Kitabı oku: «Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren», sayfa 8
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Teil 1 Einführung
Inhaltsverzeichnis
A. Kapitaldelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland
B. Kapitalstrafrecht und Kriminalpolitik
C. Spezifische Erkenntnisprobleme bei Tötungsdelikten
D. Befähigung zur Verteidigung in Kapitalstrafsachen
E. Rechtstatsachen zur Effizienz des Pflichtverteidigers
Teil 1 Einführung › A. Kapitaldelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland
A. Kapitaldelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland
Teil 1 Einführung › A › I. Fakten und Zahlen
I. Fakten und Zahlen
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Alljährlich werden in der Bundesrepublik zwischen 2.000 und 2.500 vollendete und versuchte Tötungsdelikte registriert; im Jahr 2010 wurden 2.218 Mord- und Totschlagsfälle (einschließlich Versuchstaten) erfasst[1]. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) weist für das Jahr 2010 allein 324 als vollendeter und 490 als versuchter Mord eingestufte Fälle aus, 366 Fälle des vollendeten und 1.421 des versuchten Totschlags (einschließlich Tötung auf Verlangen)[2], Körperverletzungen mit Todesfolge wurden 98-mal verzeichnet[3]. Der Straftatbestand des Totschlags gem. § 212 StGB betrifft den „Normalfall“ der vorsätzlichen Tötung eines Menschen, die jedoch als Mord verfolgt wird, wenn sie unter einem oder mehreren der in § 211 Abs. 2 StGB genannten besonders verwerflichen Begleitumständen erfolgt, es sei denn, die Tötung geschieht auf ausdrückliches und ernsthaftes Verlangen des Getöteten. Dann ist allein § 216 StGB einschlägig. Geht es um fährlässige Todesverursachung infolge einer vorsätzlichen Körperverletzungshandlung, greift § 227 StGB ein. „Straftaten gegen das Leben“[4] machen jedoch nur rund 0,1 %[5] aller (in der PKS) polizeilich registrierten Straftaten und nur etwa mehr als 1 % der erfassten Gewaltkriminalität aus[6]. Legt man die rund 2.300 Fälle von versuchtem oder vollendetem Mord oder Totschlag zugrunde, haben wir es nur noch mit 0,04 % der polizeilich registrierten Gesamtkriminalität zu tun[7].
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In knapp 90 % aller registrierten Mord- und Totschlagsfälle begegnen uns männliche Tatverdächtige[8]. Bei Mord im Zusammenhang mit Raubdelikten wurden zu über einem Drittel (36,1 %) Tatverdächtige unter 21 Jahren festgestellt[9]. Mord- und Totschlagsopfer waren im Jahr 2010 zu 64,1 % männlichen, zu 35,9 % weiblichen Geschlechts[10]. Unter den Todesopfern waren auch 127 Kinder[11]; bei weiteren 8 Kindern war der Tod die unbeabsichtigte Folge einer vorsätzlichen Körperverletzung (§ 227 StGB)[12]. 2010 kamen auf 100.000 Einwohner etwa 3 Mord- und Totschlagsdelikte (einschließlich Versuchstaten)[13].
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Zum Vergleich: In den USA (304 Millionen Einwohner) liegt die Anzahl der Ermordeten jedes Jahr relativ konstant bei 15.000 bis 20.000. Fachleute machen hierfür unter anderem das liberale Waffenrecht verantwortlich, das in den meisten Bundesstaaten dem Erwerb und dem Tragen von Schusswaffen kaum Hindernisse bereitet[14]. Ohne die hocheffiziente Notfallmedizin würden nach Expertenmeinung in den USA um die 100.000 Tote jährlich zu beklagen sein[15]. Einer im September 2008 veröffentlichten Studie zufolge ist Caracas mit 130 Morden je 100.000 Einwohner die gefährlichste Stadt der Welt, gefolgt von New Orleans in den USA mit 67 Morden und dem südafrikanischen Kapstadt mit 62 Morden je 100.000 Einwohner. In Europa lebt man in Moskau (mit 9,6 Morden je 100.000 Einwohner) am gefährlichsten[16].
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Unter den bundesdeutschen Städten führte im Jahre 2010 Frankfurt/M. mit etwa 6 Mord- und Totschlagsfällen auf 100.000 Einwohner. In absoluten Zahlen übertraf Berlin mit 122 versuchen oder vollendeten Mord- und Totschlagsfällen alle anderen deutschen Städte[17]. Die Häufigkeitszahlen der bei uns polizeilich registrierten vorsätzlichen Tötungsdelikte sind seit Anfang der 70er-Jahre – entgegen dem allgemeinen Trend – rückläufig. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland bei den versuchten und vollendeten Tötungsdelikten im unteren Bereich. In Deutschland ist das Risiko, bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, rund 7-mal größer als die Gefahr, einem vorsätzlichen Tötungsdelikt zum Opfer zu fallen[18]. Auffällig ist schon immer der hohe Versuchsanteil: Bei Mord über die Hälfte und bei Totschlag und Tötung auf Verlangen knapp vier Fünftel der Fälle[19]. Die Fortschritte in der Intensivmedizin dürften sich auch in Deutschland in einem Rückgang der vollendeten Morde um -6 (-2 %) und der vollendeten Totschlagsdelikte um -21 (-6,4 %) widerspiegeln, allerdings bei gleichzeitigem Absinken der Anzahl von Versuchstaten (von -5 bei Mord: -1,2%; von -26 bei Totschlag: -2,2 %)[20].
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Nichtdeutsche stellten bei Mord und Totschlag drei von zehn Tatverdächtigen[21]. Zu beachten ist dabei, dass sich die nichtdeutsche Wohnbevölkerung immer noch zu einem größeren Teil aus jüngeren Männern unter vierzig zusammensetzt als die deutsche Wohnbevölkerung. Ferner dürfte auch die besondere, konfliktträchtige Lebenslage in der Fremde bedeutsam sein. Die Restgruppe, die sich vor allem aus nicht anerkannten Asylbewerbern mit Duldung, aus Flüchtlingen, Besuchern und erwerbslosen Personen zusammensetzt, weist bei Mord und Totschlag mit mehr als der Hälfte den höchsten Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen auf. Die Gruppe der Asylbewerber stellt bei Mord und Totschlag einen Anteil von weniger als einem Zehntel (8,4 %) an den nichtdeutschen Tatverdächtigen. Im Vergleich zu ihren Tatverdächtigenanteilen bei den Straftaten insgesamt sind vor allem Tatverdächtige mit türkischer Staatsangehörigkeit bei den vorsätzlichen Tötungen überdurchschnittlich vertreten[22].
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Im Jahre 2010 sind insgesamt 682 Personen wegen versuchten oder vollendeten Mordes oder Totschlags verurteilt worden, davon 34 Jugendliche, 75 Heranwachsende und 577 Erwachsene[23]. Wegen vollendeten Mordes wurde in 128 Fällen lebenslange Haft verhängt[24]. Zum 31.03.2011 saßen bundesweit 2.343 Strafgefangene wegen vollendeten, weitere 539 wegen versuchten Mordes und weitere 1.434 wegen Totschlags ein[25], 2.048 Strafgefangene verbüßten eine lebenslange Freiheitsstrafe[26].
Teil 1 Einführung › A › II. Dunkelziffer
II. Dunkelziffer
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Weil nur die der Polizei bekannt gewordenen Straftaten und Tatverdächtigen gezählt werden, ist die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) begrenzt. Ein Großteil der verübten Straftaten gelangt der Polizei nicht zur Kenntnis. Mehr als 10.000 unnatürliche Todesfälle jährlich, darunter mindestens 1.200 Tötungsdelikte, bleiben in Deutschland unerkannt. Zu diesem Ergebnis kommt Brinkmann in einer Studie des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Münster[27]. Die Hauptursache wird in unterbliebenen oder mangelhaft durchgeführten Obduktionen gesehen. Schon lange schätzen Experten, dass auf jedes erfasste Tötungsdelikt mindestens 2 Kapitalverbrechen kommen, die nicht als Tötungsdelikte erkannt werden[28]. Die Dunkelziffer-Relationen schwanken bei anderen Autoren zwischen 1:3 bis 1:7, bei Kindestötungen sogar bis 1:10[29].
