Kitabı oku: «Ab 40 wird's einfach nicht schwer», sayfa 9
Rückblick
»Du bist wie ein Kolibri«
Ralf Severin
Diese tolle Frau, die ich liebte wie eine Schwester, die in meinem Leben immer wieder ein Fels in der Brandung war, die mir aber auch genug Gründe zum Lachen gab; diese hinreißende Frau lag in einem hässlichen Krankenhausbett mit aufgeklebtem Namensschild am Fußteil, in verwaschener Bettwäsche.
»Ich glaube nicht, dass ich es schaffe, Mausi.«
Martina sprach leise. Das Lächeln war verflogen, ihr Unterkiefer zitterte.
»Ich habe angefangen zu beten, stell dir das mal vor! Ich, die überzeugte Atheistin! Vor zwei Nächten hab ich von Paradiesvögeln geträumt. Ja, wirklich! Ich stand auf meinem Scheunendach und Hunderte von diesen Vögeln flogen an mir vorüber. Ich duckte mich, hielt die Hände vors Gesicht, doch es half nichts. Sie nahmen mich mit. Ich glaube, das war ein Zeichen …«
Noch immer blieb ich stumm. Ich hatte das Gefühl, nie wieder in meinem Leben einen Ton herausbringen zu können. Martina sah mir fest in die Augen. Ich hielt ihre zarte Hand so fest, dass ich rote Abdrücke darauf hinterließ. Martina hielt das aus. Diese Stille wollten wir beide. Dann sagte sie: »Ralf ahnt sicher auch, dass ich … gehen werde. Weißt du, was er gesagt hat?«
Sie wartete meine Antwort nicht ab.
»Du bist wie ein Kolibri. Egal, wo du sein wirst, wenn du kommst, werden Rosen blühen, es wird Gold regnen, die Grillen werden das Geschrei der Raben übertönen und Trauerweiden ihre Zweige heben.«
Ich legte mich zwei Stunden lang zu Martina ins Bett. Als die Schwester das Krankenzimmer betrat, um den Tropf zu wechseln, erwartete ich ein Donnerwetter. Doch sie schenkte uns ein Lächeln. Martina und ich unterhielten uns über jene Zeit, in der wir noch glaubten, sie wäre endlos. Ich küsste sie auf die Nasenspitze, umarmte sie und atmete gierig ihren frischen Duft ein. Wange an Wange weinten wir und schwiegen. Und dann, Wochen später, bekam ich die Nachricht. Sie hat den Krebs nicht besiegen können. Ohne meine Martina, ohne meinen blonden Engel, wie sollte das gehen? Ich sah sie vor mir, mit ihrem kahlen Kopf, diese tapfere Frau, die ihr Leben jenen Menschen verschrieben hatte, denen es nicht gut ging. Die Frau, die sogar noch lachte, als sie schon spürte, dass sie bald sterben würde. Und ich? Ich jammerte damals über meine Figur, bemitleidete mich. Ich war so erbärmlich. Und der Kolibri flog.
Sie schreckte aus ihren Gedanken. Dorthin, nach Berlin, sollte sie nun fahren. Zu ihrem Sohn. In die Nähe des Damals, hinein in ihre Erinnerungen. Silke lächelte, stand auf und lief atemlos ins Bad, trat vor den Spiegel, berührte ihn mit einer Hand.
»Bist du da?«
»Meinst du mich?«
Harry.
»Na ja, eigentlich …«
Er lächelte.
»Ich verstehe, du wartest auf sie.«
Er warf seiner Frau eine Kusshand zu und verschwand.
»Hey, mein Braunedel, ich bin da«, lächelte Martina.
Wie schön sie war!
»Hallo, mein Semmelpilz. Ich vermisse dich.«
Martina sah sie lange an.
»Ich bin doch da.« Ja. Jetzt war sie da.
»Ich fahre nach Berlin, zu Julian. Dort bist du …«
Sie nickte. Ihre blonden Locken umspielten das herzförmige, schöne Gesicht.
»Ich habe Angst. Ich war nicht bei dir, als du … ich hätte da sein müssen.«
»Mein Semmelpilz, ach du, du hättest nicht Tag und Nacht bei mir sein können. Der Tod hat seinen eigenen Rhythmus und kommt, wenn er es für richtig hält. Und Angst musst du keine haben. Denk einfach daran, wie viel schöne Zeit wir miteinander hatten, in Berlin und anderswo. Vielleicht kannst du das spüren, wenn du Julian besuchst. Ich bin immer bei dir, immer. Bitte vergiss das nicht. Glaubst du wirklich, dass die Toten gehen? Vielleicht körperlich, aber ihre Seelen sind unter euch. Schau, jetzt werde ich im Tod sogar noch spirituell.«
Martina lachte. Sie hatte schon immer ein unvergleichliches Lachen gehabt. Authentisch, herzlich, hell und keineswegs aufdringlich. Silke senkte den Blick.
»Wie geht es Julian überhaupt?«, fragte Martina.
»Er wird bald Doktor der Psychologie«, antwortete Silke und ihr Gesicht hellte sich auf.
»Siehst du, das Leben ist voller Wunder. Er ist ein guter Junge. Das hast du richtig toll gemacht. Du bist nicht grundlos meine beste, liebste Freundin.«
Ihr engelgleiches Lächeln ließ Silke Tränen in die Augen steigen. Sie konnte nichts mehr sagen, legte eine Hand auf den Spiegel, wollte ihre Freundin berühren. Martina verschwand. Vielleicht wurde sie verrückt? Sie setzte sich auf den Badewannenrand und schluchzte. Manchmal tat es so weh, die beiden zu vermissen, dass sie es nicht auszuhalten glaubte. Einerseits freute sie sich, Martina und Harrry zu sehen, andererseits machte es ihr Angst. Konnte sie sich vielleicht dadurch nie von diesem Schmerz lösen, der sie oft heimsuchte? Julian sollte sie davon lieber nichts erzählen. Aber sie musste darüber reden.
Im Augenblick wollte sie sich mit nur noch einem Menschen unterhalten und das war Carola, mit der sie sich immer häufiger lustige oder innige WhatsApp-Nachrichten schrieb. Die Frau faszinierte sie. Sie war stark, flippig und wunderbar eloquent.
»Kann ich dich mal anrufen?«, fragte sie per Nachricht. Es dauerte keine zwei Minuten, bis Carola »Klar!« zurückschrieb.
»Hallo, du«, begann sie das Gespräch.
»Selber hallo, du«, lachte Carola. Silke bemerkte ein seltsames Rasseln in ihrer Stimme.
»Bist du erkältet?«, erkundigte sie sich.
»Ja, ein bisschen, eigentlich in letzter Zeit dauerhaft. Ich fühle mich nicht so besonders wohl. Aber hey, das geht vorüber und darüber wollen wir doch nicht reden, meine Liebe, oder? Spuck es aus! Was beschäftigt dich?«
»Ich möchte dich was fragen«, und sie begann ohne Umschweife, Carola von ihren »Begegnungen« im Spiegel zu erzählen, von Harry und Martina aus der Anderswelt.
»Ich mache mir Sorgen um meine Psyche«, beendete sie ihren Bericht und hörte Carola tief einatmen.
»Mein Schatz, das ist nicht ungewöhnlich und verrückt bist du gleich gar nicht. Als mein Mann damals starb, ging es mir genauso. Er war nicht krank oder so. Er war einfach umgekippt und tot. Ich hatte lange Zeit große Angst, ihn zu vergessen. Erst recht wollte ich ihn nicht aus meinen Gedanken streichen, als hätte es ihn nie gegeben. Dann hätte ich ihn ja noch mal verloren. Ich hielt mich weiter an ihm fest, weil er immer noch auf irgendeine Art da war, weil meine Liebe weiterexistieren durfte und sollte. Es war mein Weg, mit diesem Verlust umzugehen und ich pfeife heute noch auf die Ratschläge von Leuten, wie: ›Du findest einen neuen Partner. Das Leben muss weitergehen.‹ Das klingt, als ob man eine kaputte Waschmaschine durch eine neue ersetzt. Du hast deinen eigenen Weg der Trauer gefunden, Silke, und der ist der richtige. Sei dankbar dafür, solch eine tiefe Bindung zu Harry und Martina noch immer fühlen zu können.«
Stille. Silke konnte nicht sprechen. Sie weinte.
»Meine Liebe, weine. Auch das gehört dazu. Jede Träne ist Gold wert. Wir hören und lesen uns später, okay? Hab dich lieb.«
Als Antwort reichte es nur noch zu einem Schluchzer.
10. Kapitel
Schröders Diagnose
»Warum müssen Frauen immer über alles philosophieren?«
Siegfried Schröder
Der Abend war für Schröders reserviert. Was für ein Tag! Um achtzehn Uhr schloss Silke die Tür zu ihrem Haus schon etwas müde zu, denn nach dem Telefonat mit Carola hatte sie lange geweint, obwohl sie es nicht wollte.
