Kitabı oku: «Ab 40 wird's einfach nicht schwer», sayfa 10
11. Kapitel
Der Ausflug und die Wiederbegegnung
»Alles, was ich brauche,
ist bisschen mehr vom Nichts,
weniger vom Alles,
aber genug vom Viel.«
Silke Liebmann
Der Sommer ging mit dem Herbst bereits Hand in Hand. Noch behielten einige Blumen ihre Kraft und Farben, aber viele Pflanzen waren verblüht, und als Silke nach der Arbeit ihre Laufrunde begann und den Wald erreichte, glaubte sie, den Herbst bereits riechen zu können. Roch es nicht schon nach Moos, nach frischem, herbem Holz und Laub? Als sie zurückkehrte, wartete der Hund Harry wieder hinter dem Zaun des Grundstücks.
»Hey, du Racker, wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen.«
Harry antwortete mit einem kurzen Bellen, drehte sich um und lief zu seinem Herrchen, der in dem einzigen Beet seines Gartens die Erde umgrub. Als er den aufgeregten Harry bemerkte, stand er auf, klopfte die Hände ab, entledigte sich der Handschuhe und kam langsamen Schrittes auf Silke zu.
»Hallo, es konnte ja nur einen Grund haben, dass Harry so unruhig ist«, lachte er sie an.
»Sie haben Gartenarbeit?«, fragte sie unsinnigerweise.
»Ja, ich bereite schon das Einsetzen der Tulpen und anderer Frühblüher vor, denn die müssen im Herbst gesetzt werden. Das Einzige, was ich mir hier gönne.«
Er wies auf das Beet. Ihre Kenntnisse im Gartenbereich waren beschränkt, obwohl sie sich nach Harrys Tod mehr damit beschäftigen musste. Aber das verstand sie. Sie wusste: Gartenfreunde hatten ihren eigenen Herbstanfang.
»Der reife Holunder und die Zwetschgen- und Birnenreife zeigen uns ja schon den Frühherbst an«, versuchte sie mit Wissen zu glänzen.
»Ja, es geht los. Bald werden die Sonnentage weniger, wir sollten noch jeden einzelnen genießen.«
Das waren sie also nun: die Gespräche der Alternden. Da unterhielt man sich nicht mehr über den letzten Schrei, die aktuelle Musik oder Mode, sondern über Wetter und Garten.
»Unbedingt! Haben Sie noch einen schönen Nachmittag und Abend, Herr Walter«, verabschiedete sich Silke. Harry wedelte mit dem Schwanz und folgte ihr hinter dem Zaun, bis sie auf die einzige Straße ihres Ortes abbiegen musste.
Nach der heißen Dusche klingelte das Handy. Sie sah auf das Display: Reini-Alarm! Also grüner Hörer, Handy weit weg vom Ohr halten – es wurde scharf geschossen.
»Hallo«, meldete sie sich.
»Hallo Silke … können wir uns treffen … ich würde mich so freuen, dich wiederzusehen … vielleicht können wir zusammen ausgehen … Disko magst du ja nicht so, hahaha … aber wir finden bestimmt was anderes … wie wäre es denn mit einem schönen Ausflug … noch ist es nicht so kalt … es könnte sogar noch mal mit Baden klappen, wenn wir Glück haben … hahaha …«
Es nahm und nahm kein Ende. Pffft, pffft, pffft. Es ballerte. Ob sie Sandras Rat annehmen sollte?
»Ja, am Samstag können wir zusammen was machen. Aber erst einmal haben wir noch die Arbeitswoche vor uns«, sagte sie, während sie in aller Ruhe ihre Kaffeekanne ausgewaschen und ihre Küche fast vollständig sauber gemacht hatte, solange Reini redete und redete. Er strebte ganz offensichtlich nach keiner Antwort.
»Meine Tochter hat … habe mir wieder schöne Shirts gekauft … ich mag ja die Mode gerade … und … Auto … schön … hahaha.«
Sie nahm teilweise nur Wortfetzen auf.
»Hast du eine Idee, wo wir hinfahren könnten?«
Jetzt kam eine Frage. Silke schreckte auf, ließ den Putzlappen fallen und griff nach dem Handy, das seit einigen Minuten auf dem Küchentisch hinter ihr lag. Das war wie mit einem Radio, das konnte man auch laufen lassen. Wollte er tatsächlich eine Antwort von ihr? Was hatte er gleich gefragt? Sie überlegte kurz. Ah ja! »Die Arbeitswoche müsse erst mal geschafft werden«, waren ihre Worte gewesen. Man hätte sich doch daraufhin mal über andere, alltägliche Dinge unterhalten können. Unterhaltung war ein Dialog, kein Monolog. Nein, Reini hackte auf seiner nächsten Unternehmung herum.
»Hallo? Ha, ha,ha«, plärrte es aus dem Telefon.
»Du, das werden wir noch sehen! Wir haben gerade Montag.«
»Na, man muss schon bisschen planen, nicht dass wir am Samstag erst anfangen zu überlegen … oft vergeht dann der Tag ungenutzt … und man ärgert sich dann … ich werde mal schauen, wo wir hinfahren könnten … hahaha … ich freue mich schon darauf, kannst du mir glauben …«
Danke, Reini, auf der Arbeit war es heute wirklich mal wieder ganz gut. Alle waren gut gelaunt und das zum Montag! Martha mag mich jetzt so sehr, dass sie mir oft Kleinigkeiten mitbringt, zuletzt eine selbst gebastelte Herbstdekoration für die Haustür. Richtig geschmackvoll war die und ich staunte wieder einmal mehr. Der Herbst kommt gewiss, hat Martha gemeint und mir zugezwinkert. Wir haben gemeinsam Kaffee getrunken und sind in der Mittagspause zusammen rausgegangen. Und wir lachten. Martha ist lustig, habe ich entdeckt, ja, sie ist nicht verkehrt. Der Chef hatte ein neues Deo, was die Geruchsbilanz des Montags etwas erträglicher ausfielen ließ. Und die letzte gute Nachricht war dann auch noch eine Gehaltserhöhung. Gut, was?
Silke grinste bei ihren Gedanken, denn Reini fragte nicht nach ihren Alltäglichkeiten.
»Bei mir war heute auf Arbeit was los, sage ich dir … ich habe das Gefühl, dass die alle verrückt werden … ein Durcheinander war das … manche sind so pessimistisch … finde ich … man kann doch im Leben nun wirklich mal etwas positiv denken … das Leben ist doch zu kurz, um sich dauernd so schlecht zu fühlen …«
Aha. Da lag der Reini-Hase also im Pfeffer. Reini war ein Realitätsverweigerer. Er quatsche die Realität weg.
»Bis demnächst«, sagte Silke und legte einfach auf. Merkte er das nicht? Was war mit dem Typen los? Sie wartete auf eine WhatsApp, so nach dem Motto:
»Warum hast du einfach aufgelegt?« und Traurig- oder sogar Wütend-Smiley. Schon überlegte sie sich eine Antwort. Nach zehn Minuten Telefonat, in denen er neun davon selbst gesprochen hat, spürte sie einen Unmut in sich aufsteigen, der kaum definierbar war. Bing. Eine WhatsApp:
»Wünsche dir noch eine schöne Woche. Bis Samstag. Freu mich. Reini« Kuss-Smiley und fünf Lach-Smileys. Realitätsverweigerer eben.
Das Wochenende kam schneller als gedacht. Inzwischen konnte Silke dem Herbst bei seiner Einkehr zusehen. Als sie am Samstagmorgen aus dem Fenster blickte und sich streckte, sah sie, wie der Tau nach der kühlen Nacht in der Sonne glitzerte. Nach dem Frühstück traf schon die erste WhatsApp-Nachricht von Reini ein:
»Hey, schöne Frau. Ich freue mich auf später. Hab auch schon eine Idee, was wir machen.«
Du lieber Himmel! Hoffentlich nichts Schlimmes! Am Nachmittag zog sie sich eine Jeans, ein Shirt und eine leichte Jacke über. Wie immer fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit traf sie am Treffpunkt ein. Reini sah aus, als sei er einem Modeheft für reife Männer entsprungen. Sogar die Pose passte. Die leichte Lederjacke mit einer Hand über die Schulter gehangen, die andere Hand leger in der Hosentasche. Dann glitt ihr Blick zur Hose. Sie hatte mehrere Risse wie die Hosen von jüngeren Leuten. Oha! Der Mann wollte definitiv alles sein, nur nicht älter. Trotzdem: Ein Blickfang war er. Aber nur bis …
»Hallo, du Sonnenschein, da bist du ja … hahaha … du siehst wieder umwerfend aus … ich mag deinen Geschmack …«
Weiter kam er nicht. Silke drückte ihm einen Kuss auf die Wange und stellte eine Frage.
»Wohin gedachtest du zu fahren oder zu gehen?«
»Ah, ja, habe ich dir noch gar nicht geschrieben … lass uns nach Stolpen fahren … da war ich das letzte Mal, als meine Tochter noch klein war … habe gute Erinnerungen daran … und das Wetter ist noch traumhaft … hast du bequeme Schuhe an? Ich mag ja Absatzschuhe total gern … aber heute sind sie eher nicht so praktisch … hahaha …«, ballerte er los und sah auf Silkes Schuhe. Bevor er weiterschoss, meinte sie: »Ja, die Schuhe sind bequem. Also lass uns fahren.«
»Okay, fein … wir lassen dein Auto hier stehen und fahren mit meinem … das wird das Beste sein … hahaha.«
Gut. Ob sie das überleben würde, war ihr nicht klar, aber wer A sagte, musste auch B sagen. Ob er nun in seinem oder ihrem Auto den Wortschatz einer Frau von fünf Tagen verlor, war egal. An seinem Auto angekommen, öffnete er ihr galant die Tür, ließ sie einsteigen, schloss die Tür und sprang eilig um sein Auto herum, um auf den Fahrersitz zu springen. Hatte er Angst, sie würde flüchten? Noch war sie nicht so weit. Reini ließ den Motor an und damit kam das Radio in Gang. Ach, du lieber Himmel! Helene Fischer sang. Von »Achterbahnen«, »Hundert Prozent« und »Freiheit«. Passte irgendwie nicht, aber gut.
»Magst du die Musik? Ich bin großer Helene Fischer-Fan. Meine Tochter auch … wenn sie bei mir ist, hören wir nur ihre Musik … eine Hammer Sängerin!… Natürlich die Frau erst! Die ist so hübsch … einfach der Knaller … die schönste Frau Deutschlands!«
Den Rest hörte Silke nicht mehr. Sie schaltete auf Durchgang. War der Kerl nicht bei Sinnen? Das sollte ein Mann niemals tun, zumindest nicht bei den ersten Treffen. »Die schönste Frau Deutschlands« müsste doch die Frau sein, die man für sich gewinnen wollte, oder nicht? Zumindest wäre es gut, die Frau so etwas glauben zu lassen. Da galt es, die Angebetete zu hofieren, sie zu umwerben, sie zur Einzigen zu machen. Das wusste doch nun wirklich jeder Mann mit Verstand! Helene Fischer war dünn und blond, Silke war schwarzhaarig und normal gebaut. Finde den Fehler, dachte Silke und biss sich angestrengt auf die Unterlippe. Derweil trällerte die Fischer »Nur mit dir«. Reini versank mit einem dämlichen Lächeln in seiner eigenen Welt und hielt endlich seine Klappe. Sicher träumte er gerade, Helenchen sänge das gerade für ihn, nur für ihn. Die schönste Frau Deutschlands? Blödmann! Sollte Silke ihn darum bitten, umzukehren? War das nicht zu albern? War sie überempfindlich?
»Hach, ist das schön«, schwärmte er, als der Song endlich ausgeschmalzt war. Er fragte sie nicht mal, ob es ihr recht war, diese Musik zu hören. Er fragte nur das Nötigste. Auf der einen Seite galant wie ein Gigolo, auf der anderen Seite überschritt er ständig Grenzen. Sie schwieg einfach nur. Endlich kamen sie in Stolpen an. Das war das Beste! Schon vor der Ankunft sah sie die Sonne auf die Burg scheinen und ihr eröffnete sich ein wunderschöner Blick. Wieder besser gelaunt stieg sie am Parkplatz aus und streckte sich kurz. Sie würdigte Reini keines Blickes. Das Auto hatten sie am Markt abgestellt. Hoffentlich schweigt er jetzt, dachte Silke und sah sich auf dem bezaubernden Markt Stolpens um. Sie wusste, dass er als Kulturdenkmal unter besonderem Schutz stand. Das Rathaus mit seinem Dachreiterturm war ein Blickfang. Sie überquerte den Markt und blieb vor der Löwenapotheke stehen, um dann das alte und neue kurfürstliche Amtshaus zu bestaunen, in dem sich das Stadtmuseum befand, auch Reste der Stadtmauer aus dem 15. Jahrhundert mit dem Niedertor und imposanten Basaltgewölbekeller. Reini lief ihr nach wie ein Dackel. Sogar sein Kopf wackelte so, fand sie.
»Gefällt dir … da habe ich ja alles richtig gemacht heute …«
Und schon wollte er weiterballern.
»Alles richtig gemacht?« Noch war der Tag nicht vorüber! Ihr Blick brachte ihn zum Schweigen. Noch einmal sah sie sich auf dem Markt um und bat ihn mit dem Tonfall einer Aufforderung, auf die Burg zu gehen. Nach fünf Minuten gelangten sie über die Schlossstraße zur Burg. Ihr kam es vor, als würde sie durch Jahrhunderte wandern. Der Markt zuerst – modern und doch mit antikem, beschaulichem Anstrich, dann der Weg zur Burg mit liebevoll sanierten Gebäuden. Silke hörte in ihrer Fantasie die Kutschen auf dem Pflaster, sah elegante Damen in hinreißenden Kleidern und einem Fächer in der Hand aus dem kleinen Fenster der Kutsche blicken. Nur wenige historische Orte hatten solch ein romantisches Flair wie Stolpen. Und dann die imposante Burg, die sich vor Silkes Augen aufbaute wie ein riesiger Felsen.
Wie mochte es Anna Constantia von Cosel, der berühmtesten Mätresse Augusts des Starken, damals während all der Zeit dort wohl ergangen sein? Neunundvierzig Jahre war sie auf der Burg Stolpen gefangen gehalten worden; eine faszinierende Frau, deren Ausstrahlung bis in die Gegenwart ein Thema blieb. Der Gräfin waren politische Interessen und Eifersuchtsdramen zum Verhängnis geworden. 1706 wurde Anna Constantia zur Gräfin von Cosel ernannt und schenkte August bis 1712 drei Kinder. Schnell wurden allerdings ihr Temperament und ihre versuchte Einflussnahme am Hof berüchtigt. Das Blatt wendete sich endgültig gegen sie, als sich August der Starke aufgrund politischer Interessen eine neue Mätresse nahm. Es kam zwischen Anna Constantia und August zum Streit und die Gräfin von Cosel wurde am Weihnachtsabend 1716 auf die Burg Stolpen verbannt, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Sie starb im – für damalige Verhältnisse wahrhaft gesegneten – Alter von vierundachtzig Jahren.
»Ob sie wirklich in den letzten Jahren ihres Lebens auf der Burg bleiben musste – oder ob sie es wollte?« Das hatte Silke immer interessiert.
»Wen meinst du?«, fragte Reini, der für seine Verhältnisse schon extrem lange geschwiegen hatte. Sie konnte sogar ihre Gedanken zu Ende denken. Die Zahnfee natürlich, dachte Silke.
»Gräfin Cosel, wer denn sonst?«, entgegnete sie gereizt.
»Das weiß ich nicht. Steht das nicht irgendwo? Hahaha.« Dummkopf. Es stand nicht irgendwo. Das wusste nämlich bis heute mit Ausnahme von Fachleuten niemand.
»Ach, ich sollte mir wieder mal einen Film über sie anschauen. Sie muss eine eindrucksvolle Person gewesen sein«, meinte Silke und sah Reini von der Seite lauernd an.
»Jaja, sicher … hahaha.« Ja, Reini, ganz sicher. Und faszinierender als Helene Fischer auf jeden Fall. Klar? Silkes Missfallen wollte nicht weichen. Schnell lenkte sie ihre Gedanken in eine andere Richtung. An den Film »Gräfin Cosel – Aufstieg und Fall einer Mätresse«, konnte sie sich noch sehr gut erinnern. Den wollte sie sich unbedingt als DVD besorgen. Jawohl. Und den Film ohne Reini sehen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Sie befanden sich noch in der Vorburg mit dem Eingang zu den Kasematten, einer drei Meter tiefen Zisterne und schließlich dem Kornhaus mit den drei Kornschüttböden. Gegenüber der Hauptwache befanden sich der ehemalige Marstall und die Folterkammer der Burg. Die wollte sich Silke unbedingt ansehen und tat dies dem Mann an ihrer Seite kund.
»Du stehst auf Foltern … hahaha … das konnte ich mir ja schon fast denken …«, versuchte er es mit einem dummen Witz, über den Silke gar nicht lachen konnte. Sie strafte ihn mit einem Blick dozierte im Oberlehrerton:
»Es ist ein historischer Ort, ein Zeichen der Erbarmungslosigkeit im Mittelalter, Reini, und wenn du keine Lust hast, mitzukommen, wartest du eben hier auf mich und machst inzwischen eine gute Figur!«
Verdutzt sah er sie an. Sie hielt seinem Blick stand, daraufhin senkte er seinen und schaute sie kurz darauf wie ein gescholtenes Kind mit großen blauen Augen an. Ob sie ihm einen Lolly anbieten sollte?
»Nein, nein, ich komme gern mit … bin zwar nicht für solche Dinge zu haben … aber …« Bla, bla, bla. Für welche Dinge war er zu haben? Für Disko, roten Nagellack, Absatzschuhe, für halb zerrissene Jeans, die ihr Sohn nicht mal im Teeniealter angezogen hätte, für Helene Fischer natürlich und für Fußball. Er watschelte wieder neben ihr her. Vielleicht hätte sie eine Leine mitnehmen sollen, damit der Dackel … Nein, das war böse. Sie las sich die Hinweistafeln durch. Kaum zu glauben, was sich Menschen antaten. Es grauste ihr beim Anblick der Foltergeräte. Dieser Ort wurde bis zum Ende der Folter in Sachsen unterhalten. In einer Großvitrine konnte man Folterinstrumente betrachten. Auch Gerätschaften, die Gefangenschaft und Vollzug von Strafen veranschaulichten. Die ganze Anatomie des Menschen von Kopf bis Fuß kam bei der Folter gnadenlos zur Anwendung. Silke schüttelte sich. Wie hatten die Menschen das nur ausgehalten? Sie würde schon beim puren Anblick des ersten Gerätes vor Angst sterben.
»Nicht gerade schön, was man hier sieht«, meinte Reini und das Lachen am Ende des Satzes fehlte. Ein Empathiekünstler! Aber zumindest stellte er verniedlichend fest, dass es »nicht gerade schön« war. Sie sollte künftig nur noch Folterkammern mit ihm besuchen.
Zurück beim Auto knatterte Reini wieder los.
»Wollen wir noch etwas unternehmen … nach der Kultur noch etwas tanzen gehen … oder so? Das wäre doch ein guter Ausgleich … meinst du nicht? Hahaha«, trötete er während der Fahrt und stellte für den weiteren Redefluss sogar die geliebte Helene leiser.
»War das nicht ein schöner Tag? Also, die Folterkammern haben mir zugesetzt … wie die damals drauf waren … das ist ja furchtbar … wie die das nur ausgehalten haben … gut, dass es so was heute nicht mehr gibt … da können wir froh sein … diese ganzen Verurteilungen … Ketzerei … Hexerei … heute würden keine Frauen mehr leben, wenn es noch so wie damals wäre … hahaha.«
Wie lustig! Und so ging es weiter. Jetzt bremste er vor einem Zebrastreifen, den eine junge Frau mit einem Kinderwagen und zwei Kindern im Kleinkinderalter überquerte.
»Mensch, müssen sich junge Frauen so gehen lassen? Wenn sie so einen Hängebusen hat, kann sie ihn doch nun wirklich besser verdecken! Den sollte man nicht zeigen … und muss man so dick sein, wenn man Kinder hat?«, schimpfte er. Mit offenem Mund sah sie ihn von der Seite an.
»Weißt du …«, eröffnete sie betont freundlich. »Männer, die sich so äußern, müssten für jedes Kind, das Frauen für sie bekommen, einen Ziegelstein quer scheißen!«
Das war raus. Es ging nicht anders. Der Mann regte sie auf. Ein lautes »Hahaha« war alles, was sie noch erreichte.
»Wir können gern noch ein Glas Wein zusammen trinken«, schlug sie vor. Der Mann war zwar oberflächlich, aber harmlos. Also konnte sie ihn mit nach Hause nehmen? Wenn sie mit zu ihm ginge, müsste sie nach einem Glas Wein ziemlich lange warten, ehe sie nach Hause fahren konnte. Und so müsste er warten – auch nicht gut. Aber sie wäre schon zu Hause, das war wiederum der Vorteil. Also? Einen einzigen Versuch hatte der Quasselkopp. Für etwas musste er doch gut sein?
»Gerne, gerne … ja, gute Idee … ich hätte mich gar nicht getraut zu fragen … bin eben doch schüchtern … hahaha.«
Silke sah zum Fenster raus und verdrehte die Augen.
»Wir müssen mein Auto holen!«
»Ah! Ja, stimmt … ich hatte es fast vergessen … ja, das müssen wir noch machen … unbedingt … wir können das Auto ja nicht stehen lassen … hahaha.«
Warum musste er eigentlich alle Aussagen so ausdehnen? Wenn der wüsste, dass ihm ein alles entscheidender Test bevorstand! Er plapperte vergnüglich allerlei Zeug vor sich hin, fragte nichts und Silke konnte abschalten. Sein Gerede war wie ein Monolog mit Musik. Helene trällerte nebenher und Reini bewegte sein Gesicht dazu wie eine Taube. Nur dass Tauben das taten, weil sie damit in alle Richtungen blickten und vor allem scharf sehen konnten. Bei Reini sah es eher aus, als würde er ständig etwas Ekliges essen und sich dabei schütteln. Und dazu sang er mit der Fischer aus Leibeskräften, oder er redete und redete. Von wegen, Männer wären nicht multitaskingfähig! Endlich konnte sie in ihr Auto umsteigen. Jetzt hatte sie eine Stunde Ruhe und vor allem gute Musik. Reini fuhr ihr nach. Im Rückspiegel sah er noch grotesker aus. Am Auffälligsten jedoch war sein Dauergrinsen. Anett sollte noch einmal auf ihrem ständigen Grinsen herumhacken! Ihre CD lief, und zwar AC/DC.
Vor ihrem Haus parkte sie das Auto auf ihrem Stellplatz und zeigte ihm mit Handbewegungen, wo er seines abstellen konnte. In ihrem Dorf war man schließlich auf Ordnung bedacht. Er grinste immer noch. Das konnte ja was werden.
»Schön hast du es hier … wirklich hübsch … aber wohnen könnte ich hier niemals … du wohnst ja am Arsch der Welt … gibt es hier nur die eine Straße, oder geht es da hinten weiter? Hahaha«, und er wies Richtung Wald.
»Nein, da hinten ist nur Wald. Man kann sicher über die Waldwege in den nächsten Ort gelangen, aber das ist nicht gestattet«, antwortete sie knapp. Und es kam, wie es kommen musste. Während sie die Haustür aufschloss, sich der Schuhe entledigte und die Jacke an die Garderobe hängte, gackerte Reini vor sich hin.
»Ein schönes Haus … sehr hübsch … aber das dachte ich mir schon … nur diese Einöde, wo du wohnst … das ist ja schrecklich … ich könnte nie aus Dresden wegziehen … gleich gar nicht auf ein Dorf … ich brauche Leben um mich … Bewegung … Menschen …Cafés … will in kurzer Zeit von A nach B kommen … nein … wie kannst du hier wohnen … hier sagen sich doch Fuchs und Hase schon morgens um zehn Uhr ›Gute Nacht‹ … ach nee … das wäre nichts für mich … also sollten wir mal zusammenkommen … müssten wir uns was einfallen lassen … du müsstest dann zu mir ziehen …, hahaha.«
Damit nicht genug. Er sah sich in ihrem Wohnzimmer um.
»Und die Bücher könntest du auch nicht alle zu mir mitbringen, die müssten in den Keller«, plärrte er. Hahaha. Wenn es um ihre Bücher ging, hatte sie kein Erbarmen.
»Reini, nun lass mal die Kirche im Dorf, wenn sie auch nicht vorhanden ist! Ich ziehe nirgendwo hin und ich habe ein Auto, kann jederzeit in die Stadt fahren. Im Gegensatz zu dir brauche ich die Stadt nicht. Und bevor meine Bücher in einem Keller landen, bist du noch weiter drunter!«
Reini stutzte, bevor er sein obligatorisch dämliches »Hahaha« von sich gab. Sie erzählte ihm lieber nicht, wie sie sich anfangs gegen Harrys Wunsch gesträubt hatte, in diese Einöde zu ziehen. Es hätte ihn ohnehin nicht interessiert. Sie setzte sich auf die Couch.
»Komm, lass es uns gemütlich machen«, meinte sie und verspürte den Impuls, auf die Sitzfläche der Couch zu klopfen – wie bei einem Hund, dem man damit andeutet, dahin zu kommen.
Während Reini auf die Couch zuging, ballerte er weiter.
»Ich finde gut, dass du ziemlich modern bist, hahaha.«
»Ziemlich? Das ist wie ›eigentlich‹, eine Einschränkung.«
Sie wollte das erklärt haben.
»Na ja, bisschen anders bist du schon. Aber weißt du, ich habe Frauen kennengelernt, die ihr Leben über ihre Enkel und ihren Garten in der Kleingartensparte definierten. Nein, das ist gar nicht meins, hahaha. Ich mag Frauen mit richtigen Absatzschuhen und …«
»… rotem Nagellack, ich weiß!«, ergänzte Silke kurz vorm Platzen. Was wollten die Männer eigentlich? Eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand, sich als hervorragender Familienmensch perfekt präsentierte, dazu noch gut und flott aussah und auch sonst sollte sie möglichst ein Multitalent sein? Sie wollte jetzt nicht weiterdenken, sonst hätte sie ihre eigene auferlegte Mission nicht erfüllen können. Da sie nichts auf seine letzten Ausführungen entgegnete, setzte er sich und sah sich um.
»Aber schön hast du es … sehr geschmackvoll … wie die ganze Frau.«
Jetzt war der Augenblick gekommen.
»Geschmackvoll – wie die Frau? Das weißt du doch noch gar nicht«, zwinkerte sie ihm zu. Eindeutig zweideutig. Endlich! Sein Lachen ertönte, diesmal in fünffacher Ausfertigung. Sie stimmte ein, machte gedämpfte Musik an, stellte zwei Weingläser auf den Tisch, öffnete den Rotwein und schenkte ihnen ein.
»Ach schön, ist das toll, hahaha«, freute er sich. Gut, das schaffte schon mal Stimmung. Jetzt brauchte sie welche. Aber Reini war gar nicht so dumm und verstand ihre Signale. Er legte den Arm um sie, zog sie grob an sich heran und wuselte dann in ihrem Haar herum, als kraulte er einem langhaarigen Hund den Kopf. Wollte er gleichzeitig ihre Kopfhaut massieren, oder war das seine eigene Form von Zärtlichkeit? Als sie darüber nachdachte, schielte sie zu seinen Mundwinkeln. In Stolpen hatte sich wieder darin Speichel abgesetzt, jetzt nicht. Guter Reini!
»Bist echt eine Hübsche, hahaha«, schmetterte er in den Raum. Sie sah ihn an; sein Mund landete auf ihrem. Nicht etwa beginnend mit geschlossenen Lippen. Nein! Ihre waren noch geschlossen, seine geöffnet. Das hatte zur Folge, dass der Bereich um ihren Mund klitschnass wurde. Also auch hier, wie beim Reden, ein ICE. Sie öffnete schnell die Lippen und gedachte, ihm ihre Zunge sanft zu präsentieren. Aber weit gefehlt! Reini war ausdrücklich am Austausch von Körperflüssigkeiten interessiert, denn er nässte stark. Und dann auch noch die Geschwindigkeit! Seine Zunge drehte sich schneller als ihre Waschmaschinentrommel beim Schleudergang. Litt er auch noch unter Zungenspastik? Dann kam noch der Clou: Er steckte seine Zunge so tief in ihren Hals, dass sie fast zu ersticken glaubte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, diese Farce zu beenden. Doch schon wanderten Pranken auf ihrem Shirt umher. Das waren keine Hände. Oder war der Mann im ersten Leben Fleischer gewesen? Er sollte doch kein Schwein schlachten! Nachdem er ohne jede zärtliche Berührung an ihren Brüsten herumknetete, als würde er Hackepeter mit Zwiebeln vermischen, hätte sie abbrechen müssen, tat es aber nicht. Sie tat gar nichts, sie wartete. Die Haut an ihren Brüsten schmerzte. Schnell zog er ihr Shirt aus, danach seines und schlabberte sie ab wie ein Hund, der sich über das Eintreffen seines Frauchens freute: am Hals, an den Wangen.
»Ach, ist das schön, mal wieder eine Frau anzufassen«, hechelte Reini. Diesmal ohne »hahaha«. Das war ihm jetzt wahrscheinlich in die Hose gerutscht. Und überhaupt: War sie eine Ziege im Streichelzoo? Ehe sich Silke versah, stand er auf, schlüpfte aus genau dieser und nestelte an ihrem Hosenknopf. Sie ließ es geschehen. Vielleicht kam ja noch – der Höhepunkt? Der kam, aber anders, als sie sich erhoffte. Reini grapschte grob über ihren weichen Bauch, während er dabei wütend vor sich hin schlabberte, und ein weiteres Mal fuchtelte er an ihrem Bein herum und wollte ihr dabei den Slip ausziehen.
»Stopp!«, schrie sie und sprang auf. Reini erschrak, sah zu ihr auf und es kam, was kommen musste.
»Was hast du denn, hahaha?«
»Was ich habe? Ich möchte das nicht.«
Den Rest verkniff sie sich, um sich sammeln zu können. Whiskey kam zu ihm. Er »streichelte« ihn genauso wie zuvor sie. Mein Gott! Er konnte gar nicht anders! Der Kater war klüger. Er sah Reini böse an und sprang in einem Satz vom Sofa, verkroch sich unter dem Stuhl in der Essecke und glotzte den Fremdling beleidigt an. Warum hatte sie es nicht nach dem Kuss abgebrochen? Warum hatte sie ihn überhaupt mit in ihr Haus genommen? Der Augenblick des Abschiedes hätte bei der schönsten Frau Deutschlands kommen müssen. Reini trank gerade seinen letzten Schluck Wein.
»Ich möchte, dass du jetzt gehst«, sagte sie. Fragend blickte er sie an.
»Was ist denn?« Das war sein Fehler.
»Selbst Tiere lieben sich inniger. Das eben hatte nicht mal was mit Zuneigung, geschweige denn Respekt zu tun.«
Reini schwieg, stand auf und ging. Ohne Fragen, ohne Laberei, ohne »Hahaha«.
Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen, sprang Silke in ihr Badezimmer, entkleidete sich und duschte ausgiebig. Sie war so blöd! Das musste ja bestraft werden. Wütend ging sie zum Telefon. Sie brauchte jetzt ihre verrückten Mädchen. Zuerst rief sie Anett an. Die war nicht besonders erschüttert, als Silke ihren Bericht atemlos beendet hatte.
»Meine Liebe, du bist ja eine Seele von Mensch, zumindest meistens, aber du hast zu wenig Erfahrung.«
»Auf manche kann Frau aber auch verzichten, oder etwa nicht?«, hakte Silke nach.
»Ja, sicher, aber was glaubst du, wie dein Fleischer weitergemacht hätte? Da kann ich dir von meinem Erlebnis berichten …«
Was? Hatte sie Reini etwa auch gekannt, so wie Ralf?
»Wie meinst du das?«, fragte Silke lauernd. Anett lachte.
»Keine Angst, ich kenne schließlich nicht alle Männer, mit denen du Kontakt hast.«
Aufatmend ließ sich Silke auf ihren Sessel fallen.
»Ich bin ganz Ohr.«
»Genau so einen Kerl hatte ich auch mal: einen oberflächlichen, grobschlächtigen Macho, der zu viel gequatscht hat; ist ein Jahr her. Erzählt hatte ich es euch nicht, weil ich mich geschämt habe.«
»Seit wann bitte schämst du dich?«, konnte sich Silke nicht verkneifen.
»Hahaha.«
Bitte nicht! Dagegen war sie inzwischen allergisch.
»Willst du es nun hören oder nicht?«
Sie wollte.
»Der Typ grapschte genau so an mir herum, wie du es mir gerade beschrieben hast. Ich dachte: Halt durch, Anett. Vielleicht ist am Ende alles gut. Ich dachte: Jeder ist nun mal anders. Er zog mir den Slip aus, drehte mich herum und erledigte seine Bedürfnisse aus dieser Stellung, ohne den kleinsten Blickkontakt. Und zwar im Eilzugtempo, dreißig Sekunden. Fertig. Als ob ich in einen Zug eingestiegen wäre, der nur kurz anfuhr, besser gesagt, kurz ruckelte. Sofort wieder aussteigen und keinen Meter vorankommen, das war sein Sex. Ich kam mir vor wie ein Kaninchen; schlimmer noch! Ich hatte das Gefühl, vergewaltigt worden zu sein, keine Erotik, keine Zärtlichkeiten. Dann ließ er von mir ab und setzte sich grunzend auf die Couch. Unter meinem Couchtisch lagen Kosmetiktücher. Der sollte bloß nicht meine neue Couch mit dem ekligen klebrigen Zeug vollmisten! ›Nimm die Tücher!‹, befahl ich ihm. Ich selbst packte meine Klamotten und verschwand im Bad, kehrte zurück und besah mir ›die Männlichkeit‹, inzwischen wieder angezogen. Dann habe ich ihn aus meiner Wohnung hinauskomplimentiert.«
»Okay, wie ich. Nur habe ich eher die Reißleine gezogen. So was mag ich nicht. Sex, wenn er auch noch so versaut ist, hat für mich mit Liebe zu tun. Deshalb ärgere ich mich, ihm nur einen Millimeter meiner Haut gezeigt zu haben. Ich finde, erlaubt ist, was beide wollen. Oder bin ich altmodisch?«
»Na ja, manchmal sind deine Ansichten wirklich etwas angestaubt. Wir Frauen sollen uns nicht das nehmen, was Männer sich zu nehmen gedenken. Wozu haben Frauen um Gleichberechtigung gekämpft, hm?«
Das stimmte schon.
»Du willst auf dein Erlebnis mit Ralf hinaus?«
»Ja, zum Beispiel!«
»Was hattest du davon, außer einer Demütigung?«