1. Leichenschau
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Ein großes Sorgenkind ist das Leichenschauwesen, das durch landesrechtliche Gesetze und Verordnungen geregelt ist[30]. Nicht zuletzt um fremdverschuldete Todesfälle zu erkennen, ist jede menschliche Leiche, bevor sie bestattet wird, von einem Arzt zu untersuchen. Das gilt auch für die Leiche eines Neugeborenen, wenn nach der Trennung vom Mutterleib mindestens eines der Lebenszeichen vorgelegen hat: Herzschlag, Pulsieren der Nabelschnur, natürliche Lungenatmung. Auch Totgeburten mit einem Gewicht von mindestens 500 g sind zu untersuchen. Erreicht ein Totgeborenes dieses Gewicht nicht, ist es als Fehlgeburt von der Leichenschau ausgenommen[31]. Das Ergebnis der Leichenschau ist in der Todesbescheinigung (Leichenschauschein oder auch Totenschein) festzuhalten, die vom Standesbeamten zur Beurkundung des Sterbefalles und zur Anfertigung der Sterbeurkunde benötigt wird. Der Leichenbeschauer hat nicht nur anhand sicherer Todesanzeichen den endgültigen Todeseintritt festzustellen, den Todeszeitpunkt zu bestimmen und – soweit möglich – Mitteilungen über die Todesursache sowie etwa zum Tode geführte Erkrankungen zu machen, sondern auch nach Anhaltspunkten für einen nicht natürlichen Todesfall zu suchen. Kaum vorstellbar aber wahr, immer wieder schockieren Meldungen, dass Mediziner den Totenschein ausgestellt haben, obwohl die vermeintlich Gestorbenen noch gelebt haben[32].
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Oft genug bleiben aber auch Anzeichen unentdeckt, die auf ein Verbrechen hindeuten. Nur der Wachsamkeit einer Freundin des Opfers ist zu verdanken, dass der Mord einer privaten Altenpflegerin an einer hochbetagten Dame aufgeklärt werden konnte, die im November 2001 durch Verschließen der Atemöffnungen mit einer „weichen Bedeckung“ zu Tode gebracht worden war. Die behandelnde Ärztin hatte zahlreiche Punktblutungen im Gesicht des Opfers übersehen und einen natürlichen Tod bescheinigt[33]. Es finden sich authentische Fälle, bei denen man einen Brustkorbsteckschuss, einen Herzstich oder Strangmarken um den Hals übersehen und einen natürlichen Tod bescheinigt hat. Mal hatte der Leichenbeschauer pflichtwidrig darauf verzichtet, die Leiche zu entkleiden, mal war die Beschau bei völlig unzureichenden Lichtverhältnissen durchgeführt worden. Bei künstlicher Beleuchtung sind verschiedene Rottöne kaum zu unterscheiden. Insbesondere Hinweise auf Vergiftungen bleiben dann leicht unerkannt. Fachleute gehen deshalb davon aus, dass die im Rahmen der Leichenbeschau getroffenen Diagnosen in mehr als der Hälfte aller Fälle unzutreffend sind[34]. 1996 fand Brinkmann unter 350 Todesfällen, die in der Leichenbeschau als „natürlich“ eingestuft worden waren, 92 „nicht natürliche“ Todesursachen, darunter 9 Suizide und 10 Tötungsdelikte. Bundesweit werden weniger als 5 % der Verstorbenen seziert, in Kliniken sind es etwa 10 %[35].
2. Verschleierte Kindestötungen
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Gegen Kinder gerichtete Straftaten mit tödlichem Ausgang, allen voran Misshandlungen und Vernachlässigungen, werden längst nicht immer (auf Anhieb) als vorsätzliche Kindestötungen erkannt[36], wie im Fall eines verzweifelten Vaters, der sein aufs Schwerste missgebildetes und geistig behindertes Kind unter einer Wolldecke erstickt hatte, um ihm Qualen künftiger Operationen zu ersparen, und sich erst ein Jahr nach der Tat gegenüber den Behörden, die von einem natürlichen Tod ausgegangen waren, freiwillig gestellt und zu seiner Tat bekannt hatte[37]. Oder die Behauptung der Aufsichtsperson ist medizinisch nicht sicher zu widerlegen, es handele sich um einen Unglücksfall; sie habe das später seinen inneren Verletzungen erlegene Kind auf dessen Wunsch hin mehrere Male spielerisch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen, bis ihr das Kind entglitten und unglücklich gefallen sei[38]. Allein hinter den im Jahre 2010 offiziell erfassten 164 Fällen, in denen die Diagnose des Plötzlichen Kindstods gestellt wurde[39], dürften sich in nennenswerter Zahl auch unentdeckt gebliebene Gewaltdelikte verbergen. Hinzu kommen Neugeborene, die nach verheimlichter Schwangerschaft durch ihre Mütter getötet und irgendwie unbemerkt versteckt oder beseitigt werden[40].
3. Unentdeckte Patiententötungen
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In Deutschland sterben jährlich etwa 900.000 Menschen. Mehr als die Hälfte davon entschläft in Krankenhäusern und anderen Behandlungs- oder Pflegeeinrichtungen. Immer wieder kommt es zu Festnahmen und Verurteilungen von Schwestern, Pflegern oder Ärzten, die verdächtigt werden, serienweise, teilweise über Jahre hinweg, hochbetagte und zumeist unheilbar kranke Patienten nach eigenem Gutdünken eingeschläfert zu haben. Nirgendwo kann ein Tötungsdelikt lautloser begangen und vollkommener verschleiert werden als in einer Heil- und Pflegeeinrichtung, in der das Sterben alter und schwerstkranker Patienten zum Alltag gehört. Maisch, der 1997 über Patiententötungen geforscht und publiziert hat[41], fand heraus, dass von Pflegekräften begangene Serientötungen „das größte Dunkelfeld aufweisen“[42]. In der Tat ist die Zahl spektakulärer Enthüllungen über heimlich mordende Pflegekräfte („Todesengel“) beträchtlich. Die Summe der Opfer auch.
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Traurige Berühmtheit erlangte Mitte der achtziger Jahre eine junge Wuppertaler Krankenschwester, die im Verhör eingeräumt hatte, mindestens 5 ihrer Patienten zu Tode gespritzt zu haben[43]. 15 Jahre Haft wegen Totschlags in gleich 10 Fällen erhielt ein krimineller Stationspfleger, der in einer Gütersloher Klinik sterbenskranke Patienten durch Luftinjektionen umbrachte. In Bremen waren einem Pfleger, der jetzt eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt, Morde an 5 gebrechlichen Frauen nachzuweisen. Im Juli 2004 das Geständnis eines Sonthofener Krankenpflegers, innerhalb von 17 Monaten wenigstens 6 Frauen und 4 Männer mit muskellähmenden Medikamenten und starken Narkotika totgespritzt zu haben. Angebliches Motiv: Mitleid[44]. Es stellte sich nach und nach heraus, dass er mindestens 28 Patienten getötet hatte[45]. Im Frühjahr 2008 bestätigte der BGH die lebenslange Freiheitsstrafe für eine Krankenschwester der Berliner Charité, die 5 ihrer im Sterben liegenden Patienten durch die Injektion von Medikamenten getötet hat [46].
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Ob die Vorwürfe gegen eine als „Krebsärztin“ bekannt gewordene Internistin aus Hannover-Langenhagen berechtigt waren, die im Frühjahr 2004 verhaftet und später sogar wegen Totschlags in mindestens 13 Fällen angeklagt wurde, wird sich nicht mehr klären lassen, nachdem sich die Unglückliche im Januar 2011 während des laufenden Prozesses das Leben nahm. Sie soll ihren Patienten Morphium in Überdosen verabreicht haben. Darüber war in der Hauptverhandlung ein erbitterter Gutachterstreit geführt worden. Zuletzt hatte das SchwurG einen rechtlichen Hinweis erteilt, dass in zwei der dreizehn Fälle auch eine Verurteilung wegen Heimtückemordes in Betracht käme. Ursprünglich war die Kripo 76 „Verdachtsfällen“ nachgegangen[47].
4. Als Suizide verkannte Tötungsdelikte
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Jedes Jahr wählen in Deutschland nach den offiziellen Statistiken etwa 10.000 Menschen den Freitod; 2010 wurden exakt 10.021 Todesfälle infolge „vorsätzlicher Selbstbeschädigung“ erfasst[48]. Diese Zahlen sind deutlich höher als die der Verkehrstoten. Die meisten der Verzweifelten erhängen bzw. strangulieren sich (4.450)[49], weit weniger erschießen sich, vergiften sich durch Medikamente, leiten Abgase ins Auto oder ertränken sich, andere stürzen sich aus großer Höhe in den Tod, öffnen sich die Pulsadern oder werfen sich vor Autos oder Züge. Auch bei einer unbekannten Zahl von Verkehrsunfällen sind mutmaßlich Selbstmordabsichten im Spiel. Suizide im Straßenverkehr, die mitunter schwer oder gar nicht als solche zu erkennen sind, fließen dann nur in die Statistik für Verkehrsopfer ein[50]. Die Anzahl der nach neuerer Definition als Parasuizide bezeichneten erfolglosen Selbstmordversuche, zu denen das Statistische Bundesamt keine Daten erhebt, liegt nach Schätzungen um das Zehn-[51] bis Zwanzigfache[52] höher.
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Doch vermutlich scheiden längst nicht alle vermeintlichen Selbstmörder freiwillig aus dem Leben. Auch wenn – soweit ersichtlich – hierzu kein verlässliches Zahlenmaterial existiert, ist davon auszugehen, dass die wenigen nachgewiesenen Fälle, in denen ein Tötungsdelikt als Selbstmord verschleiert werden sollte[53], nur die Spitze des Eisberges darstellen. In der Annahme, ein lebensmüder Fahrgast habe sich vor den Zug geworfen, bleibt womöglich unentdeckt, dass der Betreffende mutwillig ins Gleisbett gestoßen worden ist[54].
5. Als Unfälle fehlgedeutete Morde
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Auch nur ein Bruchteil der Tötungsdelikte, die sich hinter gewöhnlichen Unfallgeschehen im Haushalt, am Arbeitsplatz oder im Straßenverkehr verstecken, kommt ans Licht. Hatte der Falschfahrer, der Unschuldige in den Tod gerissen hat, nur nach Alkohol- oder Drogenkonsum oder infolge situativer Überforderung die Orientierung verloren, oder war die „Geisterfahrt“ Teil einer kriminellen Inszenierung im Zuge einer dummen Mutprobe oder einer dumpfen Biertischwette? Auch in Selbstmordabsicht provozierte Fahrzeugkollisionen werden unter Umständen (zunächst) als „normale“ Verkehrsunfälle fehlgedeutet[55]. Die Geisterfahrt eines zur Tatzeit 19-Jährigen aus dem Raum Regensburg, der 2004 versucht hatte, sich das Leben zu nehmen und zu diesem Zweck in falscher Richtung auf die Autobahn gefahren war, endete für drei Insassen eines entgegenkommenden Wagens tödlich, drei weitere Menschen wurden schwer verletzt. Der Falschfahrer wurde wegen Mordes (§ 211 StGB) und gefährlicher Körperverletzung (§ 224 StGB) zu einer mehrjährigen Jugendstrafe verurteilt[56].
6. Vermisstenfälle
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Auch hinter den Vermisstenzahlen verbergen sich (noch) unerkannte Mordopfer. Jeden Tag werden in Deutschland zwischen 150 und 250 Personen als vermisst gemeldet. 50 % dieser Vermisstenfälle erledigen sich innerhalb einer Woche, 80 % binnen eines Monats, 97 % innerhalb eines Jahres. Nur etwa 3 % der Gesuchten bleiben länger als 1 Jahr verschollen[57]. Die Personenfahndung wird nach 30 Jahren eingestellt. In Deutschland verschwinden jährlich etwa 10.000 Kinder. Die meisten Kinder tauchen zum Glück nach spätestens 3 Tagen wieder auf. Sie waren ausgerissen oder von einem Elternteil entführt worden.
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Am 1. Juli 2009 wurden 5.574 deutsche Personen vermisst; darunter befanden sich 536 Kinder[58]. Vielleicht erst nach Jahren bestätigt sich die Befürchtung, dass ein vermisstes Kind Opfer eines Sexualmörders[59], womöglich sogar eines Serientäters geworden ist. Auch zahllose Erwachsene verschwinden spurlos, und längst nicht in allen Fällen ist gleich an ein Verbrechen zu denken. Einige wenige tauchen aus sehr persönlichen Gründen unter, um anderenorts ein neues Leben zu beginnen. Auch als verwirrt geltende hilflose Personen, die sich aus dem Blickfeld ihrer Angehörigen oder Betreuer entfernt haben, stehen vorübergehend auf den Vermisstenlisten. Viele Suizidenten hinterlassen Abschiedsbriefe und werden fortan nicht mehr lebend gesehen. Bis Klarheit über das Schicksal einer verschwundenen Person herrscht, wird der Fall allzu oft und zu lange nur als Vermisstensache geführt. Wichtige Spuren gehen so unwiederbringlich verloren. Eher routinemäßig wird das Umfeld der verschwundenen Person „abgeklopft“. Angesichts der vielen „Fehlalarme“ ist diese Halbherzigkeit durchaus verständlich. Erst wenn der Tod durch das Auffinden der sterblichen Überreste unumstößlich feststeht und Einschätzungen möglich sind, wann, wie und wo der Mensch zu Tode gekommen sein könnte, kommen intensive Ermittlungen in Gang.
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Solange sich der Staatsanwalt nur auf Hypothesen, Gerüchte und Vermutungen stützen kann, wird er eine Mordanklage gegen den Tatverdächtigen nur in Ausnahmefällen und nach reiflicher Überlegung riskieren. In einem Kriminaljustizsystem, das dem Tatrichter eine rational stichhaltige Beweisführung abverlangt[60], kann ein Mordprozess ohne Leiche schon bald zum Fiasko geraten. Paradebeispiel ist das „Mordverfahren“ gegen den Geschäftsmann Hans Hansen, den seine Düsseldorfer Ankläger beschuldigten, den spurlos verschwundenen Millionär Otto Erich Simon beseitigt zu haben. Hansen verbüßte 44 Monate U-Haft, bis im Jahre 1996 nach mehr als 139 Verhandlungstagen das Verfahren an der Schwelle zum Freispruch wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt werden musste. Auch der Indizienprozess um eine seit 1992 spurlos verschwundene Görlitzerin endete im Februar 2001 mit einem – vom BGH bestätigten – Freispruch. Ihrem Ehemann war zur Last gelegt worden, die Frau, die sich von ihm scheiden lassen wollte, „auf unbekannt gebliebene Art und Weise“ getötet zu haben, um so das gemeinsame Haus nicht zu verlieren und Unterhaltsansprüchen zu entgehen (Habgier!). Die Richter konnten nach zwölftägiger Hauptverhandlung noch nicht einmal ausschließen, dass die Ehefrau noch lebt oder sich infolge der Eheprobleme selbst das Leben genommen hat[61].
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Es beruhigt, dass man angesichts vorherrschender Beweisarmut rechtskräftige Schuldsprüche mit der Lupe suchen muss. Liegt kein Geständnis vor und gibt es weder unmittelbare Tatzeugen noch eindeutige Sachbeweise, wirft jede Verurteilung in einem Mordfall ohne Leiche zwangsläufig die Frage nach den Grenzen richterlicher Erkenntnisfähigkeit auf. So etwa 1997 im Fall des einstigen Saarbrücker „Rotlichtkönigs“ Hugo Lacour, der 1985 seinen Geschäftspartner Weirich aus dem Weg geräumt haben soll, um an dessen Vermögen zu gelangen. Das SchwurG erkannte wegen Mordes auf lebenslange Haftstrafe, die Schuldschwerefeststellung[62] inbegriffen. Obwohl Weirichs Leiche nie gefunden wurde, war die Beweiswürdigung nach Meinung des BGH nicht zu beanstanden. Die Aussagen und Indizien trügen die Feststellung, dass der Angeklagte das Opfer „aus Habgier entweder eigenhändig umgebracht oder dessen Tötung durch andere veranlasst“ habe[63].
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Für viel Konfliktstoff hat die äußerst fragwürdige Verurteilung des Hartmut Crantz durch das Lübecker Landgericht gesorgt. Dessen Ehefrau war spurlos aus ihrem Haus im schleswig-holsteinischen Ratzeburg verschwunden. Die Familie der Vermissten war überzeugt, Crantz habe sie ermordet, um einer Scheidung zuvorzukommen. Obwohl die Leiche der Frau und Tatspuren nicht gefunden worden sind, das Tatgericht „keine näheren Feststellungen zum eigentlichen Tötungsgeschehen treffen konnte“, Zeugen die Vermisste sogar noch Tage nach ihrem Verschwinden im Nachbarort gesehen haben wollten und Crantz immer wieder seine Unschuld beteuert hatte, wurde er im Dezember 2001 des Mordes für schuldig befunden. Die Richter, die ein „Lebenslänglich“ verhängten, hatten – in Tatsachenalternativität[64] – sage und schreibe sechs (!) verschiedene Möglichkeiten des Tathergangs – teilweise wiederum mit Untervarianten – „festgestellt“. Nachdem diese (erste) Verurteilung vom BGH[65] kassiert werden musste, hat das LG Lübeck im April 2003 in der Neuauflage abermals auf Mord erkannt. Zwei Tage später erhängte sich Crantz in seiner Haftzelle[66].
22
Eindeutiger war offenbar die Indizienlage gegen drei Angeklagte, die 2009 durch das LG Darmstadt wegen Anstiftung bzw. Mordes aus Habgier an einer Person verurteilt wurden, deren Leiche man bis heute nicht gefunden hat. Einer der Angeklagten hatte bei dem Getöteten Schulden in Höhe von rund 50.000 €. Um sich seines Gläubigers zu entledigen, gab er dessen Ermordung bei den zwei Mitangeklagten in Auftrag. Die Angeklagten, die zur Sache schwiegen, wurden unter anderem anhand der polizeilichen Observation bei der nach der Tötung erfolgten Geldübergabe, der Auswertung von Geodaten der Mobiltelefone der Beteiligten sowie des in der Wohnung des Getöteten gesicherten Spurenmaterials überführt[67].
23
Vorläufiger Schlusspunkt und Warnruf zugleich ist der Fall des seit 2001 spurlos verschwundenen Bauern Rudolf Rupp. Die Verurteilung seiner Ehefrau sowie der beiden Töchter und des Ex-Verlobten einer Tochter wegen Totschlags und Beihilfe dazu erwies sich als tragischer Justizirrtum. Rupp war entgegen der getroffenen „Feststellungen“ keineswegs von seinen Angehörigen erschlagen, zerstückelt und an die Hofhunde verfüttert worden. Noch im Pkw sitzend und äußerlich unversehrt, wurde Rupps Leiche Jahre danach aus der Donau geborgen[68].
Teil 1 Einführung › A › III. Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten