Kitabı oku: «Ab 40 wird's einfach nicht schwer», sayfa 12
»Mama, wie schaust du denn aus der Wäsche? Ich bin es, Julian, dein Sohn, und kein Geist«, witzelte er und brach damit das Eis, das nur durch die räumliche und monatelange Entfernung entstanden war. Als sie seine Stimme hörte, die wie immer klang, entspannte sie sich.
»Ja, klar, mein Kind, du bist nur so – erwachsen!«
Jetzt fehlte nur noch, dass sie zu heulen anfing. Seit wann war sie so schnell aus der Fassung zu bringen? Alte Damen weinten auch immer, sogar bei einer Rosamunde Pilcher-Verfilmung.
»Ja, das kann sein. Ich bin ja auch erwachsen«, konterte er. Schon lagen sie sich in den Armen. Nachdem sie sich gelöst hatten, glänzten Silkes Augen und Julian strich ihr übers Haar.
»Mama, du wirst immer hübscher!«, meinte er und sah sie bewundernd an.
»Hör auf, du Schmeichler!«
»Doch! Glaub mir! Werde nur nicht wieder dünner, die Figur jetzt steht dir ausgezeichnet!«
Du lieber Himmel! Als hätte sie es geahnt, fuhr er mit seinen psychologischen Betrachtungen fort.
»Wirklich! Ab einem gewissen Alter sollten Frauen nicht mehr hungern oder sich ständig Diäten unterwerfen. Es schadet den Hormonen und es macht alt. Psychologisch betrachtet ist es so …«, wollte er weiter ausholen.
»Oh bitte, mein Schatz, verschone mich damit. Ich bin schon ein großes Mädchen«, warf sie ein. Julian grinste.
»Berufskrankheit! Hättest du Lust auf den Alex?«
»Welchen Alex? Kenne ich den?«
»Mama, denkst du denn immer nur an Männer?« Ihr Sohn begann lauthals zu lachen. Immerhin, das hatte sie lange nicht mehr bei ihm gesehen.
»Den Alexanderplatz meinte ich!«
»Ja doch, ich habe es ja schon begriffen. Gern, lass uns fahren.« Sie schickte sich an, die Beifahrertür seines Wagens zu öffnen.
»Vergiss es. Nicht mit dem Auto. Wenn wir in der Nähe des Alex parken, könnten wir uns das Mittagessen nicht mehr leisten. Und wie du weißt, wäre das für mich dramatisch. Wir gehen zur Bahn. Am Rathaus Steglitz können wir mit der S1 direkt bis zum Alex fahren.«
»Ach, stimmt. Wir sind in Berlin. Aber bitte, ich möchte mich mal kurz in dein Auto setzen, ja?«
Galant hielt Julian ihr die Beifahrertür auf. Sie hatte ihn gut erzogen. Als sie im Wagen saß, staunte sie.
»Was für ein Spießerwagen!«, entfuhr es ihr. Er grinste.
»Ich weiß, sag nichts. Mercedesfahrer sollen arrogant, ernst, unsportlich und was weiß ich noch alles sein.«
»So ein Unsinn! Diese Klischees immer! Ich fahre einen Renault. was sind diese Frauen dann?«
»Mama, Frauen werden bei Autos nicht so stark kategorisiert. Sie entscheiden sich häufig für Kleinwagen, weil diese ganz einfach praktischer sind. Für sie ist das Gefühl der Unabhängigkeit primär.«
Es ging schon wieder los. Ich glaube, ich muss meinen Sohn mal ganz unpsychologisch auflockern, dachte sie amüsiert.
»Berlin ist spannend«, meinte Julian, als sie sich neugierig in der S-Bahn umsah.
»Wenn man hier lebt, muss man das wirklich wollen. Für mich war es am Anfang eine enorme Umstellung, wie du weißt.«
Ja, das wusste sie. Als Julian auszog, um sich ohne sie in sein eigenes Leben zu stürzen, hatte sie ihre Zweifel gehabt, ob er mit einem so enormen Wechsel zurechtkommen würde. Von den eher maulfaulen Sachsen zu den aufgeweckten und aufgeschlossenen Berlinern? Ihr introvertierter Julian? Das war für sie kaum vorstellbar. Und nun? Er wohnte in einer Gegend der Gutsituierten und war Doktorand.
Am Alex angekommen, wurde Silke unruhig. Was hier los war! Von Weitem auf den Alexanderplatz blickend, kam er ihr wie ein bunter Ameisenhaufen vor. Aber es waren Menschen; mit verschiedenen Nationalitäten, Menschen in jedem Alter, mit unterschiedlichen Outfits.
»Oh mein Gott! Was ist denn da los?«, rief sie aus.
»Nun ja, wenn ich mich recht entsinne, passieren täglich etwa dreihunderttausend Menschen den Alexanderplatz. Das ist Berlin, das ist eben echtes Leben, Mama.«
Wie wahr! Und wie das Leben war! Silke war überwältigt. Diesen Anblick musste sie erst mal sacken lassen. An der Weltzeituhr blieb sie stehen, um all das in sich aufzunehmen, es sollte sie durchdringen und in ihr bleiben. Neben ihr schien ein Mann um die dreißig auf jemanden oder etwas zu warten. Er sah ständig auf die Uhr, als ob sich innerhalb von Sekunden etwas Entscheidendes an der Zeit ändern würde. Dabei räusperte er sich nervös, trat von einem Bein auf das andere und strich sich über sein blondes, sehr kurzes Haar, als ob er diese Frisur noch richten müsse, die nicht mal ein Sturm durcheinandergebracht hätte. Julian stand ruhig neben seiner Mutter und gab ihr Zeit, alles zu betrachten. Spannend wurde es für sie, als eine junge Frau, ungefähr in Julians Alter, auf den Wartenden zukam. Am auffälligsten war ihr langes, glänzend kohlrabenschwarzes Haar und die zierliche Gestalt mit der Statur einer Zwölfjährigen. Silke tat so, als würde sie nicht hinsehen, beobachtete aber alles genau aus den Augenwinkeln.
»Hallo, bist du Patrick?«, und sie lächelte ihn so lieblich an, dass es selbst den härtesten Kerl aufgeweicht hätte.
»Ja, der bin ich. Und du bist Kate?« Sie nickte, ging noch einen kleinen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn herzlich. Sie musste sich dabei auf die Zehenspitzen stellen und noch strecken, so klein war sie. Nachdem sie sich gelöst hatten, grinste Julian seine Mutter von der Seite an und räusperte sich.
»Tja, Mama, das ist ein beliebter Treffpunkt, auch für potenzielle Liebespärchen. Du musst allerdings mit deinem Sohn vorliebnehmen.«
Das sagte er etwas zu laut, denn Patrick drehte sich zur Seite und strahlte sie an.
»Eine gute Wahl, halt sie fest«, flüsterte Silke ihm augenzwinkernd verschwörerisch zu und er nickte eifrig. Das war der Vorteil des Älterwerdens. Mamas durften so was, fand sie. Sie durften Ratschläge erteilen, auch wenn andere sie nicht hören wollten, und meistens wurden sie dafür nicht mal kritisiert. Außer von den eigenen Kindern.
»Komm jetzt, du Spannerin, wir wollen los. Wenn du weiter hier rumstehst und gute Ratschläge erteilst, ist bald Mittagszeit.«
Essen und Julian. Julian und Essen. Das gehörte unzertrennlich zusammen.
»Okay, ich komme ja schon. Es ist nur alles so fesselnd. Auf unserem Dörfchen zu Hause sehe ich Harry und sein Herrchen, die Schröders und auf der Arbeit sind es auch immer dieselben Gestalten.«
»Jaja, ich lass dich ja, du Provinzlerin. Aber wir wollen doch noch mehr sehen, oder?«
Sie brauchten nicht weit zu gehen, schon standen sie vor einem großen Springbrunnen, der schräg gegenüber der Weltzeituhr sprudelte. Wahrscheinlich war kein einziger Zentimeter mehr auf dem Rand des Brunnens ungenutzt. Einige Kinder tanzten um ihn herum. Viele aßen oder tranken, quatschten oder kuschelten sich aneinander.
»Da ist kein Platz mehr für uns. Wollen wir zum Fernsehturm?«
»Ja, gut.«
In ihrem Magen grummelte es. Dort angekommen, besah sich Silke den imposanten Turm.
»Weißt du, wie hoch der ist?«
Sie glaubte, Julian würde die Angst in ihrer Stimme hören, aber er war wahrscheinlich stolz, sein Wissen zum Besten zu geben.
»Er ist mit knapp dreihundertsiebzig Metern das höchste Bauwerk in Deutschland und damit der vierthöchste Fernsehturm Europas. Wir können zur Bar hochfahren.«
»Ja.«
»Mama, hast du Angst? Musst du nicht, die Bar befindet sich bei zweihundertdrei Metern, bis ganz hoch brauchst du nicht«, lachte er.
»Ist da nicht dieses Drehrestaurant?«
»Genau, und das solltest du schon genießen. Also, komm.«
Er nahm seine Mutter am Arm und führte sie in das Eingangsareal. Sie kauften Karten und begaben sich zum Fahrstuhl, der sich bald in Bewegung setzte, sobald er voll war. Dicht an dicht stand Silke mit einem älteren Pärchen. Das Parfum der Frau erinnerte sie an … Ja woran? Ihr Herz raste, sie lenkte sich ab. Woher kannte sie nur den Duft? Oma Hilde. Genau. 4711. Ihre Großmutter hatte es getragen. Nicht gerade ihre Duftnote, aber die Erinnerung war schön. Sie hatte leider nicht mehr viel von ihr gehabt; Oma war gestorben, als Silke sieben Jahre alt gewesen war. Aber der Geruch, der sie lange nach ihrem Tod an Insektenvernichtungsmittel erinnerte, blieb Oma Hildes Vermächtnis. Der Fahrstuhl ruckelte nicht, er fuhr einfach nur nach oben. In Silkes Kopf begann es sich zu drehen. Das konnte auch die Erinnerung an Oma Hilde nicht mehr verhindern.
»Mama, du bist blass. Ist dir nicht gut?«, fragte Julian besorgt.
»Nein, alles gut, alles in bester Ordnung, mein Schatz«, piepste sie.
»Wir sind gleich da.«
Ungläubig sah Julian seine Mutter an. Endlich geschafft! Der Fahrstuhl hielt. Überglücklich, im Restaurant angekommen zu sein, fanden sie sogar zwei Plätze. Kaum hatten sie sich dankbar gesetzt, in der Hoffnung, jetzt einen guten Kaffee und ein Wasser bestellen zu können, sah sie kurz nach unten. Alles um sie herum begann sich zu bewegen. Glaubte sie.
»Bewegt sich das gerade?« Ihre Stimme klang heiser. Das durfte doch nicht … Sie hielt sich den Bauch und fühlte Schweiß auf ihrer Stirn.
»Ja, es geht gerade los, es dreht sich, sieh nur«, rief Julian aufgeregt.
»Ich war selbst lange nicht mehr hier. Es ist immer wieder eindrucksvoll!«
In diesem Moment sah er zu seiner Mutter.
»Um Gottes willen! Was ist mit dir?«
Kreideweiß im Gesicht und die Stirn voller Schweißperlen, krallte sie sich an der Tischkante fest und blickte starr geradeaus. Ihr lag in zweihundertdrei Metern Höhe und mit atemberaubenden dreihundertsechzig Grad immerhin die Hauptstadt zu Füßen! Und ihr wurde schlecht?!
»Warum habe ich mich bloß darauf eingelassen?«, stöhnte sie leise. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
»Mama?«
Silke konnte ihren Sohn kaum noch hören. Am Nebentisch stand ein Mann auf und kam auf sie zu.
»Ich bin Arzt, kann ich helfen?«
»Ja, ich glaube, meiner Mutter geht es nicht gut.«
»Ist sie krank? Ich meine, hat sie eine chronische Erkrankung, Herz, Kreislauf, Diabetes oder anderes?«
Julian schüttelte mit inzwischen fleckig gerötetem Gesicht den Kopf.
»Ich glaube, dann kenne ich das Problem«, meinte der ältere Herr und nickte ihm freundlich zu.
»Wie heißt Ihre Mutter?«
»Silke.«
Wie eine Statue saß sie da, bewegte sich nicht mehr und schien nicht mehr anwesend zu sein.
»Silke?«
Der Mann sprach leise. Mit schweißnassen Händen drückte sie nun auf ihrer Handtasche herum. Er nahm ihre Hand, die er nur mühsam von der Tasche lösen konnte und fühlte den Puls.
»Der Puls ist sehr hoch. Sie hat eine Panikattacke. Wussten Sie, dass sie Höhenangst hat?«
Mit weit aufgerissenen Augen sah Julian den Mann an.
»Niemals! Ich bin schließlich ihr Sohn, das müsste ich doch wissen! Sie ist mit mir früher immer in die Höhe gefahren oder gegangen, sie konnte nicht genug davon bekommen.«
»Ja, das glaube ich Ihnen. So was kann auch später eintreten. Hat sie Ihnen nichts gesagt, bevor Sie hierhergekommen sind?«
»Nein, hat sie nicht.«
»Silke?«, sprach der Mann wieder leise und nahm ihre kalte Hand.
»Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind in Sicherheit. Alles ist gut. Schauen Sie, hier ist Ihr Sohn, hier bin ich und ich bin Arzt. Ihnen passiert nichts. Sie sind in Sicherheit.«
Jetzt bewegte sie ihren Kopf, rang nach Luft, hechelte dann und drückte seine Hand fest.
»Atmen Sie ganz ruhig!«, forderte sie der Arzt mit einer angenehm tiefen, sanften Stimme auf. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Silke ruhiger atmete, strich er vorsichtig über ihren Arm.
»Kommen Sie, wir gehen, ja? Ihr Sohn und ich schaffen Sie jetzt hier weg und Sie atmen weiter tief ein und aus.«
Julian griff nach ihrer Handtasche. Silke ließ sich von dem Arzt wie eine Puppe aufstellen und ging neben ihm, als wäre sie blind.
»Sie müssen wieder mit dem Fahrstuhl runter, das nützt nichts«, flüsterte der Arzt Julian zu.
»Reden Sie beruhigend auf sie ein und halten Sie Ihre Mutter fest. Sie wissen schon …«, riet der Arzt.
»Ich weiß, ich bin Psychologe«, entgegnete Julian deutlich angespannt und sah zu seiner Mutter, deren Gesichtsfarbe sich wieder ein klein wenig rötete.
»Ah ja, das ist ja wunderbar. Da kann ja nichts mehr schiefgehen.«
Der Arzt lächelte.
»Danke für Ihre Hilfe.«
Julian nahm seine Mutter am Arm und stieg mit ihr in den Fahrstuhl. Als der anfuhr, wurde sie wieder blasser und abwesend. Vor dem Fernsehturm führte er sie zu einer Bank. Nur langsam wich die Anspannung aus ihrem Gesicht und machte zehn Minuten später Erleichterung Platz.
»Danke«, flüsterte Silke mit rauer Stimme. Die Farbe kehrte wieder in ihr Gesicht zurück.
»Warum hast du mir davon nichts erzählt? Ich wäre niemals mit dir hochgefahren, Mama. Aber ich hätte es merken müssen, du warst schon vorher seltsam. Bitte entschuldige.«
In seiner Stimme schwang neben Traurigkeit auch die Enttäuschung über sich selbst mit. Durfte einem Psychologen so etwas passieren, bei der eigenen Mutter die Warnsignale einer Phobie nicht wahrzunehmen?
»Ich wusste es nicht. Ich wusste schon, dass mir Höhe seit zwei Jahren zu schaffen macht. Aber nicht so … Mach dir nur keine Gedanken, du kannst nichts dafür!«
»Gibt es noch mehr Auffälligkeiten?«
Sie sah ihn entsetzt an.
»Was? Meinst du, dass ich einen an der Waffel habe?«
»Nein, ob du neben der Höhenangst auch in engen Räumen Probleme hast oder anderes.«
Silke schluckte schwer, denn es war ihr aufgefallen, doch sie hatte es verdrängt.
»Ja, ich fühle mich schnell eingesperrt, halte Enge kaum aus. Das Schlimme daran ist, sich ausgeliefert zu fühlen, wie zum Beispiel in einem Tunnel oder in Fahrstühlen.«
»Mama, wie der Arzt vorhin auch erwähnte, das kann vorkommen, wenn man älter wird.«
Sie hatte nichts davon registriert, was der Arzt gesagt hatte.
»Du musst gegen diese Angst etwas tun. Schließlich bist du noch jung, kannst dir noch so viel ansehen. So wie dir geht es vielen. Frauen leiden darunter doppelt so häufig wie Männer. Wenn du dich jedes Mal scheust, irgendwo in die Höhe zu fahren, versäumst du viel Schönes. Die Welt von oben zu betrachten vermittelt ein großartiges Gefühl der Freiheit. Und genau das passt zu dir, Freiheit. Vielleicht könntest du eine Konfrontationstherapie machen, mit einem Psychologen? Dahinter steht das Prinzip, dass man durch die Angst hindurchgehen muss. Auch Entspannungstechniken wie Atemübungen können hilfreich sein.«
»Um Himmels willen, Julian, ja. Aber jetzt nicht. Ich möchte nur noch paar Minuten sitzen bleiben, zur Besinnung kommen und dann mit dir weiter die Gegend unsicher machen, okay?«
»Okay«, resignierte Julian. Es hatte keinen Sinn. Er kannte seine Mutter; sie hatte ihren eigenen Willen und den setzte sie für gewöhnlich durch.
Nach einigen Minuten spazierten sie Richtung Berliner Schloss, als wäre nichts geschehen. Vor dem ehemaligen Palast der Republik stand ein Brunnen mit einem faszinierenden Wasserspiel. Es war noch warm genug und Kinder sprangen fröhlich durch die Fontänen.
»Alexanderplatz, das ist Leben«, sinnierte sie und strahlte ihren Sohn an.
»Oh ja, hier hat man immer das Gefühl, das Leben ist ein Fest oder ein Markt.«
Silke sah einen Currywurst-Stand.
»Ich habe Hunger, lass uns was essen. Und ich muss unbedingt so eine Currywurst haben, die schmeckt nur hier.«
»Gute Idee! Wir können ja später noch mal was Richtiges essen?«
Silke lachte laut.
»Für mich ist das was Richtiges, aber ich weiß schon …«, neckte sie ihn, »du Fresssack!«
Der Tag verging schneller, als ihr lieb war. Sie ging noch shoppen und erstand rot-schwarz gemusterte Traumschuhe, zwei bezaubernde Röcke, eine flotte Hose und eine grüne Lederjacke. Die Läden waren brechend voll. Sie staunte, dass ihr sogar das Einkaufen Spaß machte. Hier war eben alles anders. Später sahen sie sich das bezaubernde Nikolaiviertel an und sie nahm sich vor, ein anderes Mal auch eine Brückenfahrt zu machen, wenn das Wetter es erlaubte. Die Panikattacke hatte ihr zugesetzt, obwohl sie es sich selbst nicht gern eingestehen wollte.
»Ich bin noch paar Tage da, Julian. Für heute ist es genug.«
»Ja, das sehe ich auch so. Du siehst abgekämpft aus. Lass uns zurückfahren.«
»Wir könnten in der Pension was ›Richtiges‹ essen. Was meinst du?«
»Was haben die denn da so?«
Das war klar. Julian ließ sich nicht mit oberflächlichen Informationen hinsichtlich potenzieller kulinarischer Genüsse abspeisen.
»Die haben auch Schnitzel«, grinste Silke ihn an.
»Ey, du bist gemein! Aber so bist du mir lieber als heute im Fernsehturm.«
In Steglitz angekommen, war der Tag dabei, sich langsam zu verabschieden. Wie ein Gemälde wirkte die Pension, die in warmes Abendsonnenlicht getaucht wurde. Verglichen mit der regen Lebendigkeit am Alex war es hier auffällig still. Einige Gäste rauchten vor der Pension, unterhielten sich und grüßten freundlich.
»Ein schöner Tag war das heute, das Wetter spielt mit!«, rief ihr die Frau mit kölschem Dialekt zu. Das war jetzt etwas, was sie brauchte. Unterhaltungen über das Wetter, Normalität und – Boden unter den Füßen.
»Morgen muss ich leider den ganzen Tag arbeiten. Aber wir könnten uns am Abend sehen, wenn du magst«, schlug Julian vor, nachdem er Schnitzel und Pommes gierig verschlungen hatte.
»Ja, gern. Ich würde gern tanzen gehen«, schlug sie zu ih-rem eigenen Erstaunen vor. Reini hätte sich gefreut, hahaha.
»Tanzen?«
Verdutzt sah er seine Mutter an.
»Ja, warum nicht? Ich habe gehört, dass in Berlin Mitte ein richtig schönes Tanzhaus sein soll, sehr traditionell: ›Clärchens Ballhaus‹.«
»Ja, ich weiß. Aber das ist geschlossen, der Besitzer hat gewechselt und es muss erst saniert werden. Sag mal, du bist lange nicht mehr tanzen gewesen. Ich dachte, du magst das nicht?«
»Mir geht es auch nicht unbedingt ums Tanzen, sondern um die Atmosphäre dort.«
»Okay, dann schaue ich mal, wo Tanzveranstaltungen stattfinden, ich glaube, ich erinnere mich, etwas über eine gute Location gehört zu haben und sage dir Bescheid, wenn ich zu Hause bin, ja?«
Die Berliner Schöne kam an den Tisch und strengte sich besonders an.
»Darf ick euch noch wat bringen?«
Ihre Augen waren auf Julian gerichtet. Du bist schön, aber leider schon ein altes Mädchen, dachte Silke amüsiert und beobachtete das Gebaren der Frau weiter. Julian war wie immer.
»Ja, gern, ich würde noch einen Espresso vertragen. Du auch, Mama?«
»Ja, eine gute Idee.«
Die Berlinerin versuchte sich im Flirt mit Julian.
»Jern, jeht gleich los«, zwitscherte sie wie ein junges Vögelchen und wippte davon. Silke schüttelte den Kopf.
»Was ist los?« Julian hob die Augenbrauen nach oben und sah seine Mutter an.
»Hast du das nicht gemerkt?«
»Was denn?«
War ihr Sohn immun gegen die Signale einer Frau?
»Na, die Kellnerin baggert – sie baggert dich an.«
Er zuckte mit den Schultern, es interessierte ihn nicht. Ob er mit dieser Haltung mal eine Freundin fand? Sie wagte es nie, ihn danach zu fragen. Nachdem sie bei der feschen Berlinerin gezahlt und sich voneinander verabschiedet hatten, freute sich Silke auf eine heiße Dusche und ihr Bett. Sie brauchte lange, ehe sie einschlafen konnte. Viele Gedanken spukten ihr im Kopf herum und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Kam es ihr nur so vor, oder wurde das Verhältnis zwischen ihr und Julian in den letzten Jahren distanzierter, je weniger sie sich sahen? Er erzählte ihr kaum etwas, wenn sie getrennt waren, und auch sie berichtete ihm viel weniger aus ihrem Leben, als es ihr lieb war. Wie weit ließ man einer Mutter Einblicke in das eigene, erwachsene Leben gewähren und wie weit seine Kinder? Seit Harrys Tod schien auch der lebendige und fröhliche Teil Julians mit ins Grab seines Vaters gegangen zu sein. Daran hatten die Sitzungen beim Kinderpsychologen nichts geändert. Julian blieb verschlossen. Er lernte viel, trieb Sport, er hatte Freunde. Sein Leben wirkte jedoch immer etwas konstruiert, als ob er es so lebte, weil er dachte, es müsse so sein. Julian konnte man emotional kaum »greifen«. Auf seinem Gesicht lag ein merkwürdiger Schatten; sein Schmerz. Wie sehr hätte sich Silke jetzt ihre liebe Frau Schröder hergewünscht, die immer die richtigen Worte für sie hatte. Sie würde ihr vielleicht jetzt eine Geschichte erzählen und Silke mit ihrem beruhigend mütterlichen Lächeln besänftigen.
»In Ihnen steckt noch ein wenig das kleine Mädchen. Sie hatten sicher mal Zöpfe.«
Das hatte Frau Schröder zwei Monate zuvor gesagt, als sie Silke geholfen hatte, ein paar neue Samen im Beet zu setzen.
»Das kann möglich sein«, hatte sie geantwortet. »Und Zöpfe hatte ich tatsächlich. Steckt nicht in uns allen ein bisschen vom ›inneren Kind‹?«
Frau Schröder hatte ihre Gartenarbeit unterbrochen und sie eindringlich angesehen.
»Sie wissen es doch: Manchmal müssen wir unser inneres Kind an die Hand nehmen, es trösten, liebkosen, ihm gut zureden und ihm Hoffnung geben. Glauben Sie nicht, ich müsste das nicht auch manchmal tun, gerade wenn ich an meine Eltern denke und wie sie in den Bomben umkamen, als ich gerade bei meiner Tante war? Das hat mich mein ganzes Leben lang verfolgt. Ich brauchte immer wieder neu Trost, Zuspruch und Gespräche mit dem Mädchen von damals.«
Und dann hatte sie sich die Hände gewaschen und gemeint:
»Ich komme gleich wieder.« Als sie zurückgekehrt war, hielt sie ihr kleines Büchlein in der Hand.
»Setzen wir uns in den Schatten, Silke.«
Dort hatte sie ihre Hand genommen, das Buch aufgeschlagen und zu lesen begonnen: