Kitabı oku: «Ab 40 wird's einfach nicht schwer», sayfa 11
»Nichts, aber ich hätte etwas davon haben können«, lachte Anett.
»Zu viele Konjunktive, meine Liebe.«
»Mag sein, wir machen eben auch Fehler, wir Frauen.«
Auch das stimmte, wie Silke bezüglich dieses Tages schlussfolgerte.
Das Gespräch mit Anett hatte sie noch nicht überzeugt. Sie wählte Sandras Nummer. Die hob ab und kaute gerade. Nachdem sie Silkes Stimme hörte, meinte sie mit vollem Mund: »Warte, mein Hasilein, ich schlucke erst mal runter.«
Wieder ein neuer Kosename, den sie überhörte.
»Du kannst ruhig weiterkauen, hör mir einfach zu. Weißt du was mir passiert ist?« Und dann schoss sie genauso los wie Reini. Ohne Punkt und Komma, allerdings auch ohne ha ha ha. Als sie endlich fertig war, holte sie tief Luft und wartete.
Sandra begann so laut zu lachen, dass Silke den Hörer vom Ohr weghielt.
»Was gibt es da zu lachen? Ich finde das nicht lustig.«
»Doch! Du warst, wie sagte die Solariumgrillhenne in ›Fortunas Licht‹ gleich? – ›chronisch untervögelt‹, nicht wahr?«
»Na hör mal, wer hat mir das denn unbedingt empfohlen: ›Probier ihn aus!‹?«
»Entschuldigung, aber du bist des eigenen Denkens mächtig, ja?«
Das wollte Silke gerade nicht hören, obwohl sie es wusste. Momentan brauchte sie wenigstens für kurze Zeit eine Schuldige.
»Das war einfach furchtbar!«, jammerte sie.
»Tja, ich sag’s ja, deshalb kommt mir kein Mann mehr ins Haus. Da hat es mein Vibrator besser gemacht. Du kennst ja meinen Spruch: Wenn ich mal eine Plastikallergie bekomme, bin ich aufgeschmissen! Endgültig!«
Sandras Lachanfall ebbte nicht ab. Schließlich musste auch Silke mitlachen. Sie war selbst schuld an dieser Misere und lachte sich selbst einfach kräftig aus.
»Das war es also mit Schlabberreini?«, wollte Sandra wissen.
»Was für eine Frage. Natürlich!« Silkes Stimme überschlug sich.
»Siehst du, und da wunderst du dich, dass ich lesbisch geworden bin? Vor einigen Monaten schickte mir so ein Kerl ein Foto von seinem behaarten Penis. Ich weiß nicht, was solche Schwachmaten sich einbilden!«
»Was? Wirklich?«, entsetzte sich Silke. »Und wie hast du reagiert?«
Das interessierte sie unbedingt. Von Sandra konnte nur etwas sehr Eigenwilliges kommen, selbst wenn es – wie bei Anett auch – zuweilen ordinär wirkte. Und es kam.
»Ich schüttelte mich erst mal, verzichtete auf meine nächste Mahlzeit und ärgerte mich darüber, denn du weißt ja, dass ich jetzt wieder ordentlich essen will.«
Hoffentlich kam sie bald zum Punkt.
»Ja, das glaube ich. Und dann?«, drängelte Silke.
»Na, warte, ich schau mal nach.«
Es raschelte.
»Jetzt habe ich mein Handy, kleinen Moment. So, hier: ›Jetzt pass mal auf, du bist mit einer der Gründe, warum Frauen die Schnauze voll haben von euch! Ihr denkt auch, ihr könnt euren Fleischknochen überall reinstecken. Seid ihr schon so verzweifelt, dass ihr es bei jeder probiert? Und ganz ehrlich: Dein Ding ist nicht die Welle! Sieht aus wie eine ausgelutschte Blutwurst, bei der die Schweineborsten noch dranhängen. Da habe ich schon Bessere gesehen.«
Es ging nicht mehr anders, Silke schüttete sich vor Lachen aus, konnte kaum wieder aufhören. Erst als Sandra dem Ganzen noch die Krone aufsetzte, hielt sie kurz inne, damit sie nichts verpasste, um gleich darauf wieder loszuwiehern.
»Also wirklich, der schickt voller Inbrunst so einen halb gestorbenen Piepmatz durch die Gegend?!«
Der Abend war für Silke gerettet. Jedes Mal, wenn sie an Sandras Bezeichnungen dachte, setzte sich ihr Kopfkino in Gang und sie prustete aufs Neue los. Diese Frauen waren seltsam, aber sie waren ihre Freundinnen. Why not? Whiskey fand das nicht lustig. Er hatte es sich bei ihr gemütlich gemacht und sprang jedes Mal entsetzt zur Seite, wenn es sie wieder vor Lachen schüttelte.
