Kitabı oku: «Ab 40 wird's einfach nicht schwer», sayfa 14

Yazı tipi:

»Ja, es ist bezaubernd. Und Ihnen?«

Sie sprach automatisch vornehm und wünschte sich jetzt eine von den Zigaretten mit den ewig langen Spitzen herbei.

»Auch mir gefällt es außerordentlich. Sind Sie das erste Mal in diesem Etablissement?«

Seine Stimme war sehr tief, aber auch angenehm warm.

»Ja, das bin ich. Und Sie?«

»Ich war schon oft hier, manchmal mit meiner Schwester und deren Mann, aber auch mit meiner Tochter.«

Oh! So schnell eine persönliche Information!

»Sie sind nicht von hier, nehme ich an? Ich höre eine kleine Nuance sächsischen oder niedersächsischen Dialekt heraus. Verraten Sie es mir?«

Da dachte sie, sie würde Hochdeutsch und vornehm reden und nun?

»In der Tat, ich komme aus dem Land mit dem schönsten Fluss der Welt.«

»Nein, nein, meine Dame, der schönste Fluss der Welt ist die Spree.«

Sie hörte sein verhaltenes, sympathisches Lachen.

»Da muss ich Ihnen deutlich widersprechen, mein Herr. Die Elbe ist der viertgrößte Fluss Europas, die Spree ein knapp vierhundert Kilometer langer Nebenfluss.«

Sie benahm sich gerade wie Julian und gab mit ihrem Google-Wissen an. Dabei sah sie sich im Saal um, welcher Herr gerade telefonierte. Ein aussichtsloses Unterfangen, da einige Herren und ebenso viele Damen telefonierten. Die Flirtleitungen glühten.

»Die Dame ist ein überaus kluges Geschöpf. Dennoch wage ich zu bemerken: Wir sprachen nicht von Länge, sondern von der Schönheit. Und wenn wir bei dieser sind, möchte ich die Ihre preisen und Sie höflich bitten, mit mir einen Cocktail an der Bar zu trinken.«

Wie unerhört geschwollen, aber schön!

»Mein Herr, diese Einladung nehme ich dankend an«, raunte sie in den Hörer. Was für ein herrlich burleskes Spiel!

»Es ist mir eine große Ehre. Voller Freude erwarte ich Sie in wenigen Minuten an der Bar. Suchen Sie nach einem Herrn mit sehr hellem Haar und weinroter Fliege.«

War das aufregend! Die Überlegung, schnell noch auf der Toilette zu verschwinden, um sich der Unversehrtheit ihres Make-ups zu versichern, verwarf sie schnell. Der Herr sah sie, sie ihn aber nicht. Wenn er beobachtete, dass sie sich extra aufhübschen ginge, wäre ihr das peinlich. So unauffällig wie möglich holte sie sich ihren kleinen Spiegel aus der Kosmetiktasche und hielt ihn neben ihr Glas. Alles war in Ordnung. Noch ein-, zweimal an den Haaren gezupft, was zwar nichts änderte, sie aber beruhigte, den Lippenstift schob sie geöffnet in die Handfläche, hielt sich die Hand vor das Gesicht, als wolle sie husten und legte nach. Gut, dass sie keinen roten Lippenstift benutzte, sie würde jetzt aussehen wie ein Clown – ganz nach Reinis Geschmack …

Betont langsam stand sie auf und ging aufrecht mit betont eleganten Schritten in Richtung Bar. Das hatte sie lange üben müssen. Nach ihrer Hauptzeit als Mutter und Glucke mit Turnschuhen und Leisetretern hatte sie den eleganten Gang verlernt; sie war gelatscht wie eine Bäuerin, die sich gerade anschickte, eine Kuh zu melken.

An der Bar tummelte sich wieder alles, was nicht mehr sitzen konnte, aber auch nicht tanzen wollte. Junge Leute, Leute in ihrem Alter, aber auch Männer und Frauen um die siebzig. Es war schwierig, dort jemand Bestimmten auszumachen. Ein Mann sah ihr zu, wie ihre Blicke durch die Gäste schweiften und lächelte versonnen. Als sie ihn ausmachte, hielt sie für einen kurzen Moment die Luft an. Sein Haar war nicht hell, sondern weiß; er hatte außergewöhnlich blasse Haut, weiße Augenbrauen und trug eine Brille mit dunklen Gläsern. In dem dunklen Anzug sah er mit seiner großen, schlanken Statur und seiner Gesamterscheinung edel aus. Schnell fasste sie sich und ging auf ihn zu.

