesamt 83 Kinder und Jugendliche als Opfer von Tötungsdelikten gezählt (~ 6 pro Jahr); von 1995 bis 1999 waren es dagegen nur noch 18 (~ 4 pro Jahr)[145]. In den letzten 2 Jahrzehnten wurden in den alten Ländern der Bundesrepublik durchschnittlich 2 bis 3 Fälle pro Jahr des vollendeten Mordes aus sexuellen Motiven an Kindern gezählt[146]. Im Berichtsjahr 2010 hat es nur einen Sexualmord[147] an Kindern (bis 13 Jahre) gegeben; betroffen war ein Mädchen[148].

b) Totgeprügelte Kinder

53

Die Fälle von Kindesmisshandlungen sind nicht nur in ihren Extremformen[149] durchweg bestürzend. Die größte Gefahr droht Kleinkindern vonseiten ihrer überforderten Mütter und Väter. Gewalt gegen Kinder ist ein Dauerthema. Obwohl mittlerweile die Bevölkerung einen geschärften Blick für Anzeichen von Kindesmisshandlungen hat und wohl auch die Anzeigebereitschaft gestiegen ist, sind die Zahlen immer noch erschreckend hoch und weiter im Ansteigen begriffen. Die Täter kommen fast ausnahmslos aus dem nahen Umfeld; es sind zumeist die Eltern, die Gewalt gegenüber ihren Kindern üben. Zumeist offenbart sich das ganze Ausmaß des Martyriums erst, nachdem das Kind zu Tode geprügelt und obduziert worden ist. Dann zeigen sich neben frischen Verletzungen auch die für Misshandlungen typischen Vernarbungen, Rippen- und Schlüsselbeinfrakturen oder intercraniellen Blutungen. Doch wann, wodurch und durch wessen Hand sind die Verletzungen entstanden?[150] Vor Gericht stellt sich nicht selten die Frage nach der Mitschuld der Mutter, wenn sie tatenlos zusieht, wie ihr Kind durch den Ehemann oder Lebensgefährten traktiert wird (Täterschaft durch Unterlassen)[151], sofern die Mutter sich nicht sogar selbst aktiv an den Quälereien beteiligt hat. Auch die Mitverantwortung der Jugendämter rückt in den Fokus, wenn man konkreten Hinweisen aus Schule oder Nachbarschaft auf Vernachlässigung oder Gewalthandlungen, auf Drogen- oder Alkoholmissbrauch oder auf permanente Überforderung der Eltern mit Gleichgültigkeit begegnet ist. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass eine Mutter ihr Kind zurichtet, während der männliche Partner bewusst wegschaut. Exemplarisch für diese Misshandlungsverfahren ist der Strafprozess um die dreijährige Karolina, die im Januar 2004 nach einem langen Martyrium verstorben war[152].

c) Schütteltrauma-Fälle

54

Das Schütteltrauma-Syndrom (SBS; „shaken baby syndrome“) ist eine Form der Kindesmisshandlung, bei der ein Säugling oder Kleinkind an Brustkorb oder Extremitäten gehalten und der Kopf durch ein kräftiges Schütteln in eine heftige unkontrollierte Bewegung mit einer ausgeprägten rotatorischen Komponente versetzt wird. Es kommt zum Abriss von Blutgefäßen (Brückenvenen) und Nervenverbindungen sowie durch einen initialen, kurzzeitigen Atemstillstand zur Hirnschwellung. Das klinische Bild des SBS ist – in variablen Kombinationen – gekennzeichnet durch Anzeichen einer schweren nichtentzündlichen Hirnschädigung, Unterblutungen der harten Hirnhaut (Subduralblutungen; SDB) und Einblutung der Netzhaut (retinale Blutungen; RB), Griffmarken an den Armen, seltener auch Frakturen der langen Röhrenknochen (Oberarmknochen, Elle, Speiche) oder Rippenfrakturen. Auffallend ist die nicht selten ungereimte Unfallanamnese. Die Letalität beträgt bis zu 30 %; bis zu 70 % der Überlebenden erleiden Langzeitschäden.

55

Das Schütteltrauma bei Kleinstkindern wurde erst Mitte der 70er von der Rechtsmedizin wissenschaftlich beschrieben. Blutungen im Schädelinneren, die durch Schütteln oder Schlagen entstehen, waren bis dahin zumeist unentdeckt geblieben. Soweit äußerlich erkennbare Kennzeichen einer Misshandlung fehlten, wurde bei den Opfern durchweg Plötzlicher Kindstod diagnostiziert. Der sog. Plötzliche Kindstod oder Krippentod (SIDS = Sudden Infant Death Syndrom) betrifft Jahr für Jahr hunderte von Elternpaaren; im Jahr 2010 waren es genau 164 Todesfälle[153]. Verlässliche Daten zur Häufigkeit des Schütteltrauma-Syndroms liegen für Deutschland nicht vor. Schätzungen gehen von jährlich etwa 100 – 200 Todesfällen aus. Laut einer im Jahre 2005 veröffentlichten Studie zum Plötzlichen Säuglingstod in Deutschland ließ sich durch eine Obduktion in fast jedem 50. vermeintlichen Fall Plötzlichen Kindstods ein Schütteltrauma-Syndrom als Todesursache aufdecken[154]. Problematisch ist, dass es in sehr seltenen Einzelfällen auch bei banalen Stürzen aus geringer Höhe (z.B. vom Sofa) zur Entstehung schwerer und sogar tödlicher Blutungen durch Einriss von Hirnhautarterien und einem epiduralem Hämatom oder zum Einriss von Brückenvenen und damit zu einem massen- und druckwirksamen subduralen Hämatom kommen kann. Da sich die Symptome durchaus mit zeitlicher Verzögerung einstellen, ist längst nicht immer klar, auf welches konkrete Geschehen die jeweiligen Schädigungen zurückzuführen sind.

56

Steht der Schuldige fest, stellt sich zur Abgrenzung eines Verletzungs- oder gar bedingten Tötungsvorsatzes von der (bewussten) Fahrlässigkeit regelmäßig die Frage nach der Bewusstseinslage des Täters. Welches Vorstellungsbild hatte er hinsichtlich der Folgen seines Handelns? Hat dieser selbst Rettungsbemühungen unternommen, kommt, wenn es beim Versuch geblieben ist, eventuell ein strafbefreiender Rücktritt in Betracht. Hat nur ein Elternteil Gewalt gegen das Kind geübt, könnte sich der andere dadurch mitschuldig gemacht haben, dass er nicht beizeiten gegen die Übergriffe eingeschritten ist und seinen Partner gedeckt hat, anstatt das Kind sofort in eine Kinderklinik zu bringen und Anzeige zu erstatten.

d) Kindestötung durch die Mutter nach der Geburt

57

Der 1998 weggefallene § 217 a.F. StGB privilegierte Mütter, die ihr nichteheliches Kind in oder unmittelbar nach der Geburt töteten[155]. Die Vorschrift sollte der psychischen Zwangslage der Mutter eines unehelich geborenen Kindes Rechnung tragen. Nachdem sich unsere Gesellschaft längst an „Ehen ohne Trauschein“ und alleinerziehende ledige Mütter gewöhnt hat, findet auch die Unehelichkeit eines Kindes kaum noch Beachtung. Umso schockierender sind spektakuläre Babyleichenfunde aus der jüngeren Vergangenheit[156]: Verscharrt in Blumenkästen auf dem Balkon wurden im Sommer 2005 in der brandenburgischen Ortschaft Brieskow-Finkenheerd die Babyleichen von 7 Mädchen und 2 Jungen gefunden, die zwischen 1988 und 1998 zur Welt gebracht worden waren[157]. Die – voll schuldfähige – Mutter wurde rechtskräftig wegen 8-fachen Totschlags zu 15 Jahren Haft verurteilt, weil sie ihre Neugeborenen unversorgt sterben ließ[158]. Der Erwerber eines Einfamilienhauses in Thörey bei Arnstadt (Thür.) stieß im Frühjahr 2007 beim Entrümpeln auf 3 Babyleichen. Die 21-jährige Mutter, eine ehemalige Mieterin, hatte die Kinder, die von drei verschiedenen Ex-Freunden der Frau stammten, im Alter von 16, 17 und 19 Jahren zur Welt gebracht und die Leichen versteckt[159]. Im November 2010 hat das LG Münster im Revisionsprozess[160] um die 3 getöteten Babys aus dem sauerländischen Wenden die Kindesmutter wegen zweifachen Totschlags – auch hier war ein Todesfall bereits verjährt – unter Zubilligung verminderter Schuldfähigkeit zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt[161]. Ende 2007 entdeckte die Polizei Plauen 3 in einer Wohnung versteckte Kindesleichen[162]. Die zerfallenen, teilweise skelettierten Überreste von 4 Säuglingen, eingewickelt in Plastikfolie und verborgen in einer Schublade, fand die Berliner Polizei im Herbst 2009 in der Wohnung einer 46-jährigen Selbstmörderin[163].