»Sorry, mein Hübscher, aber ich sage dir: Sei froh, dass du Katzen- und nicht Menschenmann geworden bist!«
Ungläubig sah Whiskey sie an und versuchte wieder, sich bei Frauchen einzukuscheln. »Aber ich verrate dir was. Sie sind nicht alle so. Du hättest Harry kennenlernen sollen. Der hätte dir gefallen«, flüsterte sie ihm zu und merkte, wie ihr Brustkorb enger wurde. Er fehlte ihr. Jeden verdammten Tag fehlten ihr sein Herz, seine Innigkeit, sein Humor, seine Art, das Leben zu betrachten, sein Sex-Appeal. Ihr fehlte es sogar, wie er war, wenn er zornig war, sich seine Augenbrauen zusammenzogen und die Augen scheinbar in Regenbogenfarben Blitze aussendeten. Da konnte keiner mithalten, erst recht nicht Reini.
Die neue Arbeitswoche begann. Der Regen prasselte an ihre Schlafzimmerfenster. Sie liebte das, es beruhigte sie auf besondere Weise. Für eine Weile stellte sie sich ans Fenster und sah zum Himmel. Was für ein Bild! Trotz des Regens blitzte ein fantastisches Blau auf sie herab. Als sie nach Osten sah, dominierten imposante dunkle Wolken. Wie konnte das gehen? Kaum konnte sie sich losreißen.
Im Büro begrüßte Martha sie an diesem Montag mit einem besonders schelmischen Lächeln, beinahe, als führe sie etwas im Schilde, außerdem irritierte Silke etwas an ihrem Äußeren. Nach der allgemeinen Begrüßung im Büro lief sie zu ihrem Schreibtisch und traute ihren Augen kaum. Eine Vase mit Margeriten stand dort und daneben lag, hübsch eingepackt, ein kleines Päckchen Mon Chéri.
»Was ist das?«, stotterte Silke. »Ich habe heute aber nicht Geburtstag.«
»Muss man dafür Geburtstag haben?«, wandte Martha ein.
»Martha, du warst das?«
Eigentlich eine überflüssige Frage in Anbetracht ihres verschmitzten Lächelns.
»Wo zum Teufel hast du jetzt noch Margeriten aufgetrieben?«
»Na, hör mal, du brauchst wohl etwas Nachhilfe in Botanik? Wenn das Wetter mitspielt, blühen sie auch noch im Frühherbst. Nur den Frost vertragen sie dann nicht mehr. Erst im Oktober ist es dann meist vorbei mit dem Blühen«, erklärte ihr Martha voller Stolz. Das war schon was, worauf sie stolz sein konnte, fand Silke und bedankte sich.
»Na, Sie ham ja nette Kolleginnen!«, hörte sie den Chef hinter sich sächseln. Wieder mal kratzte er sich am kahlen Kopf – wohl ein Tick – und grinste breit. Sein Bauch schien von Woche zu Woche dicker zu werden.
»Ja, habe ich. Neidisch?«, scherzte sie. »Ein bisschen schon …«, griente er und der Bauch bewegte sich wie der Gymnastikball, auf dem Silke mal in der Physiotherapie hatte herumhüpfen müssen. Und wie der Mann heute gut gelaunt war! Das wollte sie nutzen.
»Ach, Chef, wir müssen Sie auch mal verwöhnen«, schmeichelte sie ihm. Der Endfünfziger wurde so rot, dass seine Wangen sie an Bilder von Sankt Nikolaus erinnerten. Nur der Bart fehlte.
»Sie Schmeichlerin. Was wollen Sie denn?« Herausfordernd sah er sie an. Durchschaut. Er kannte sie schon zu lange.
»Urlaub.« Es half nichts. »Sehr bald Urlaub«, ergänzte sie.
Chefchen kratzte sich wieder auf der Glatze und leckte an seiner Oberlippe. Das war ein gutes Zeichen! Wenn er das tat, standen ihre Chancen gut.
»Wann genau?«
»In den nächsten zwei Wochen?«, fragte sie vorsichtig.
»Okay. Sie ham es sich verdient. Wohin geht’s denn?«
»Zu meinem Sohn nach Berlin. Ich möchte mal sehen, wie er sich so macht als angehender Doktor der Psychologie«, gab sie an, reckte ihr Kinn und strahlte.
»Das ist ja wunderbar!«
Martha hüpfte vor Aufregung und klatschte in die Hände. Dabei fiel Silke auf, dass die Frau abgenommen hatte. Ah! Das war es, was sie vorhin irritiert hatte! Und noch was. Martha war flott gekleidet, und zwar nicht in Pink. Aus ihr ist ein ein echter Hingucker geworden, dachte Silke und bewunderte Martha. Aber erst einmal freute sie sich über den genehmigten Urlaub.
Etwas Zeit war noch bis dahin. Da bei Julian in der WG zu wenig Platz für sie war, buchte Silke in einer Steglitzer Pension ein Zimmer, traf erste Reisevorbereitungen und bemerkte bei Durchsicht ihres Kleiderschrankes, dass sie noch einiges brauchen würde. Sie musste dringend shoppen gehen, und das, obwohl sie es nicht mochte. Auf in die Stadt! Als sie das Kaufhaus betrat, erinnerte sie sich an jene Zeit, als sie sich noch mit dreißig Kilogramm mehr auf den Rippen herumplagte und versuchte, etwas Vernünftiges zum Anziehen zu bekommen, was nicht aussah, als hätte sie sich in Carportplanen eingewickelt. Auch dachte sie an die Damen mit den Blumenkohlfrisuren und den alten Herren, der sie lüstern betrachtet hatten, während sie verschiedene Büstenhalter in die Hände nahm. Sie hatte sich mit ihrem Gewichtsdrama beschäftigt, als gäbe es nichts anderes. Bis Martina an Krebs erkrankt war. Bis Martina … Dann wurde alles anders. Auch sie. Doch jetzt wollte sie sich auf das Leben konzentrieren und marschierte sicheren Schrittes in den H&M. Ein Kleid fiel ihr sofort ins Auge, als sie jemand an der Schulter berührte.
»Hey, das gibt’s do ni, Silke?«, fragte eine weibliche Stimme mit extrem sächsischem Dialekt. Sie drehte sich um. Vor ihr stand eine kräftige Frau mit rotem Haar und stark geschminkten Lippen, die sie förmlich anschrien.
»Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind.«
»Nu, sache ma! Erkennste mich wirklich ni? Nu gud, ich bin fett geworden, aber sonst?«
Aber sonst …, ja, der Dialekt, die wässrig-blauen Augen, war das Sabine …
»Sabine?«
»Nu glor, Mensch, du! Ich freu misch so, disch zu sähn!«, schnatterte Sabine fröhlich und drückte Silke freudig an sich. Die ließ es geschehen und fragte sich, wie lange sie Sabine nicht mehr gesehen hatte. Sie kam nicht darauf, aber die alte Schulfreundin klärte sie auf.
»Mensch, mir ham uns bestimmt schon acht Jahre ni mehr gesähn!«
Aha, das war eine lange Zeit.
»Koofste no viel? Woll mer dann ä Schälschen Heeßes trinken gehen?«
Eigentlich wollte sie sich auf ihre Klamotten konzentrieren, aber gut.
»Ich probiere nur dieses Kleid an, okay? Dann gehen wir einen Kaffee trinken.«
»Ä scheenes Kleid, du! Was is’n das für ne Größe?«, fragte sie und sah auf das Schild.
»Dä Viertsch? Nu, du hast’s gud. Da würdsch ni ma mit eem Been reingehn!«, lachte Sabine laut. Na, Selbstironie hatte sie. Silke steuerte auf die Kabinen zu, schlüpfte in das Kleid, gefiel sich darin, verließ die Kabine und zahlte. Sabine folgte ihr auf Schritt und Tritt. Zumindest schwieg sie dabei. Beim Verlassen des Ladens hakte sie sich bei Silke unter, als wären sie beste Freundinnen, und strahlte wie eine »Fettbemme«.
»Lass uns doch zum Italiener in die erste Etage gehen, ich hätte auch Lust auf ein Eis und die machen den besten Kaffee«, schlug Silke vor.
»Nu, das machen wir. Wohin du willst! Mensch, bin isch froh, disch getroffen zu ham. Hab so viel an disch gedacht, vor allem, seit de Martina … ist das schlimm. Es ist schon länger her, aber isch kanns immer noch ni fassen!«
Dazu schlug sie die Augen nieder. Nicht das noch! Beim Italiener angekommen, holte sich Silke zwei Kugeln Eis und einen Kaffee. Sabine verlangte es nach einem großen belegten Brötchen, XXL. Kaum saßen sie an ihrem Tisch, wurde Silke schon nach den letzten Jahren gefragt. Sie erzählte, was sie erzählen wollte, und hielt sich kurz.
»Und de Liebe?«
Nix da Liebe. Liebe war aus.
»Nichts«, antwortete sie knapp.
»Wie jetzt: ›nüscht‹?«
»Na, nichts. Nichts ist nichts, ist nichts.«
»Isch hab den Mario geheiratet«, berichtete Sabine stolz.
»Und? Bist du zufrieden?«, erkundigte sich Silke, weil ihr darauf nichts Besseres einfiel.
»Na klar, er ist ä gudder Kerl. Und er ist jetzt genau so dick wie ich. Da muss isch keene Angst ham, dass er mir wegrennt. Der kommt ni mehr weit!«, merkte sie dazu an und lachte. Silke sah sie ungläubig an und konnte sie wieder vor sich sehen, wie sie damals gewesen war. Und sie erinnerte sich sehr viele Jahre zurück: Silke hatte nach der Schule nach Hause gehen wollen, doch ein paar Jungs aus den Parallelklassen hatten ihr aufgelauert, sie beschimpft und nicht vorbeilassen wollen. Als Martina, das kesse und hübscheste Mädchen aus ihrer Klasse mit Sabine gekommen war, hatten die beiden Mädels die Jungs buchstäblich auf die Knie gezwungen. Die folgende Zeit, in der sie sich mit Martina angefreundet hatte und sie unzertrennlich geworden waren, stand ihr wieder deutlich vor Augen. Als beste Freundinnen hatten sie sich »Semmelpilz« und »Braunedel« genannt und hoffnungsfroh in die Zukunft geblickt.
Und dann hatte sie allein an Martinas Grab gestanden; sie konnte den Verlust einfach nicht fassen. Monatelang kämpfte sie mit ihrer Trauer. Immer wieder dieses Nichtbegreifen. Warum Martina?
Silke sah Sabine an. Wie hatten sie sich beide verändert! Wo war die Zeit nur geblieben? Es trieb ihr die Tränen in die Augen.
»Was is’n mit dir?«
In Sabines verschwommen wirkenden eisblauen Augen sah Silke nichts. Die gefärbten roten Haare fielen steif auf die Schultern der früheren Schulfreundin und bewegten sich nicht einmal, wenn sie den Kopf drehte. Sie klebten an ihrem Haupt, sie lebten nicht. Silke überkam Melancholie, die sie beim Betreten des Kaufparks noch zu verdrängen gesucht hatte. Ob sie mit Sabine darüber sprechen sollte? Warum nicht? Es gab nichts mehr zu verlieren.
»›Ich weiß nicht‹, würde ich am liebsten sagen. Aber ich weiß es. Ich weiß nur nicht, ob du verstehst, was es ist, was es wirklich ist.«
»Versuche es, bitte!«, bettelte die alte Freundin.
»Ich habe versucht, zu glauben. Ich habe geglaubt, ich könnte noch mal einen Partner finden. Nicht so einen wie Harry, denn ich weiß, so einen Mann gibt es nur ein einziges Mal im Leben einer Frau. Aber ich bleibe allein. Manchmal ist es gut, aber nicht immer. Harry und Martina fehlen mir jeden einzelnen Tag. Alles wird anders. Fremd. Weißt du noch, wie es früher war? Als das Leben langsamer ging? Liegt es daran, dass sich unsere Leben im Größenwahn auflösen, dass wir in unserem Immer-mehr-haben-wollen die einst kleinen Räume vergessen haben, in denen wir lebten und glücklich waren? In denen wir gestritten und uns wieder versöhnt haben? Kann es sein, dass wir gar nicht mehr merken, wie wir innerlich erkalten und die schönen, warmen Heizungen in unseren Wohnungen nicht das ausgleichen, was wir dabei sind zu verlieren? Wir werden kalt, verstehst du? Wir werden solange kalt, bis wir wieder warm werden. Und dann ist es zu spät.«
»Ich verstehe disch, doch – ich glaube, ich verstehe disch, Silke!« Sabine ergriff Silkes Hand mit ihren beiden, angenehm warmen Händen. Eine ehrliche Berührung, bevor sie sich verabschiedeten und Silke in den vielen Blicken Fremder verschwand. In Blicken, die sie trafen und doch nicht bei ihr blieben, die sich verloren in gemeinsamer Einsamkeit und nichts preisgaben. Diesen Blicken, die nicht sprechen konnten. Die nicht Tag waren und nicht Nacht.
Silke wollte heute nur noch nach Hause. Vielleicht konnte sie sich in Berlin eindecken? Dort gab es viel mehr Möglichkeiten. Nur noch zwei Tage und ein neues Abenteuer erwartete sie. Bei ihrem Sohn in Berlin. In der Nähe von Martinas letzter Stätte. Es war noch einiges zu tun. Whiskey musste versorgt werden, was wie immer bestimmt die Nachbarskinder von gegenüber erledigen würden. Die Blumen vertraute sie Frau Schröder an. »Alles, was ich brauche, ist bisschen mehr vom Nichts, weniger vom Alles, aber genug vom Viel«, flüsterte sie Whiskey zu, als er sich am Abend auf ihren Schoß legte.
12. Kapitel
Berlin, Berlin …
»Das ist Berlin, das ist eben echtes Leben, Mama.«
Julian Liebmann
Als sie sich auf die Reise nach Berlin machte, war es Anfang September. Die Schwalben und Gänse begannen in wärmere Gebiete zu ziehen. Silke mochte es, die Vogelzüge zu beobachten. Es stimmte sie melancholisch, wenn sie an die Freiheit der Vögel dachte.
Die Autofahrt verlief reibungslos. An den Tankstellen anzuhalten, sämtliche Dialekte und Sprachen zu hören, sich in eine Vielfalt einzufügen, hob ihre Stimmung noch mehr. Jeder war wichtig, doch keiner beachtete den anderen. Man wurde sichtbarer und zugleich unsichtbar. Eine seltsame Anonymität herrschte hier, vielleicht ein Porträt der Gesellschaft – und ihr doch nicht unangenehm. Gerade fuhr sie wieder an einer Tankstelle vor, um sich einen Kaffee zu holen. Niemand drängelte. Sie hatte Zeit. Vor ihr stand ein holländisches Ehepaar, das sich angeregt unterhielt. Diese Sprache hörte sie gern, obwohl es immer klang, als hätten die Menschen einen Knödel im Mund und würden versuchen, damit zu sprechen. Hinter ihr kicherten zwei alte Damen aus Polen mit knallrotem Lippenstift, die mit einem Reisebus angekommen waren. Viel Polnisch verstand sie nicht, aber einige Wortfetzen kamen ihr bekannt vor. Verträumt und glücklich stand sie inmitten dieser Leute, die sie nicht kannten.
Ein kleiner Junge drängelte sich zwischen ihr und dem holländischen Paar vorbei, sodass sie einen Schritt zur Seite treten musste. Dabei trat sie einer der polnischen Frauen auf den Fuß. Die kreischte kurz auf. »Przepraszam«, sagte Silke erschrocken, was auf Deutsch »Entschuldigung« hieß. »Proszę, proszę, wszystko dobrze«, beruhigte sie die alte Lady freundlich und lächelte Silke mit einer großen Zahnlücke an. Ihre goldenen Ohrringe drehten sich um die eigene Achse. Bezaubernde Damen. Warum reiste sie nicht öfter? Nachdem sie den Kaffee getrunken hatte und weiter das Kommen und Gehen in der Raststätte beobachtete, ging sie noch mal auf die Toilette. Auf dem Weg zurück sah sie, wie die zwei polnischen Damen verzückt einige Plüschtiere in die Hand nahmen und diskutierten. Sie schnappte Wortfetzen auf, vielleicht die Namen ihrer Enkel. Mit ihren rot lackierten Fingernägeln, die Reini gefallen hätten, inspizierten sie jedes einzelne Plüschtier, wackelten wie kleine Kinder mit deren Ohren und bewegten die Beine. Sie erfreuten sich daran, als wären sie um einige Jahrzehnte zurückkatapultiert worden. Ihre Wangen wurden vor Erregung rotfleckig, bis sich jede für ein Kuscheltier entschieden hatte und es der anderen stolz vor die Nase hielt.
Auch Süßigkeiten mussten noch mit. Silke grinste, warf den beiden ein »Do widzenia!« und ein freundliches Lächeln zu und ging wieder zu ihrem Auto. Sie sah, wie die zwei Damen hinter dem Glas der Raststätte standen, die Hände voller Mitbringsel und versuchten, wenigsten mit zwei Fingern zu winken, dabei krampfhaft das Erstandene festhaltend. Das war Leben. Als sie weiter über die Autobahn raste, dachte sie über Langsamkeit nach. Die schwermütigen Geräusche der Lastwagen ließ sie genauso hinter sich wie ihre eigenen. Sie hörte nicht AC/DC, sondern Reinhard Mey; und sie fühlte sich frei. Dass sie sich dem Berliner Ring näherte, merkte sie auch ohne Hinweisschilder. Der Verkehr wurde dichter, eine gewisse Hektik war spürbar. Sie ließ sich nicht beirren und hörte der angenehmen männlichen Stimme des Navis zu, die sie nach Steglitz lotste – auch für ihn keine leichte Aufgabe. Julian war aus dem Studentenviertel, wo er während seines Studiums gewohnt hatte, ein Jahr zuvor weggezogen, ausgerechnet nach Steglitz, aber er war eben ein Spießer geworden und das gab er auch zu.
»Mama, wenn du lange genug da gewohnt hast, kommt der Tag, an dem du rauswillst. Außerdem bin ich jetzt zu alt für diese Verrückten.«
Es waren seine Entscheidungen; es war sein Leben.
Endlich kam sie an. Erleichtert und erschöpft stieg sie aus und streckte sich lange, bevor sie sich die Pension von außen ansah. Was für ein hübsches Haus! Die Bilder auf der Internetseite hatten nicht zu viel versprochen. Und das in der Nähe des Botanischen Gartens und in einer Seitenstraße der Schlossstraße, wie schön! Die Balkone waren mit Blumen geziert, alles wirkte aufgeräumt und einladend. Bevor sie mit dem Koffer auf die Pension zuging, schrieb sie Julian:
»Ich bin gut in Steglitz gelandet. Wann sehen wir uns? Liebe Grüße, Mama.«
An der Rezeption begrüßte sie ein netter, älterer Herr mit weißem Hemd und roter Weste.
»Herzlich willkommen, die Dame! Haben Sie ein Zimmer bei uns reserviert?«
Silke dankte ihm und nannte ihren Namen.
»Na, da schau ick mal nach.«
Der Rest ging schnell. Sie unterschrieb, bekam ihren Schlüssel und die kurze Beschreibung zum Zimmer. In dem Haus konnte man sich nicht verirren, alles war übersichtlich und so betrat sie kurz darauf einen gemütlichen Raum, in dem sie also nun einige Tage ihres Lebens verbringen sollte. Links der Zimmertür stand ein großes Bett mit einem Nachtschrank mit einer kleinen Leuchte, gegenüber ein weißer Schreibtisch und eine rote, geschmackvolle Tischlampe. Der anthrazitfarbene Teppich verlieh dem Zimmer heimelige Wärme. Vom Zimmer ging das überschaubare, saubere Bad mit Waschbecken, WC und Badewanne ab. Sie hatte alles richtig gemacht. Erleichtert streifte sie die Schuhe ab, ließ sich auf das Bett fallen und nickte ein.
Wie neugeboren wachte Silke nach einer Stunde auf und sah auf ihr Smartphone.
»Bist du angekommen? Gib mal ein Zeichen. LG, Caro.«
»Hey, Grinserin, alles Paletti? LG Sandra.«
Und:
»Hast du mit deinem kleinen Flitzer alle auf der Autobahn abgehängt? Wie ist die Pension? LG Anett.«
Warum zum Teufel schrieben die Leute »Liebe Grüße« nicht aus? Das waren gerade mal acht Buchstaben mehr! Hatten sie alle keine Zeit mehr für einen anständigen Gruß?
»Bin gut angekommen, Pension ist super. Liebe Grüße, Silke«, schrieb sie an Caro und kopierte die Nachricht, um sie den beiden anderen auch zu schicken. Nur nicht auf »Weiterleiten« gehen. Jeder wollte schließlich nicht einfach nur »weitergeleitet« werden und seine eigenen Worte lesen. Ich rege mich über die Abkürzungen auf und schicke jeder meiner Freundinnen kopierte Worte. Mit schlechtem Gewissen schrieb sie Caro noch hinterher:
»Wenn ich wieder zurück bin, treffen wir uns endlich und machen einen drauf, okay?«
Caro war noch online und prompt kam:
»Klar, Süße, ich will noch viel von dir erfahren und mit dir was erleben!Küsschen, Caro.« Das wollte Silke auch. Sie wollte wissen, welch eine Frau sich hinter Caros Fassade versteckte, und ahnte: Dort schlummerte eine weiche, sensible und trotz allem, was sie erlebt hatte, lebensfrohe Person. Warum war ihr aber so seltsam zumute? Letztens rasselte Caros Atem und sie schickte kaum noch ihre Kuss-, Umarmungs- oder Affen-Smileys. Vielleicht hatte sie nur Stress? Immerhin betrieb sie eine Kneipe. Um ihr schlechtes Gewissen weiter zu bereinigen, schrieb sie an Sandra:
»Was macht Dein Engelchen?«
Auch sie war noch online.
»Mein Engelchen fliegt um mich herum und macht mich völlig verrückt.« Lach-Smiley. Danach ein riesiges pulsierendes Herz.
»Ich bin gespannt, was ich hier erleben werde. Wenn ich wieder zu Hause bin, machen Sandra, Caro, Du und ich einen drauf, verlass Dich drauf!«, schrieb sie Anett hinterher.
»Klar doch. Und verdreh den preußischen Offizieren nicht den Kopf mit Deinem Charme!«, und ein Ganz-dolle-Lach-Smiley flog nach. Witzig.
»Ich will hier keinen Mann finden, sondern meinen Sohn sehen, ihn als Dozent erleben und ein wenig Kunst und Kultur genießen.« Augenroll-Smiley.
»Logisch, was sonst? Tu nicht immer so artig, ich weiß, was in Dir schlummert! Den Rotzbengel Reini hast Du nach Hause geschickt, weil er nach der Brust gesabbert hat!« Zwei Ganz-dolle-Lach-Smileys. Waren die Mädels heute wieder friedfertig!
»Ja, habe ich. Schrecklich, muss ich nicht wieder haben, so etwas.«
»Dafür habe ich gute Neuigkeiten. Ich habe nämlich einen netten Mann kennengelernt, vor einer Woche an der Tankstelle.«
»Wie jetzt, an der Tankstelle? Hast Du den Zapfen nicht gefunden?«
»Sehr witzig, Silke. Nein, mein Tankdeckel ging nicht auf. Die Tankstelle war fast leer, bis ein Transporter ankam. Da stieg ein Traummann aus!« Herz.
»Und? Hast Du ihn gefragt, ob er den Hahn bei Dir einlassen kann?«
Jetzt war Silke dran: Drei Ganz-dolle-Lach-Smileys. Sie hatte von ihren Freundinnen viel gelernt.
»Dumme Pute! Er hat mir geholfen und es hat gleich ›Ding‹ gemacht.«
»Ding? Oder … Ding?«
»Wie bist Du denn heute drauf? Wieder chronisch untervögelt?«
»Kein Wunder! Mein letzter körperlicher Kontakt, obwohl man das nicht unbedingt so bezeichnen kann, fand mit Maschinengewehr-Reini statt und da fühlte ich mich fast schon wie ein Huhn unterm Hahn. Du hast selbst gesagt, was auf mich zugekommen wäre. Wusstest Du, dass der Sex von Hühnern genau so kurz und brachial ist, wie seine zoologische Bezeichnung? Tret-Akt. Hätte nur noch gefehlt, ich hätte Blut und Federn dabei gelassen.«
»Ich kann gleich nicht mehr vor Lachen!« Anett schickte gleich fünf Lach-Smileys.
»Lach nur! Wenn ich ihn hätte machen lassen was er wollte, hätte ich danach zehn Eier gelegt! Die wären aber definitiv verfault gewesen!«
Anett schickte viele Lach-Smileys in unterschiedlicher Ausfertigung. Wahrscheinlich lachte sie gerade dermaßen, dass die Wände wackelten. Silke hörte ihr außergewöhnliches Lachen förmlich, das dem Meckern einer Ziege glich. Nach einer Pause folgte nur noch:
»Du Scherzkeks, dafür liebe ich Dich so. Und weil Du mich gerettet hast. Wird Zeit, dass wir wieder mal die Sau rauslassen. Nur eins versprich mir: Sperre niemanden mehr für mich ein. Okay?«
Upps. Sie wusste also davon. Bestimmt würde Silke bei ihrem nächsten Treffen erfahren, woher.
»Na, hör mal! Hättest Du nicht dieses bekloppte, viel zu enge Kleid und darunter auch noch ein Korsett getragen, wäre es gar nicht erst dazu gekommen!«
»Ist doch gut, war nur Spaß. Außerdem war es ein ›Bauchweg-Gürtel‹, kein Korsett! Hast Du eigentlich schon eine Anzeige von den netten Damen bekommen?«
»Nö. Sollten sie sich auch nicht erlauben, sonst fallen mir noch andere Sachen ein. Caro hat denen die Segel aus dem Wind genommen. Gute Frau!«
»Stimmt, die ist voll in Ordnung. Wenn man bedenkt, wie wir über sie geredet haben …«, erinnerte Anett sie ungünstigerweise.
»Ja, ja, ich weiß doch. Caro ist eine dufte Frau. Ich freue mich, sie bald zu unserem Kreis der klimakterisch akzentuierten Emanzen zu zählen. Ich mag sie sehr.«
»Sie passt zu uns, stimmt. So, Süße, jetzt mache ich mich hübsch für meinen Star-Tankwart.«
»Wie heißt er überhaupt?«
»Er heißt Max und ist siebenundvierzig Jahre alt, arbeitet als Dachdecker, ist total lieb und hat eine traumhafte Figur!«
Angeberin!
»Zieh Dir aber etwas an, das Dir passt! Oder such Dir keinen Dachdecker, sondern einen Schneider.«
Der saß.
»Dumme Kuh«, kam’s zurück. So war es brav.
Zum Abendessen machte sich Silke salonfähig und stiefelte im wahrsten Sinne des Wortes mit ihren neuen weißen Stiefeletten, einer dunklen Jeans und weißer Bluse in den Gastraum. Schade, er war noch fast leer. Sie bestellte aus der Speisekarte den »Steglitzer Abendtraum«. Um das Ganze abzurunden, nahm sie noch einen trockenen Rotwein dazu.
»Jefällt Ihnen det Zimmer?«, sprach sie jemand von hinten an. Sie erschrak. Es war der ältere Herr von der Rezeption und er strahlte sie an.
»Ja, sehr, es ist überaus gemütlich«, antwortete sie wahrheitsgemäß.
»Det freut mir aber, Fräujlein.«
Mit einer angedeuteten Verbeugung entfernte er sich. Es dauerte nicht lange, da brachte ihm eine Frau in Silkes Alter das bestellte Abendbrot. Sie wusste es! Die Berlinerinnen waren nicht zu verachten. Die Männer im Preußenland brauchten keine Frau aus Sachsen. Ihr blondes, kräftiges langes Haar hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden. Ihre schmalen, ebenmäßigen Gesichtszüge wirkten weich, weiblich, und dann diese Figur! Sie wusste sicher, was sie tat, denn sie hatte eine rot-weiße Schürze eng in der Taille zusammengebunden. Beneidenswert schlank, dachte Silke nicht ohne Wehmut. Die Steglitzer Schönheit stellte den Teller und Wein vor ihr ab und hatte das gleiche Lächeln mit entzückenden Grübchen wie der alte Herr.
»Herzlich willkommen bei uns und lassen Sie es sich schmecken. Wenn Sie irgendwelche Probleme oder Fragen haben, kommen Sie jern zu mir oder meinem Vater«, sie deutete in Richtung des alten Herrn, der gerade in der Nähe ein Tischtuch wechselte und fröhlich zu ihnen herüberwinkte, als er ihre Blicke bemerkte. »Das mache ich, danke.«
Beinahe hätte Silke »Det« gesagt. Sie würde dann auch zu den Menschen gehören, die nach einer Woche Aufenthalt in anderen Regionen versuchten, deren Dialekt anzunehmen und dabei schrecklich albern klangen.
Die Schlossstraße hatte ihren Reiz. Inzwischen waren zwar die Geschäfte geschlossen, aber sie wusste: Da würde sie fündig werden; Shoppingcenter, Bekleidungsgeschäfte, Schuhläden, Uhrmacher und Schmuckläden. Ihrer Kreditkarte standen harte Tage bevor. Nach einer Stunde kehrte sie in die Pension zurück und sah auf ihr Handy. Julian:
»Hey, Mama, heute schaffe ich es leider nicht mehr, aber morgen habe ich den ganzen Tag Zeit. Ich hole Dich um zehn Uhr ab, ist das in Ordnung?«
Und wie das in Ordnung war.
»Ja, super, ich freue mich«, antwortete sie, duschte und fiel schnell in einen tiefen Schlaf.
Nach einem kräftigen Frühstück in der Pension wartete sie schon ab neun Uhr aufgeregt in ihrem Zimmer, prüfte ständig ihre Frisur, zog den Lippenstift nach, zog sich die Schuhe an und wieder aus, als würde sie sich auf ein Date vorbereiten. Dann rannte sie zum Badezimmerspiegel und sah lange hinein. Bisher waren ihr Harry und Martina nur im heimischen Spiegel erschienen. Ob sie vielleicht …? Eine Weile stand sie davor, doch sie sah nur sich selbst. Auch Tote haben ihren eigenen Willen, dachte sie und lachte über diesen grotesken Gedanken. Jetzt war kein Raum für Wehmut. Endlich war es fast zehn Uhr. Sie schnappte sich die Handtasche und lief beschwingt die Treppen runter, vorbei an dem älteren Herrn, der sie auf seine erfrischend schnoddrige Weise grüßte, und wartete vor der Pension. Wie gerufen strahlte die Sonne und huldigte mit ihrer letzten Kraft dem Sommer. Kaum ein Lüftchen wehte.
Sie kannte Julians neues Auto nur von Fotos, die er ihr immer wieder mal schickte. Ein Auto sagte auch viel über einen Menschen aus. Sein silberner Mercedes rollte langsam und ohne jegliches Geräusch in ihre Richtung. Hatte dieses Vehikel überhaupt so was wie einen Motor? Und hinter dem Lenkrad, war das ihr Sohn? Wann zum Teufel war er so erwachsen geworden? Und wieso bekam sie davon nicht viel mit? Julian stieg aus und ging ihr lächelnd entgegen. Im ersten Augenblick stutzte Silke. Er schien ihr fremd geworden zu sein. Vor ihr stand ein gestandener Mann mit klugen, wachsamen, fast schwarz funkelnden Augen und buschigen Augenbrauen hinter einer Brille mit schwarzen Rändern. Sein schwarzes Haar war modern kurz geschnitten. Er trug eine dunkle Jeans, ein weißes, perfekt gebügeltes Hemd und ein schwarzes Sommersakko mit Stehkragen und silbernen Knöpfen an den Ärmelenden. Mit seinem Dreitagebart sah er noch älter aus, als er in Wirklichkeit war. Sie schluckte.