»Sind Sie der nette Herr, der mich auf einen Cocktail eingeladen hat?«

»Der bin ich, meine Dame, und ich freue mich, Sie aus der Nähe betrachten zu dürfen.«

Sein Blick streifte ihren engen schwarzen Rock, die königsblaue Bluse und wanderte zu ihrem Gesicht. Er nahm ihre Hand und deutete auf dem Handrücken einen Kuss an.

»Lassen Sie uns einen Drink bestellen.«

Nachdem sie einen Longdrink ausgewählt hatten, deutete er zur Seite der Bar.

»Wollen wir etwas aus der Menge treten, damit wir uns ungestört unterhalten können? Was meinen Sie?«

»Sehr gern.« Etwas abseits stehend kamen sie ins Gespräch und tauschten ihre Namen aus. Das antiquierte Vokabular wurde schnell abgelegt.

»Sie werden es bemerkt haben, Silke. Ich gehöre zu den Menschen mit Albinismus. Es ist ein Gendefekt, von dem nur einer von sienzehntausend Menschen weltweit betroffen ist. Früher sagte ich: ›Ich leide unter Albinismus‹. Jetzt leide ich nicht mehr darunter, im Gegenteil.«

Er forschte in ihrem Gesicht nach einer Regung.

»Das ist gut, Stefan, denn damit sind Sie etwas Besonderes. Das kann nicht jeder von sich behaupten. Die Durchschnittlichkeit hat ohnehin von uns Besitz ergriffen.«

»Wie Sie das sagen, Silke, das ist einfach hinreißend! Genau so ist es.«

Stefan setzte zur Demonstration des Gesagten seine Brille ab. Sie hatte noch nie in solche hellen Augen gesehen, fast durchsichtig, als blicke man in seine Seele. Gleichzeitig bohrten sich diese Augen in ihre, als ob sie einen Zugang zu ihrem Herzen suchten. Wieder hielt sie den Atem an. Ihre Wangen wurden heiß.

»Erschrocken?«

Eine erste Unsicherheit bei ihm, die sofort ihr »Solidaritätsprogramm« aktivierte.

»Nein. Warum sollte ich erschrecken? Es gibt keinen Grund dafür.«

Und sie sagte die Wahrheit. Sie war fasziniert, innerlich aufgewühlt, bewegt; nicht erschrocken.

»Auch Ihre Augen sind besonders.«

»Da bin ich erleichtert«, lächelte er, doch seine Stimme war gesenkt und klang traurig. Was er schon mit Frauen erlebt haben musste? Versuchte er seine äußerliche »Normabweichung« deshalb mit übertriebenem Charme wettzumachen? Das war unnötig, fand sie.

»Ich bin neugierig: Machen Sie in Berlin Urlaub?«

»Ja und nein. Mein Sohn hat in Berlin studiert und so wie es aussieht, will er hierbleiben. Er promoviert momentan und gibt Vorlesungen.«

Warum zur Hölle gab sie ständig an? Am liebsten hätte sie den letzten Satz gestrichen, aber er war gesprochen.

»Bin ich eine Angeberin?« Jetzt half nur noch die Offensive.

»Nein, eine stolze Mutter.« Er lachte sie an. »Denken Sie etwa, ich gebe nicht überall mit den Leistungen meiner Tochter an, die nicht meine eigenen sind?«

Erleichtert schenkte sie ihm ein kleines Lächeln.

»Es sind doch auch Ihre, denn durch Sie ist Ihre Tochter in die Lage gekommen, das zu erreichen. Sogar Julian, mein Sohn, sagte das kürzlich zu mir. Aber bei ihm ist das kein Wunder, er muss alles analysieren, sogar das Sexualleben der Pflastersteine.«

Jetzt übertönte sein Baritonlachen die Geräuschkulisse an der Bar. Einige drehten sich kurz um und lächelten ihm zu.

»Sie haben Humor, das gefällt mir. Was hat Ihr Sohn studiert, Philosophie?«

»Es wundert mich nicht, dass Sie auf Philosophie kommen. Nein, er hat mit Journalistik begonnen, aber zur Psychologie gewechselt. Und was macht Ihre Tochter?«

»Meine Tochter ist Lehrerin. Ich weiß also, was Sie mit den Analysen Ihres Sohnes meinen. Wenn sie mir zu schulmeisterlich kommt, bremse ich sie.«

Silke nickte zustimmend.

»Das mache ich bei Julian auch.«

»Ihr Sohn heißt Julian? Das ist ja witzig. Meine Tochter heißt Julian ohne ›n‹ am Ende. Sie ist ein Sonnenschein und war es schon immer. Leider ist meine Frau früh verstorben, ich habe sie allein erzogen. Aber offenbar habe ich viel richtig gemacht.«

Wie das passte! Den Blick gesenkt, rang Silke nach Worten.

»Mein Mann ist auch früh verstorben. Julian war zehn Jahre alt.«

»Das tut mir leid«, flüsterte er.

»Julia kann sich kaum an ihre Mutter erinnern, aber wir sprechen viel über sie und manchmal, besonders zu Feiertagen, sehen wir uns die alten Fotos an. Aber lassen Sie uns nicht weiter traurige Themen wälzen. Was machen Sie beruflich, darf ich weiter neugierig sein?«

»Ich bin juristische Mitarbeiterin – und Sie?«

»Meine Arbeit ist fast so trocken, wie Ihre sein dürfte. Ich arbeite als Gutachter für Versicherungen.«

Eine Weile schwiegen sie.

»Ich weiß, es ist gegen die Anstandsregeln, aber wir leben in einer modernen Zeit: Wollen wir nicht dieses ›Sie‹ ablegen?«, schlug Silke vor. Begeistert stimmte Stefan zu und sie stießen darauf an.

Kurz darauf hob sich die Stimmung im Saal. Die Band spielte einen bekannten, flotten Jazztitel.

»Lass uns das Tanzbein schwingen, hast du Lust?«

Und ob sie Lust hatte! Sie hüpften auf der Tanzfläche, versuchten, es einem anderen Tanzpaar gleichzutun, das sich im Tanzstil der Zwanzigerjahre auskannte, und lachten über ihre eigenen ungelenken Schritte. Stefan tanzte sich näher an Silke heran und rief ihr völlig außer Atem zu: »Ich sehe sicher total albern aus!«

»Ich bestimmt nicht anders. Ist doch egal, Hauptsache, wir haben Spaß!«, rief sie zurück. Stefan nickte.

»Aber jetzt muss ich pausieren. Mein Gott, ich werde alt! Kommst du?«

»Ja, lass uns was trinken gehen.«

Sie verließen die Tanzfläche in dem Moment, als der Titel zu Ende war, die Band sich für den nächsten bereit machte und alle an die Bar oder ihre Tische strebten. Plötzlich entdeckte Silke ihren Sohn, der nicht allein war. Er lächelte. Und zwar anders, als Silke es kannte; es war ein besonderes, liebevolles, fast schüchternes Lächeln. Silke reckte den Kopf, um zu sehen, wer neben ihm stand: die rothaarige schöne Tänzerin. Sie strahlte Julian an, griff seine Hand und zog ihn auf die Tanzfläche, auf dem sich jetzt nur noch ein weiteres Paar befand. Stefan war zu sehr mit sich und seiner Atemlosigkeit beschäftigt, um zu registrieren, wie Silke perplex zur Tanzfläche starrte.

»Kommst du mit, oder magst du hier warten?«, fragte er sie und bemerkte erst jetzt, dass sie nicht ansprechbar war.

»Was ist mit dir? Siehst du einen Geist?«

»Nein, zwei.« Stefan folgte ihrem Blick.

»Na, da ist sie ja, meine Julia!«, rief er begeistert aus und winkte, um auf sich aufmerksam zu machen.

»Das ist … die Frau mit den roten Haaren ist …«

»Meine Tochter, jawohl!«, stimmte er stolz zu.

»Sie hat offenbar einen Begleiter gefunden. Warum schaust du so?«

»Der Begleiter ist Julian.«

Stefan sah sie ungläubig an.

»Was? Das ist ja ein Zufall!«

Gemeinsam starrten sie auf die Tanzenden, als hätte sie der Blitz getroffen. Nachdem er sich gefangen hatte, begann Stefan zu lachen.

»Komm schon! Sei doch froh! Ich hole uns schnell einen Drink und wir sehen ihnen beim Tanzen zu, okay?«

Silke konnte nur noch nicken. Fassungslos sah sie zu, wie die beiden zu »Baby it’s cold outside« einen Swing aufs Parkett legten. Julian wirkte frei und gelöst, als gäbe es nichts anderes auf dieser Welt als diesen Tanz und diese Frau. Das war ein Moment, den sie nie vergessen wollte, ein Feuerwerk für Julian mit der Frau und ihrem Feuerhaar. Sie strahlten sich an, harmonierten miteinander, als tanzten sie schon immer zusammen. Was war mit ihrem Sohn geschehen? Wo war der analysierende, immer etwas trockene und steife Julian, dem das Lachen schwerfiel, seit er zehn Jahre alt war? Die Tränen flossen ungefragt. Ein Gurt, den Julian um sein Herz geschnallt hatte, schien sich gelöst zu haben. Stefan stand schon eine Weile neben ihr, hielt beide Gläser in Händen und schwieg. Er fühlte die Kostbarkeit dieses Augenblicks.

»Entschuldige«, flüsterte Silke später und nahm ihm das Glas ab.

»Ich verstehe dich, zumindest glaube ich es.«

»Ich denke nicht. Du beschreibst Julia als fröhlich, als einen Sonnenschein. Nicht dass Julian nicht mein Sonnenschein wäre, aber er ist oft zu ernst, schon seit damals, als sein Vater …«

»Ich dachte mir das schon. Silke, Julian war damals älter, er kannte seinen Vater. Julia war erst vier Jahre alt, als ihre Mutter starb. Sie war zu klein, um sich an konkrete Details erinnern zu können. Genau das ist der Unterschied. Hey, meine Kleine,« er zog Silke an sich.

»Sei glücklich darüber, weine Freudentränen!«

Sie schmiegte sich an ihn und war dankbar, dass er es geschehen ließ und dabei zurückhaltend blieb. Noch einmal in diesen Minuten sah sie das Feuer tanzen und die Augen ihres Sohnes wie Kohlen glühen. Julia nahm Julian wieder an der Hand und hüpfte wie ein Gummiball, ohne dabei affektiert zu wirken, in ihre Richtung, sodass sie Julian eher hinter sich herzog, der Mühe hatte, mitzuhalten.

»Papa!«, rief sie fröhlich und kaum außer Atem. Vertraut umarmte sie ihren Vater.

»Wie waren wir?«

»Wie immer fantastisch, mein Kind«, tätschelte er die Tochter am Arm. Silke musterte sie neugierig. Neben der jungen Frau stand Julian lächelnd seinen Mann. Stefan wandte sich an seine Tochter.

»Darf ich dir vorstellen, das ist Silke« und zu Silke:

»Das ist meine Tochter Julia.« Das Spiel wiederholte sie, indem Silke ihm Julian und ihrem Sohn Stefan vorstellte. Am Ende grinsten sich die vier vielsagend an.

»Dass Sie ausgerechnet meinen Vater hier treffen und ich Ihren Sohn, nenne ich keinen Zufall mehr«, meinte Julia.

»Es gibt auch keine Zufälle«, entgegnete Silke freundlich zwinkernd. Sie fing Julias bedeutungsvollen Blick auf und sah ihr in die Augen. Hoffentlich verletzt sie ihn nicht, dachte Silke.

Erst gegen ein Uhr verließen sie zu viert vergnügt das Ballhaus. Stefan überreichte Silke seine Visitenkarte.

»Ich würde mich freuen, von dir zu hören, und danke dir für diesen wunderschönen Abend. Es ist lange her, dass ich mich so gut unterhalten habe – dazu noch mit einer so zauberhaften Frau.«

»Ich werde noch rot bei der Fülle deiner Komplimente und habe dir zu danken. Mir geht es genauso wie dir. Das letzte Mal musste ich einen Abend und eine Nacht mit einer Herde aufgescheuchter Hühner verbringen, sperrte Frauen zur Strafe in der Toilette ein und tröstete meine Freundin, weil ihr mitten im Saal das viel zu enge Kleid am Hintern aufgeplatzt war. Dieser Abend heute war einfach wunderbar für mich!«

»Du bist ein Spaßvogel! Das gefällt mir! Nimmst dir kein Blatt vor den Mund, oder?«, lachte Stefan.

»Manchmal schon, wenn es eben nicht anders geht, aber nicht gern.«

»Bevor ich es vergesse … Ich wollte dich noch fragen: gefällt dir Berlin?«

»Ja, sehr! Die Leute hier sind vollkommen anders als bei mir zu Hause. Hier kannst du im Schlafanzug oder in Kosmonautenausrüstung durch Berlin laufen, es würde niemanden interessieren!«

»Welch eine Beschreibung«, schmunzelte er. Spontan umarmte sie Stefan und küsste ihn auf die Wange. Er roch gut. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie Julian und Julia. Sie standen sich betreten gegenüber. Julian redete und Julia nickte. »Lass uns in Verbindung bleiben, bitte«, hörte sie Julia sagen. Ihr Sohn umarmte sie und sie hielten sich fest. Die Kohle wurde ins Feuer geworfen.

Auf der Rückfahrt brach Silke die Stille.

»Es war ein großartiger Abend, findest du nicht?« Julian nickte.

»Stefan hat recht, Julia ist ein wahrer Sonnenschein«, wollte sie das Gespräch in diese Richtung drängen.

»Ja, das ist sie.« Er blieb reserviert.

»Sie mag dich«, gab Silke nicht auf.

»Vielleicht«, antwortete er lakonisch.

»Es passt doch eine Frau in dein Leben.«

»Mama, bitte sei ruhig.«

Gut, ich schweige. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, dachte Silke.

Es folgte eine unruhige Nacht. Immer wieder wachte sie auf, drehte sich von einer Seite auf die andere, lag minutenlang wach und fand keine Ruhe. Erst in den frühen Morgenstunden fiel sie in einen tiefen Schlaf und wachte gegen halb zehn Uhr auf. Nur langsam kam sie in die Gänge, kroch behäbig aus dem Bett und sah aus dem Fenster. Den Himmel bedeckten Schleierwolken, die sich langgezogen vor die Sonne legten. Sie kündigten baldigen Regen an. An diesem Tag würde sie nicht die Welt einreißen. Fürs Frühstücksbüfett war es zu spät; sie konnte sich also Zeit lassen. Nach einer Stunde verließ sie die Pension, um sich etwas Essbares auf der Schlossstraße zu suchen. In einem Café fand sie es, setzte sich und rührte verträumt in ihrem Cappuccino. In ihrer Tasche brummte es. Mit dem Handy in der Hand, biss sie von ihrem belegten Brötchen ab.

»Guten Morgen, Mama, ich hoffe, Du hast gut geschlafen?«, schrieb Julian.

»Ja, ganz gut, danke«, log sie. »Und Du?«, fügte sie hinzu.

»Nicht so gut, ich war aufgewühlt.«

Wenigstens ihr Sohn war ehrlich. Sie würde den Teufel tun und noch einmal nachfragen. Wenn er sich ihr mitteilen wollte, würde er es tun.

»Das denke ich mir.« Sie blieb wortkarg.

»Morgen gebe ich eine Vorlesung in der Uni. Möchtest Du kommen?«

»Unbedingt! Schreib mir bitte noch, wo und wann, okay?«

»Das mache ich, heute Nachmittag melde ich mich. Verbring einen schönen Tag!«

»Gut, ich freue mich. Ich werde mich heute erholen. Für nächtliche Ausschweifungen bin ich offenbar zu alt geworden und der letzte Wein muss schlecht gewesen sein«, witzelte sie. Julian antwortete mit einem Lach-Smiley.

Bei ihrem ausgedehnten Spaziergang erreichte sie die Matthäus Kirche. Etwas Besonderes konnte sie an ihr zunächst nicht entdecken. Kirchen zogen sie an, obwohl sie nicht gläubig war. Sie waren urban, gleichzeitig real, wirken strukturiert und zugleich virtuell. Sie luden zur Besinnung ein, zum Innehalten. An einer Tafel las sie etwas über die Geschichte der Kirche. Bei einem alliierten Luftangriff wurden fast alle Kirchenfenster durch Druckwellen zerstört. 1957 ist sie durch den Architekten Gabler renoviert worden. 2014 drohte der Kirchturm einzustürzen. Im Innenraum der Kirche entdeckte sie doch noch Bemerkenswertes. Die Vierung war hier anders, als sie es kannte. Dadurch wirkte die Kirche geschlossen, zusammengefasst. Einige Minuten setzte sie sich auf eine Bank und schloss die Augen.

Zu Mittag aß sie in der Pension. Den alten Herrn konnte sie nicht entdecken. Sie brauchte nicht nach ihm zu fragen, seine Tochter war gesprächig.

»Heute ist ein seltsamer Tag, finden Sie nicht?«, meinte sie und klang traurig.

»So würde ich es nicht nennen. Manche Tage sind schon am Morgen eigensinnig, da kann man nichts machen«, versuchte sie, sich bedeckt zu halten.

»Da haben Sie recht. Meinem Vater jeht es seit dem Morgen schlecht. Erst dachte ick, es sei sein Diabetes. Aber die Werte sind in Ordnung. Der Arzt wird dann zu einem Hausbesuch kommen und ick hoffe, es ist nichts Ernstes«, meinte die Schöne besorgt.

»Das tut mir sehr leid. Ich wünsche Ihrem Vater gute Besserung. Hoffentlich kommt er bald wieder auf die Beine. Er ist ein lustiger, feiner Kerl.« Die Blonde lachte.

»Das ist er, schon immer. Er ist der beste Vater der Welt«, rief sie ehrlich aus. Verdutzt sah Silke sie an. Sie begann, die Nudeln in ihrem Auflauf hin- und herzuschieben. Was ihr Vater wohl machte? Vielleicht lebte er gar nicht mehr. ›Es ist wirklich ein seltsamer Tag. Die Wolken schieben sich vor die Sonne, ich verpasse das Frühstück, gehe in eine Kirche und denke über meinen Vater nach. Höchste Zeit, dieser Melancholie ein Ende zu setzen. Ich brauche Sandra.‹ Entschlossen ließ sie die Hälfte des Essens stehen. Auf ihrem Zimmer zog sie sich bequeme Sachen an, nahm ihr Handy und schrieb:

»Hallo Sandra, ich war gestern mit meinem Sohn beim Tanzen. Was sagst Du nun?« Wie immer ging Sandra sofort online.

»Wow! Wie war’s?«

»Klasse, richtig schön. Ich habe einen Mann kennengelernt, der der Vater der Frau ist, die Julian kennengelernt hat.«

»Hä? Wie jetzt? Der Cousin der Nichte der Freundin der Mutter, oder was?« Lach-Smiley.

»So kompliziert ist es nun auch wieder nicht. Ich habe einen Mann kennengelernt, einen Albino. Der erzählte …, das ist doof. Warum telefonieren wir nicht?« Rotes Fragezeichen.

»Stimmt. Ich rufe dich an.«

»Noch mal, bitte!«, forderte Sandra sie ohne Umschweife auf. Silke erzählte ausführlich von ihrem Abend.

»Und wie hast du Stefan so erlebt?«

»Er ist sehr lieb und nett; vor allem ist er kultiviert, ohne spießig zu sein.«

»Okay, also uninteressant«, schlussfolgerte Sandra.

»Wieso das? Müssen wir Frauen denn nur auf Arschlöcher abfahren? Er ist l-i-e-b, n-e-t-t und k-u-l-t-i-v-i-e-r-t – gute Eigenschaften bei einem Mann, oder etwa nicht?«

»Ist ja gut. Und ist er in deinen Augen attraktiv?«

»Klar ist er attraktiv. Auch sein Schicksal ist dem meinem ähnlich; seine Frau starb, als die Tochter vier Jahre alt war. Er hat das Kind allein großgezogen und weiß somit aus eigener Erfahrung, was das bedeutet.«

»Wunderbare Voraussetzungen für eine Liebschaft: Ihr seid beide verwitwet und habt ein Kind allein großgezogen«, warf Sandra ein.

»Na und? Was will ich denn mit einem Lebemann, Chauvinist, Blender oder einem Adonis, der jede Frau anbaggert? Ich brauche solide Werte.«

»Und das würde dir reichen? Wie wäre es mit Leidenschaft, Zuneigung, Liebe?«

»Die kann doch kommen! Ich halte nichts von der Liebe auf den ersten Blick. Liebe muss entstehen, wachsen.«

»Du klingst wie dein Sohn, Mausi. Du analysierst etwas, was sich nicht abhandeln lässt.«

»Kann sein. Aber hör mal, Julian und Julia – klingt das nicht gut? Sie hat mit einer Fackel meinen Sohn tatsächlich aus seinem Schneckenhaus gelockt. Du hättest ihn sehen müssen, als sie zu Beginn der Veranstaltung tanzte. Ihm klappte der Mund gar nicht wieder zu! Er war vom ersten Augenblick an verliebt in sie, das wette ich!«

Sandra hüstelte künstlich.

»Aha, ich denke, das gibt es nicht?« Das Eigentor saß.

»Puh! Du bist mir heute zu munter«, lachte Silke.

»Kann sein, denn mein Engelchen war heute Nacht nicht bei mir, da bin ich gestern schon um zweiundzwanzig Uhr ins Bett geschlüpft und habe von ihrem schönen Busen geträumt …«

Aus! Zurückspulen!

»Ich werde sehen, wie sich das mit Stefan weiterentwickelt. Noch mehr bin ich gespannt, wie das mit Julian und Julian ohne ›n‹ fortschreitet. Das wird spannend«, lenkte Silke sich selbst vom Busenkopfkino ab.

»Auf jeden Fall, meine Maus, das wird spannend!«

»Pieps.« Das konnte sich Silke nicht verkneifen.

»Blödfrau!«, meckerte Sandra.

»Selber«, gab Silke zurück.

»Wann fährst du zurück? Es wird Zeit, dass du dich wieder bei uns sehen lässt.«

»In drei Tagen ist Abfahrt. Morgen sehe ich Julian beim Psychologisieren zu.«

»Thema?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Okay, dann viel Spaß und pass gefälligst auf dich auf! Wir wollen dich im Ganzen zurück, mit oder ohne Weißhaar!«

»Meckerziege!«

»Selber«, gackerte Sandra. Alles war gut.

»Hallo Mama, morgen beginnt meine Vorlesung um 11.00 Uhr. Ich freue mich, dass Du kommen möchtest!«, schrieb Julian wie versprochen am Nachmittag. Sie war schon gespannt. Den Abend ließ sie still ausklingen, ging zeitig zu Bett und konnte es kaum erwarten, ihren Sohn in dieser Position zu erleben. Vorstellungen, wie er als Dozent sein konnte, hatte sie nicht, was sie stutzig machte.

»Man muss sein Kind nicht kennen wie die eigene Westentasche«, hatte Anett mal getönt. »Das hat etwas mit Loslassen zu tun.« Vielleicht hatte sie recht.

Wie erwartet, begann der Tag mit Regen. Große und quellende Wolkenmassen türmten sich am Himmel. Gewitter standen in Aussicht. Das sollte sie nicht stören und nur die Wahl ihrer Kleidung beeinflussen, nicht ihre Laune. Im Frühstücksraum begrüßte sie der alte Herr, zwar ein wenig blass um die Nase, aber herzlich wie immer.

»Meine liebe sächsische Zuckerschecke, bin ick froh, Sie wiederzusehen!«

»Sie meinten sicher ›Eierschecke‹, oder?«, scherzte sie.

»Jut, stimmt, war det nich der feine Kuchen, den ihr in Sachsen zuhauf zu euch nehmt?«

»Ja, so heißt der Kuchen. Aber ich bin erst mal froh, dass Sie wieder wohlauf sind!«

»Jo, jo, det ist so im Alter, da steht der Tod in Wartestellung. Aber mir kann er nich holen, ick hänge zu sehr am Leben.«

Diese Menschen hier mochte Silke. Sie hatten eine Art, der man nicht widerstehen konnte, ob man nun wollte oder nicht. Sie wirkten frei, eigenständig, manchmal frech oder vorlaut, aber immer authentisch.

»Das hoffe ich doch!« Sie tätschelte ihn am Arm.

»Nun, junge Dame, wat wolln se heute tun?« Silke berichtete ihm von ihrem Vorhaben.

»Wat? So ’nen klugen Sohn ham se? Det is ja spitze. Da wünsch ick Ihnen viel Freude«, zwinkerte er ihr zu und machte sich ans Falten von neuen Servietten. Silke ließ sich beim Frühstücken viel Zeit und nahm zwischen den Bissen ihr Handy, um nachzusehen, ob ihre Nachricht an Caro endlich gelesen worden war. Nichts. Immer noch ein einziger Haken.

Bewaffnet mit einem Regenschirm verließ Silke die Pension, um über die Autobahn zum Institut für Psychologie der Humboldt Universität zu fahren. Trotz dichten Verkehrs kam sie flüssig durch und parkte das Auto in einem nahegelegenen Parkhaus. Es war halb elf, sie konnte in Ruhe in Richtung Institut laufen; ein moderner Gebäudekomplex. Julian hatte ihr beschrieben, wie sie den Saal finden würde. Einige Studenten tummelten sich dort, unterhielten sich angeregt und diskutierten fachmännisch.

»Aber ehrlich«, hörte sie eine große Studentin mit strohblondem Haar tönen, »was meint ihr zum ›Modell der Big Five‹? Es verfolgt doch den lexikalischen Ansatz, dem die Annahme zugrunde liegt, dass sich Persönlichkeitsmerkmale in der Sprache niederschlagen.«

Du lieber Himmel! Über was heute junge Leute sprachen! Sie verstand nur Bahnhof. Ein Student neben der jungen Frau, augenscheinlich indischer Abstammung, versuchte, mit ihr standzuhalten.

»Der ›Big Five-Ansatz‹ ist in den vergangenen Jahrzehnten oft repliziert worden und akzeptiert«, ergänzte er mit starkem Akzent. Die Große sah ihn anerkennend an und nickte.

»Ob wieder Herr Liebmann die Vorlesung hält oder der Prof?«, warf die Studentin in die Runde ein.

»Ich denke, der Liebmann. Er soll wohl promovieren. Wenn er die Vorlesung hält, kapiere ich auch was«, entgegnete ein anderer Student und erntete von den Umstehenden Zustimmung.

Sehr interessant. Silke stand abseits, niemand beachtete sie.

Als sie von der Toilette zurückkam, füllte sich der Saal und Julian stand am Pult. Seine Haut war fleckig, er war aufgeregt. Sie winkte ihm kurz zu und setzte sich in eine der hinteren Reihen. Der Professor tauschte mit Julian den Platz und begab sich an das Pult.

»Wollen wir beginnen, liebe Studentinnen und Studenten«, rief er in den Saal. Die Stimmen wurden leiser, bis es nach wenigen Sekunden völlig still war.

»Es freut mich, Sie so zahlreich hier begrüßen zu dürfen, und ebenso freue ich mich, dass Herr Liebmann diese Vorlesung hält. Wer regelmäßig an den Vorlesungen teilnimmt, dürfte ihn kennen, wer nicht, hat Pech.«

Ein Raunen ging durch die Menge.

»Herr Liebmann wird über ›Psychologische Diagnostik‹ sprechen. Bitte schön.«

Mit einer Geste bat der Professor Julian ans Pult.

Dieser begann die Vorlesung mit den Worten:

»Heute ist meine Mutter da, also muss ich mich benehmen.«

Damit hatte er die Humorvollen unter den Studenten auf seiner Seite. Alle sahen sich um und erkannten sie schnell als seine Mutter; sie war neben dem Professor die Älteste im Saal und bemerkte, wie der Prof erstaunt zu ihr, noch verblüffter aber zu Julian blickte. Ihr Sohn rückte seine Brille zurecht.

»Psychische Merkmale und Zustände lassen sich nicht genauso messen wie Länge und Masse. Deshalb werden Sie in Ihrem Studium lernen, Erleben und Verhalten zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und zu verändern. Sie werden lernen, wie Sie solche Erfahrungsdaten mit unterschiedlichen diagnostischen Verfahren und Methoden sammeln können, zum Beispiel mit Tests zur Erfassung der Intelligenz oder Konzentrationsfähigkeit, oder mit Persönlichkeitsfragebögen, mithilfe von Interviews, durch Beobachtungssysteme, aber auch durch apparative Verfahren zur Messung der Hautleitfähigkeit oder der Aktivierung bestimmter Hirnareale. In der Psychologischen Diagnostik sind zahlreiche Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, beispielsweise Rechtsvorschriften und ethische Richtlinien, die man kennen muss. Ich beginne heute mit einem Beispielfall.«

Julian sprach flüssig, keineswegs monoton und vollkommen überzeugt von dem, was er sagte. Das verlieh seiner Ausstrahlung Autorität. Diese Seite war ihr an ihm noch nie aufgefallen. Dazu kam ein eigener Charme, den er in seinen weiteren Ausführungen spielen ließ, eine Mischung aus Zurückhaltung, Selbstbewusstsein, Witz und Selbstironie. Es wurde Zeit, ihren Sohn als Mann wahrzunehmen und diese neuen Facetten kennenzulernen. Einiges verstand sie, vieles auch nicht. Julian schmiss mit Fachbegriffen nur so um sich und die Studenten schienen sehr aufmerksam zuzuhören. Manchmal stellte ein Student eine Frage, etwa:

»Wofür braucht man das Gelernte im späteren Berufsalltag?«

Julian erklärte es ihm und meinte am Ende:

»Vielleicht sind Sie eines Tages derjenige, der darüber entscheidet, wer besser keinen Führerschein mehr erhalten sollte. Hauptsache, Sie kennen mich dann nicht mehr.«

Wieder war die Antwort der Studenten lautes Lachen. Am Ende der Vorlesung verabschiedete er sich:

»Wenn Sie noch Fragen haben, kommen Sie gern auf mich zu« und ergänzte verschmitzt lächelnd:

»Ich bin immer bereit für bedeutungsvolle soziale Interaktionen.«

Dem Lachen der Studenten folgte ein langes Klopfen und begeisterte Zurufe.

Dann leerte sich der Saal, bis auf Julian und den Professor. Silke blieb sitzen und konnte kaum fassen, was sie gerade erlebt hatte. Julian winkte sie zu sich. Langsam stieg sie die Treppe hinab.

»Na, hat es dir gefallen?«

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