Auf dem Weg zum Nachbarhaus flogen Silke Spinnfäden ins Gesicht. Altweibersommer, wie schön!, dachte sie und strich sich einen hell glänzenden Faden von der Wange, der sie an das silbrige Haar von Frau Schröder erinnerte. Diese öffnete gleich nach dem Klingeln die Tür und als hätte sie Silkes Gedanken geahnt, hatte sie ihr silbrig glänzendes Haar heute besonders schön gelegt. Sie trug das schulterlange Haar diesmal offen, an den Spitzen mit einer Föhnwelle nach innen. Was für eine interessante Frau! Lieber Gott, lass mich in diesem Alter auch so faszinierend sein!, dachte sie und ließ sich von ihr umarmen.
»Kommen Sie, Silke, wie schön, dass sie uns nicht vergessen haben!«
Im Wohnzimmer saß Siggi bereits kerzengerade auf der Couch und blickte ihr freudig entgegen.
»Hach, unsere Silke, schön wie immer!«, schmeichelte er.
»Du alter Charmeur!«, lachte Frau Schröder und scheuchte ihn hoch. »Mach lieber den Tisch fertig!«
Gehorsam erhob sich Herr Schröder und begab sich in die Küche, um Teller und Besteck zu holen.
»Frau Schröder, haben Sie etwa wieder gekocht? Sie sollen …« Weiter kam Silke nicht. Die alte Dame winkte ab.
»Hören Sie auf, Silke, ich weiß doch, dass Sie für sich allein nichts kochen.«
»Also … ganz so ist es nicht, ich koche schon mal.«
»Nudeln?«, grinste Frau Schröder.
»Ja, genau und wenn ich richtige Lust habe, auch mal Blumenkohl.«
»Der, der sie immer an Frisuren mancher Frauen erinnert?«, lachte die alte Dame beherzt. Oh! Das wusste sie also noch.
»Ich bin böse, oder?«, fragte Silke, ein wenig unsicher.
»Nein, Sie haben Humor und manchmal ist er etwas schwarz. Das verträgt nicht jeder, aber ich! Wenn der verboten würde, dürfte heute keiner dieser neuen Comedians mehr auftreten. Was die von sich geben, ist teilweise grenzwertig. Aber gut, auch Humor ist subjektiv, nicht wahr?«
Zustimmend lachend folgte Silke der alten Dame in die Küche, um ihr zur Hand zu gehen.
»Was ist das?« Silke betrachtete staunend die duftenden Speisen am Herd.
»Heute gibt es Schlesisches Himmelreich mit Semmelknödeln, das schmeckt vorzüglich«, schwärmte die Köchin selbst und sah strahlend auf ihre Kreationen. Wie kam es eigentlich, dass sie völlig ohne Hungergefühl dieses Haus betreten hatte und ihr nun, betört von diesen Düften, das Wasser im Mund zusammenlief?
»Nun aber ab in die Stube. Sie sind Gast und wir haben den ganzen Tag gesessen. Lassen Sie sich mal verwöhnen!«
Sollte sie der fleißigen Frau wirklich glauben, sie hätte den ganzen Tag gesessen? Aber Silke gehorchte ihr ebenso wie zuvor Siggi und trabte artig ins Wohnzimmer. Dort setzte sie sich zu ihm an den Tisch. Er zwinkerte ihr lächelnd zu. Frau Schröder brachte zuerst die Klöße, dann eine weiße Porzellanschüssel mit Fleisch, das so köstlich duftete, dass Silke am liebsten nur den Geruch in sich aufgenommen hätte. War das nicht zu schade zum Essen?
»Na, nun greifen Sie zu. Das ist zum Essen und nicht zum Ansehen«, lachte Frau Schröder, die wohl nicht nur Psychologin, sondern auch Hellseherin war. Als Silke die ersten zwei Gabeln mit Häppchen zu sich nahm, glaubte sie sich im Paradies. So gut hatte sie schon ewig nicht mehr gegessen. Das war kein gewöhnliches Fleisch. Was war das nur?
»Frau Schröder, was ist das? Es schmeckt so außergewöhnlich!«
»Tja, schlesische Küche ist eben sehr delikat. Das Kasseler wurde mit Dörrobst, Backpflaumen und Zimtstange angereichert. Ich könnte Ihnen das Rezept geben, wenn Sie mögen.«
Silke hatte sich während Frau Schröders Erklärung schon Nachschlag genommen. Mit aufgerissenen Augen kauend meinte sie: »Das können Sie gern. Vielleicht überrasche ich Julian damit, sollte er mal wieder zu Besuch kommen.«
Das war ein Stichwort. Sofort wurde sie zu Julian ausgefragt und konnte Schröders Neugier befriedigen.
»Doktor der Psychologie! Mein Gott! Wer hätte das gedacht, der kleine, stille Julian.«
Und so merkte Silke gar nicht, wie schnell abgeräumt und ihr Glas nachgefüllt wurde.
»Wie sieht es denn sonst bei Ihnen aus? Haben Sie jemanden kennengelernt?«
Herr Schröder schüttelte den Kopf.
»Lydia, weißt du … muss das immer sein?«
»Silke, nehmen Sie mir das übel, wenn ich frage?«
»Nein, wie auch letztes Mal nicht.«
Sie lächelte. Warum sollte sie nicht von Reini erzählen? Frau Schröders Meinung war ihr wichtig. Also berichtete von der Ü40-Party und ließ kaum etwas aus, diesmal auch nicht ihre Toilettenaktion. Die Schröders lachten so herzlich, dass Silke gar nicht anders konnte, als mit einzustimmen. »Das meinte ich vorhin. Sie haben ihre eigene Art, mit den Dingen umzugehen – warum nicht? Wie langweilig wäre es doch, wären wir alle gleich und hätten den gleichen Blick auf die Dinge, würden gleich reagieren? Das macht uns Menschen doch aus«, meinte Frau Schröder und wischte sich dabei die Tränen des Lachens von den Augen. Als Silke dann erzählte, wie sie Carola erst be- beziehnungsweise verurteilte und was diese Frau mittlerweile für sie war, schwiegen sie. Frau Schröder sah sie lange an, als Silkes Augen wässrig wurden.
»Silke, keiner will Vorurteile haben, aber jeder hat sie. Schublade auf, Meinung rein, Schublade zu. Frauen können nicht einparken. Professoren sind durcheinander oder verrückt. Man fasst Menschen in Gruppen zusammen. Ein völlig normaler, automatisch ablaufender Prozess! So muss man über Dinge, die möglicherweise auf die große Mehrheit einer Gruppe zutreffen, nicht jedes Mal neu nachdenken. Die schnell abrufbaren Stereotypen können den Umgang mit anderen vereinfachen.«
Silke sah sie erstaunt an.
»Nein, nein, das ist im Wortlaut nicht von mir. Erst kürzlich las ich dazu einen Artikel im ›Deutschlandfunk‹, der das sehr gut und plausibel erklärte und meine alten Zellen auffrischte. Sie müssen sich also deshalb keine allzu großen Vorwürfe machen. Aber wissen Sie, was ich sehr gut finde? Sie denken nach, reflektieren selbstkritisch. Das können nicht alle Menschen, glauben Sie mir. Bei seinen Vorurteilen zu bleiben ist ja viel bequemer.«
Silke nickte. Sie sollte Carola wieder anrufen und sich bald mit ihr treffen. Und sie sollte ehrlich zu ihr sein, das hatte sie verdient.
»So, ihr Psychotanten, jetzt will ich aber mal was Schönes hören. Warum müssen Frauen immer über alles philosophieren?«, klagte Herr Schröder. Die Frauen sahen sich an und prusteten los.
»Siehst du? Ein Vorurteil: Warum müssen Frauen immer über alles philosophieren?« Frau Schröder kicherte und ihr Siggi tat so, als ob er schmollte.
»Und der Mann?«, hakte dann Frau Schröder nach.
Ach ja, der Mann! Silke erzählte von »ihrem Sabberheini«. Eigentlich hoffte sie auf neue Lacher. Aber die Schröders hörten zu, lächelten höchstens und staunten.
»Na, Reini sabbert nicht nur und redet zu viel. Er hat auch ein kleines Machoproblem, höre ich heraus«, schlussfolgerte die Nachbarin.
»Die Tochter scheint ziemlich pfiffig zu sein, denn sie hat genau den richtigen Vorschlag gemacht: Er solle Sprachübungen machen, und zwar regelmäßig. Aber Sie sind nicht seine Erzieherin oder Heilpraktikerin, Silke.«
Dem konnte sie nur aufatmend zustimmen. Dann holte die alte Dame zum psychologischen Rundumschlag aus.
»Wenn diese Vielredner nicht sprechen oder einem Reiz ausgesetzt sind, überschwemmen sie ihre Gedanken und Gefühle schnell. Negative Gefühle werden oft durch Essen, Unterhaltung und andere Ablenkungen verdeckt. Sein Gegenüber kann sowieso nur seiner Meinung sein, denn das ist doch die einzig richtige. Wozu also sollte sein Gegenüber noch sprechen? Er kennt seine Meinung doch schon; es ist ja die gleiche wie seine eigene. Seinen Redeschwall mit einem Nicken zu bestätigen, reicht also völlig.«
»Hä?«, fragte Silke verdutzt.
»Es könnte sein, dass er einfach nur unsicher ist«, ergänzte Frau Schröder.
»Hm …«, sinnierte Silke halblaut, »es könnte aber auch möglich sein, dass er sich selbst am liebsten reden hört und auf die Ausführungen anderer gern verzichtet, oder nicht?«
»Genau. Nur dieses ständige Lachen am Ende jeden Satzes macht mich stutzig.«
»Mich auch, und ich sage Ihnen, das nervt schon nach spätestens zwei Stunden, hahaha«, äffte sie nach.
»Gibt es denn wirklich keine anständigen und normalen Männer mehr?«, mischte sich Herr Schröder kopfschüttelnd ein.
»Offensichtlich nicht. Oder sie sind verheiratet oder schwul.«
Jawohl. So musste es sein.
»Und nun? Werden Sie ihn trotzdem noch einmal treffen?«
Frau Schröder sah sie neugierig an.
»Ja, das werde ich und dann – mal schauen.«
Sie sagte der alten Dame natürlich nicht, was Sandra ihr geraten hatte:
»Probiere ihn aus und du weißt es.«
Na, prima, das waren Aussichten! Wahrscheinlich um dieses unselige Thema abzuschließen, rief Herr Schröder fröhlich: »Lydia, du hast uns heute noch keine Geschichte erzählt.«
»Muss ich das?«, lächelte sie ihren Mann an.
»Nein, aber wir würden uns freuen, nicht wahr, Silke? Sie hat noch mehr schöne Geschichten, müssen Sie wissen, ein ganzes Buch davon.«
Warum überraschte Silke das nicht?
»Ja, Frau Schröder, bitte, bitte!« Silke klatschte dabei in die Hände.
»Na, na, Sie müssen aber deshalb nicht ins Vorschulalter zurückkehren«, lachte die alte Dame.
»Gut, dann tu ich euch den Gefallen. Eine schöne Liebesgeschichte vielleicht?«
»Oh ja!« Das Händeklatschen ließ Silke diesmal weg.
»Die Geschichte heißt: ›Die Frau von gegenüber oder Jeden Tag‹:«
Matthias war Ende fünfzig. Sein Leben betrachtete er als beinahe abgeschlossen und doch waren da noch Träume. Ein wenig verschüttet vielleicht, aber sie waren spürbar. Jede Nacht, bevor er in den Schlaf glitt, stellte er sich vor, wie schön doch das Leben sein könnte, ohne diese verdammte Einsamkeit. Er hatte sich daran gewöhnt. An manchen Tagen genoss er es, allein mit sich selbst zu sein, allein zu essen, seine Musik zu hören, ohne jemanden fragen zu müssen und den Tag nach seinen Vorstellungen zu leben.
Doch wieder häufiger sehnte er sich nach Gemeinsamkeiten mit einem anderen Menschen. Er erinnerte sich an Maria, seine Frau. Sie waren dreißig Jahre glücklich, bis sie glaubte, sich verwirklichen zu müssen. Oder waren sie gar nicht glücklich gewesen? War das eine Illusion? Seine Tochter warf ihm vor, dass er Maria gar nicht mehr wahrgenommen habe.
Seine Tochter war grausam gegen ihn.
»Sie sehnte sich einfach nach Aufmerksamkeit. Du hast sie doch gar nicht mehr gespürt, Vati!«, warf sie ihm vor. Er war wütend und zog sich enttäuscht von ihr zurück.
Maria lebte jetzt ganz nach ihren Vorstellungen. Sie ging aus, traf Freundinnen, verreiste und pflegte eine Affäre mit einem fünfzehn Jahre jüngeren Mann, einem windigen Immobilienmakler. So sah also die Aufmerksamkeit aus, die sie brauchte? Einen jungen, neureichen Gockel, der ihr den Hof machte, ihr, einer alternden, sich neu entdeckenden Henne, die sich für eine Diva hielt?