58

So spektakulär diese Einzelfälle sind, so selten kommen sie allerdings in der Strafverteidigerpraxis vor. Die Feststellung der Mutterschaft ist heute dank DNA-Technik [164] unproblematisch. Aber ist in Anbetracht des Zeitablaufs noch sicher feststellbar, ob das Kind jemals gelebt hat?[165] Wenn ja, wann, wie und durch wessen Hand ist es zu Tode gekommen? Dann die Frage nach dem Tatmotiv. War der Erstickungstod des Säuglings ein Unglücksfall oder ein eiskalter Mord, weil das Kind die Lebensplanung der Kindesmutter durchkreuzte?[166] Lag bei der Kindesmutter eine akute geistig-seelische Störung vor? Um festzustellen, ob und ggf. welche Auswirkungen das Gefühl permanenter Überforderung oder psychische Krankheiten gehabt haben, nimmt die Schuldfähigkeitsbegutachtung der Täterin [167]in aller Regel breiten Raum ein.

59

War es in den vorerwähnten Fällen nur einem Zufall zu verdanken, dass die Kindestötungen überhaupt ans Licht kamen, begegnen uns in der Praxis auch Neonatizide, die in aller Öffentlichkeit vor den Augen Dritter stattfinden und in aller Regel zeitnah zur Festnahme der psychisch gestörten Kindesmutter führen oder mit dem Freitod der suizidalen Mutter enden. Im März 2007 warf eine junge Mutter (26) in Hamburg ihr Neugeborenes aus dem Fenster eines Hochhauses. Das LG Hamburg erkannte auf Totschlag im minder schweren Fall und verhängte eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten[168]. Im August 2009 warf eine junge Frau in Pforzheim ihr 2 Monate altes Baby und ihren 4-jährigen Sohn vom Balkon eines Hochhauses, bevor sie sich dann selbst in den Tod stürzte. Wie später bekannt wurde, war sie seit Langem schwer psychisch krank[169]. Eine 29 Jahre alte Studentin musste sich Anfang 2009 vor dem LG in Moabit verantworten, weil sie knapp ein Jahr zuvor ihre 2 Monate alte Tochter vom Balkon ihrer im dritten Stock gelegenen Wohnung geworfen haben soll[170]. Das Baby hatte den Sturz aus sieben Metern Höhe mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma sowie inneren Verletzungen überlebt. Die Frau wurde für schuldunfähig erklärt. Gleichzeitig wurde die Unterbringung der Studentin in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik angeordnet. Nach Überzeugung des Gerichts hatte die Frau zur Tatzeit unter einer schweren Psychose gelitten[171]. Mit zweieinhalb Jahren Haft und der Unterbringung in der Psychiatrie endete im Juni 2010 das Verfahren gegen eine 35-jährige Frau aus Volmarstein, die ihren Sohn von einem Balkon geworfen hatte und hinterher gesprungen war. Der Junge blieb fast völlig unverletzt. Das Hagener Landgericht wertete ihre Tat als versuchten Totschlag – begangen im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit[172].

60

Auch in Göttingen hatte vor knapp 10 Jahren eine junge Mutter ihr erst 10 Tage altes Baby aus einer der oberen Etagen der Wöchnerinnen-Station des Uni-Klinikums geworfen[173]. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, nachdem der psychiatrische Sachverständige aufgrund einer diagnostizierten schweren psychotischen Wochenbettdepression, die behandelbar war und Wiederholungen nicht befürchten ließ, § 20 StGB nicht sicher ausschließen konnte[174]. US-Forscher haben durch Befragung junger Eltern herausgefunden, dass 14 % der Mütter nach der Geburt eines Kindes an mittelschweren oder schweren Depressionen litten[175].

e) Unvollendete oder misslungene Mitnahmesuizide

61

Tagtäglich berichten die Medien von tödlichen „Familiendramen“, bei denen der Vater, bevor er sich das Leben nahm, die gesamte Familie ausgelöscht hat. Oder der Sohn hat seine Eltern getötet, die Mutter ihre Kinder. Von einem tödlichen „Beziehungsdrama“ oder „Scheidungsdrama“ ist die Rede, wenn der verlassene Partner seine Expartnerin mit sich in den Tod reißt. So wie im vorerwähnten Fall der verzweifelten Frau aus Volmarstein, die vergeblich versucht hatte, gemeinsam mit ihrem Sohn aus dem Leben zu scheiden[176], stehen immer wieder Väter oder Mütter vor Gericht, die ihr eigenes Kind getötet haben oder töten wollten und anschließend mit dem Versuch gescheitert sind oder nicht mehr die Kraft hatten, sich selbst das Leben zu nehmen[177]. So erging es dem damals 50-jährigen Angeklagten, der im März 2001 seine Ehefrau und die beiden gemeinsamen, neun und fünf Jahre alten Söhne getötet hatte. Anschließend fuhr er zur Nürnberger Burg und stürzte sich in die Tiefe, um auch seinem Leben ein Ende zu bereiten. Er überlebte schwer verletzt. Zur Tat hatte er sich entschlossen, nachdem seine Ehefrau wenige Tage zuvor angekündigt hatte, ihn und die Kinder zu verlassen, weil sie eine neue Liebesbeziehung eingegangen war. Ein Leben ohne intakte Familie erschien dem Angeklagten nicht lebenswert. Die Kinder tötete er, weil diese nicht ohne Eltern aufwachsen sollten. Bei der Tatausführung machte sich der Angeklagte zunutze, dass seine Opfer schliefen. Das LG Nürnberg-Fürth hat den Angeklagten wegen Mordes in drei Fällen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Es sah bezüglich aller Tatopfer das Mordmerkmal der Heimtücke als gegeben an. Der BGH hat die Revision des Angeklagten verworfen[178].

62

Das Urteil wirft Fragen auf: Bei entsprechenden Konstellationen ist immer an eine De- oder Exkulpation des Täters aus dem Blickwinkel des „erweiterten Suizids“ zu denken. Mit dem Begriff des erweiterten Suizids wird in der Psychiatrie die Mitnahme naher Familienangehöriger (oder auch Dritter) in das eigene suizidale Geschehen gekennzeichnet. Dem Täter muss es primär um die Beendigung des eigenen Lebens gehen, während die Mitnahmeabsicht dem untergeordnet („sekundär)“ und aus der eigenen Suizidalität ableitbar sein muss[179]. Namhafte Stimmen verlangen darüber hinaus altruistische Beweggründe[180], also die Vorstellung, zum Besten des Opfers zu handeln. Im Mittelpunkt eines sich gegen den überlebenden Täter geführten Strafprozesses steht regelmäßig die Psychosituation des Täters: Leidet er an einer psychotischen Erkrankung? Liegt vielleicht „nur“ eine schwere neurotische Fehlentwicklung oder eine schwere Persönlichkeitsstörung vor? Sodann ist nach Anzeichen eines präsuizidalen Syndroms[181] Ausschau zu halten, das drei Merkmale umfasst, die einer ernstgemeinten Suizidhandlung vorausgehen: Der Täter erlebt vor dem Hintergrund des eigenen Denkens oder Verhaltens (Depression, Kontaktstörung) oder infolge realer äußerer Faktoren (Isolation, Vereinsamung, Arbeitslosigkeit, Verluste, Krankheit) eine scheinbar zunehmend ausweglose Lage, bis letztlich nur der Suizid als Möglichkeit bleibt (Einengung). Es findet sich eine verstärkte und gleichzeitig gehemmte Aggression, die sich früher oder später gegen den Betroffenen selbst richtet (Aggressionsumkehr). Das Gefühl der Überforderung bewirkt eine Flucht in die Irrealität. Der Betroffene errichtet eine Scheinwelt, in der Gedanken zunehmend um Tod und Suizid kreisen (Suizidphantasien).

63

Waren der Tat – möglichst objektivierbar – schwere Belastungen oder Konfliktsituationen vorausgegangen, die zu einer Einengung geführt haben könnten? Hier kann dem Täter in Bezug auf das Mordmerkmal der Heimtücke das zur Tatbestandsverwirklichung erforderliche Ausnutzungsbewusstsein gefehlt haben[182]. Und auch die drohende Feststellung der besonderen Schuldschwere würde im Falle nur eingeschränkter Schuldfähigkeit womöglich unterbleiben[183].

64

Spektakulär war der vor dem LG Göttingen verhandelte Fall des damals 22 Jahre alten Marc D., der im Juli 1990 seine sieben Monate alte Tochter mit Benzin übergoss und verbrannte, nachdem ihm die junge Kindesmutter endgültig die Tür gewiesen hatte[184]. Er litt zur Tatzeit infolge der andauernden Querelen unter einer ausgeprägten Depression, hatte vorgehabt, erst seine kleine Tochter und dann sich selbst umzubringen. Die Psycho-Gutachter hatten ihn zunächst für uneingeschränkt schuldfähig erklärt. Sie zweifelten seine Darstellung an, er habe schon vor der Tat ein Seil beschafft, das er an den Mast einer Überlandleitung geknüpft habe, um sich daran aufzuhängen. Als die Verteidigung, den Ortsbeschreibungen des Mandanten folgend, das noch an dem Mast hängende Seilende aufspürte und in der Hauptverhandlung – thematisch gut vorbereitet die Gutachter „in die Zange nahm“, mussten diese ihre Einschätzung korrigieren und die Voraussetzungen des § 21 StGB bejahen. Die authentische Mitschrift des Befragungsdialogs ist auszugsweise in Teil 20 A abgedruckt[185]. Das sehr maßvolle Urteil: 11 Jahre Freiheitsstrafe wegen Totschlags.