Matthias wollte einfach nicht mehr an die beiden denken. Es wurde Zeit, dass auch er lebte, wie es ihm gefiel und sich mit den Gegebenheiten abfand. Seine Tochter sprach inzwischen wieder mit ihm und bei ihren Besuchen versuchten sie, das Thema »Mutter« nicht mehr zu berühren. Das ließ ihn tief durchatmen. Ja, es war Zeit für einen Neubeginn. Er wusste noch nicht, wie er das schaffen sollte, aber er war nach zwei Jahren des Alleinseins endlich bereit dafür.
Erwartungsfroh trat er auf die Straße. Die Sonne blendete ihn. Er hätte seinen Hut mitnehmen sollen. Ständig vergaß er, dass er sich vor der Sonne schützen musste, seit ihm die Haare ausgegangen waren. Im vorigen Sommer hatte ihm ein Sonnenbrand so zugesetzt, dass er nächtelang nicht schlafen konnte. Darum ging er schneller zum Auto, welches er am Straßenrand geparkt hatte.
Das Haus gegenüber wurde von der Sonne beleuchtet. Schon immer gefiel ihm dieses Haus besonders gut. Die Fassade hatte einen satten, dunklen Grünanstrich, welcher angenehm mit den zart braunen Fensterläden in Kontrast stand.
Ob jene Frau wieder am Fenster saß? Er blickte zur Wohnung im Erdgeschoss und musste seine Augen anstrengen, um erkennen zu können, ob sie da war. Ja, da saß sie. Ihr blondes Haar trug sie an diesem Tag offen. Matthias hielt die Hand an die Stirn, um die intensiven Sonnenstrahlen abzuwehren.
Wie an jedem Tag waren die Augen der Frau unbeweglich auf die Straße gerichtet. Nie bewegte sie sich, wenn er sie von der Straße aus beobachtete. Er fand ihren Anblick diesmal besonders interessant. Das Haar fiel weich auf ihre schmalen Schultern, doch ihr Mund wies Spuren von Verbitterung auf. Sogar aus der Ferne konnte er das erkennen. Sie trug eine königsblaue Bluse und er konnte das Glänzen einer langen Kette erkennen.
Nachdenklich schloss er die Fahrertür seines alten Fords auf und stieg bedächtig ein, ohne den Blick von der Frau abzuwenden.
Als er von seinem Einkauf zurückkehrte, war die Frau von gegenüber verschwunden.
Er schlief kaum in dieser Nacht. Irgendetwas war anders als sonst.
Immer wieder stand er auf. Von seinem Küchenfenster aus hatte er eine gute Sicht zu dem Fenster der Frau von gegenüber. Doch alles war dunkel. Matthias zitterte. Die Nacht war angenehm warm, warum zitterte er? Er holte sich eine Decke und legte sie sich über. Vielleicht wurde er krank?
Verdrießlich ging er in sein Schlafzimmer zurück. Erst gegen drei Uhr fiel er in einen unruhigen Schlaf. Durchgeschwitzt erwachte er und konnte sich noch sehr lebendig an den Traum dieser kurzen Nacht erinnern:
Maria war wieder da. Mit einem Nerz und lockig hochgestecktem Haar stand sie vor ihm und lachte laut und mondän. Ihr Gesicht war überschminkt, der rubinrote Lippenstift über ihre Lippenform hinaus gemalt. Es war ein groteskes Bild. Sie sah nicht schön aus. Er hatte immer ihre Natürlichkeit, die graugrünen Augen, die ihn forschend ansahen und das rotblonde wehende Haar geliebt. Andere Frauen ihres Alters trugen die Haare kurz und färbten irgendwelche feuerroten Strähnchen hinein. Matthias wunderte es, dass es deren Männern gefiel. Marias Einstellung war glasklar.
»Warum müssen sich die Frauen die Haare abschneiden, sobald sie unter der Haube sind? Soll das etwa verdeutlichen, dass sie der Männerwelt nicht mehr zur Verfügung stehen?«
Matthias hatte damals über die Deutlichkeit und Zielsicherheit gelacht, mit welcher Maria die Dinge aussprach.
In diesem Traum aber sah sie aus wie ein abgemagertes Model. Dabei hatte er auch ihre Formen, die Weiblichkeit an ihr geliebt.
Er schüttelte sich, als könne er den Traum damit abwerfen. Müde stellte er die Kaffeemaschine an und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Scheinbar hatte er die Ehe noch nicht abgeschlossen. Maria ging einfach nicht. Oder wollte er sie nicht gehen lassen? Dabei war mittlerweile genau das sein Wunsch.
Nach dem Frühstück wollte er spazieren gehen. Er sehnte sich nach der Natur, dem Wald, der Stille und nach Frieden seiner inneren Welt.
Beschwingt kehrte er nach zwei Stunden von seinem Spaziergang zurück. Als er in seine Straße einbog, blickte er schon neugierig zu dem grünen Haus. Da war sie ja wieder! Wie entzückend sie aussah! Wie ein junges Mädchen hatte sie ihr helles Haar mit einem schwarzen Tuch gebunden und einen ebenso schwarzen Schal um ihre Schultern gelegt. Es schien sie trotz der Wärme zu frieren, was Matthias wunderte. Wieder blickte sie unbeweglich auf die Straße. Matthias war guter Dinge und stellte sich genau dorthin, wo sie hinzuschauen schien. Dann winkte er freundlich und lächelte.
Aufmerksam beobachtete er ihr Gesicht. Sie zeigte keine Regung. Er winkte noch einmal, diesmal heftiger. Da! Sie neigte ihren Kopf zur Seite und ja, sie schien zu lächeln. Oder bildete er sich das nur ein?
Fröhlich kehrte er in sein Haus zurück. Seit diesem Tage suchte ihn Maria in seinen Träumen nicht mehr heim. Mit jedem Tag wurde er fröhlicher und zufriedener und jeden Tag sah er diese bezaubernde Frau in dem jägergrünen Haus am Fenster. Jeden Tag sah sie anders aus und jeden Tag perfekt.
So verging der Sommer. Die Sonne verzog sich immer häufiger hinter dunklen Wolken. Der Regen wusch den Staub von den Straßen, Herbstnebel wandelte über die angrenzenden Felder. Als der Winter begann, war Matthias verliebt.
Eines Tages verließ er wieder in freudiger Erwartung sein Haus, die Frau von gegenüber sehen zu dürfen. Der Platz am Fenster jedoch war leer, die Rollläden waren heruntergezogen.
Matthias erschrak. Was war geschehen? Er lief zum Auto, öffnete seinen Kofferraum und übte das Falten der widerspenstigen Einkaufstüten, in der Hoffnung, noch länger vor ihrem Fenster verweilen zu können. Immer wieder sah er hinüber, als ob jede Sekunde der Rollladen nach oben gehen und er seine Zauberfee erspähen könnte. Doch nichts dergleichen geschah.
So entschloss er sich, bei den Nachbarn zu klingeln, denn ohne eine Auskunft konnte er nicht wieder zurück in sein Haus gehen. Keine Nacht würde er mehr schlafen können. Wenige Wochen noch bis Weihnachten. War sie verreist? Er brauchte Antworten.
Die Stimme eines jungen Mädchens erklang in der Sprechanlage. Er fragte nach der Frau von gegenüber.
»Frau Silbermann meinen Sie? Die ist im Krankenhaus. Herzinfarkt«, sprach die junge Stimme monoton. Sein Atem ging schneller. Ihm wurde schwindlig.
»Wissen Sie, wo sie ist?«, fragte er.
»Na, im Krankenhaus eben. Wir hörten nur den Notarzt und Krankenwagen kommen. Der Sohn war da und holte ihre Sachen. Die Silbermann spricht ja hier mit niemandem. Meine Mutter sagt: Das kommt von zu viel Einsamkeit!«
Die junge Stimme gab im Tonfall zu erkennen, dass sie kein Interesse hatte, weitere Fragen zu beantworten.
Mit hängenden Schultern und schweren Schritten stapfte Matthias zu seinem Haus zurück, hängte Mantel und Schal auf die Garderobe, schlüpfte aus den Schuhen und ließ sich auf die Couch fallen. Das durfte doch nicht wahr sein! Was sollte er nur tun? Warum hatte dieser Engel einen Herzinfarkt?
»Das kommt von zu viel Einsamkeit«, hatte die Göre gesagt. Was hat die schon für eine Ahnung von Einsamkeit? Überhaupt, wie sprachen diese Menschen nur über …, »Frau Silbermann«, hieß sie. Was war das für ein wunderschöner Name! Ja, Silber, das passte zu ihr. Nicht Gold, nein, Silber. silberblond wie ihr Engelshaar.
Unendliche Stille umgab ihn. Die erste und zweite Adventswoche verging. Seine Tochter und sein kleines Enkelkind kamen zu Besuch. Für ihn verging die Zeit zu langsam. Sie schien stillzustehen. Sollte er verreisen, um die Frau von gegenüber zu vergessen? Vielleicht war sie verbittert, wollte mit niemandem reden? Wie ging es ihr nur? Würde er sie jemals wiedersehen?
Kurz vor dem dritten Adventssonntag trat Matthias wieder aus dem Haus. Der Schnee war inzwischen getaut. Das milde Wetter und die spärliche Wintersonne besänftigten ihn ein wenig. Wie jeden Tag in den vergangenen Wochen schweifte sein Blick zu dem grünen Haus hinüber.
Plötzlich hielt er inne. Die Rollläden! Sie waren hochgezogen! Und da saß sie, sein blonder Engel. Matthias zitterte. Er begann hemmungslos zu weinen, lehnte sich an seinen alten Ford und verbarg das Gesicht in den Händen. Nachdem die Tränen der Erleichterung versiegt waren, sah er mit verschleiertem Blick zu der Frau von gegenüber. Er traute seinen Augen kaum. Sie hob ihre Hand und winkte ihm zu. Ihr Gesicht bewegte sich. Sie lächelte. Matthias winkte zurück. Sie schüttelte leicht den Kopf und schloss für einen Moment die Augen.
Nur noch wenige Tage bis Weihnachten und Matthias blühte jeden Tag mehr auf. Seine Wangen röteten sich, er fühlte sich kräftig wie ein junger Kerl. Die Frau von gegenüber wurde mit jedem Tag schöner.
Am Heiligabend wusste er, was er tun würde. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Mit einem wunderschönen, bordeauxroten Tuch als Geschenk, einer Flasche Sekt und einem glitzernden Weihnachtsstern stand er vor dem grünen Haus und klingelte bei »Silbermann«.
Es dauerte recht lange, bis eine warmherzige Stimme in der Sprechanlage in seinen Ohren erklang. Seine Knie wurden weich. Er fühlte sich wie ein junger Mann, wie damals, als er Maria das erste Mal getroffen hatte, vor über zweiunddreißig Jahren.
»Mein Name ist Matthias«, sagte er langsam.
»Sind Sie der Mann von gegenüber mit den freundlichen Augen?«, fragte die Stimme. Er lächelte.
»Ja, ich denke schon.«
Es summte. Er drückte gegen den Knauf der Eingangstür und atmete tief durch. Einen Spaltbreit öffnete sich eine gegenüberliegende Tür und die warmherzige Stimme rief: »Kommen Sie!« Matthias trat vor die Tür.
Die Frau von gegenüber sah ihn von unten an. Es dauerte einige Sekunden, ehe Matthias realisierte. Sie saß im Rollstuhl.
Über ihrem Schoß lag, sorgfältig gelegt, eine weiße Decke. Ihr Gesicht war übersät von Sommersprossen. Ihre kleine Stupsnase bewegte sich. In ihren blauen Augen leuchtete all das, was er viele Jahre vermisst hatte, auch an Maria. Diese Frau versprühte in wenigen Sekunden mehr Leben, als er in zweiunddreißig Jahren gelebt hatte.
»Treten Sie ein, bitte«, sagte Frau Silbermann mit einer einladenden Handbewegung und rollte die Räder ihres Rollstuhles langsam nach hinten.
»Niemand sollte zu Weihnachten alleine sein. Einsamkeit ist nicht gut für das Herz.« In klaren Worten sagte sie das, sah ihn an und blinzelte wie ein junges Mädchen.
Ab diesem Weihnachtstag waren sie zehn Jahre lang keinen Tag mehr einsam. Die Frau von gegenüber zog in sein Haus ein. Mit Matthias blühte sie auf, wurde jeden Tag kräftiger, stabiler und fröhlicher. Ihr Herz gesundete allmählich.
Gemeinsam nahmen sie sich jeden Tag die Zeit, um am Fenster zu sitzen und sich die Geschichte ihrer Begegnung zu erzählen. Jeden Tag entdeckten sie eine neue Einzelheit. Jeden Tag begaben sie sich auf eine neue Spur ihrer Liebe.«
Silke saß mit Tränen in den Augen da und schwieg. Die Geschichte war schnulzig-schön und offenbar war heute der Tag des Weinens. Als sie sich von Schröders verabschiedete, hatte sie nur noch einen Wunsch: nach Hause zu gehen. Sie würde sich bald mit Carola treffen und dieses neue Pflänzchen der Freundschaft gießen. Sie würde nach Berlin fahren zu ihrem Sohn. Sie würde mit ihren Freundinnen ausgehen, lachen und das Leben auf sich zukommen lassen. Und sie wollte noch immer – fliegen.