Kitabı oku: «Ab 40 wird's einfach nicht schwer», sayfa 3

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»Meine Liebe, meine gute Laune ist jetzt nicht nur marginal abgeklungen. Fahren wir nach Hause!«, sprach er pathetisch und mehr befehlend als vorschlagend oder gar bittend. Nicht nur marginal, aha.

»Okay, gern.« Am besten, du zu dir und ich zu mir. Doch sie sagte es nicht. Sie hatte ohnehin den Bogen schon überspannt. Peace!

Der restliche Tag und Abend verlief mit kühler Atmosphäre und einer merklichen Spannung zwischen ihnen, beinahe lauernd sahen sie sich an und schwiegen die meiste Zeit. Silke war froh, als es endlich Zeit wurde, schlafen zu gehen.

Mitten in der Nacht wachte sie von Gerumpel auf. Sie schrak hoch und binnen weniger Sekunden tauchte vor ihrem geistigen Auge ihre jahrelange, immer wiederkehrende Angst vor Einbrechern auf, bis ihr gewahr wurde, dass sie nicht allein lebte – gerade. Peter! Sie sah auf »seine« Seite. Leer. Was zur Hölle … Aus dem Bett taumelnd zog sie sich den Bademantel an und ging die Treppe nach unten, dem Geräusch folgend. Dabei sah sie auf die Uhr im Treppenhaus. Vier Uhr dreßig. Mitten in der Nacht. Samstag. Sie könnte ausschlafen. Während der Woche stand sie jeden Morgen um sechs Uhr auf, um sich für die Arbeit fertig zu machen. Mist verdammter! Der Krach kam aus der Abstellkammer, die sie mit einem erstaunlich munteren Ruck öffnete. Peter stand inmitten von Kisten und Regalen, vollkommen konzentriert.

»Was zum Teufel machst du da?«, fragte sie so streng, wie sie auch wollte. Er sah überrascht auf, musterte sie mit seinen Glubschaugen, die im Halbdunkel noch beängstigender wirkten und sagte monoton:

»Ich räume die Abstellkammer auf.«

»Mitten in der Nacht?«, kreischte sie.

»Es ist ein Morgen, meine Liebe.«

Wieder diese Arroganz in der Stimme, diese Gleichgültigkeit; Monotonie, die ihr die Härchen auf den Armen aufstellte.

»Sag mal, geht es noch? Das ist mein Haus, meine Abstellkammer, mein Schlaf!«

Sie nahm die nächstbeste Kiste, hob sie an und warf sie gegen die Wand, direkt neben Peter kam sie auf. Schluss mit Beherrschung! Er schien kein wenig erschrocken zu sein. Mit stoischer Ruhe nahm er die Kiste, aus der Nägel, Taschenlampen und alte Handys fielen, und packte den Krempel wieder hinein. Silke stapfte wütend davon. Dieser Mann war keine Offenbarung. Er war eine Katastrophe!

Sie konnte nicht mehr schlafen. Die Morgensonne schien durch die Fenster. Silke wartete nur darauf, endlich aufzustehen und schob den Vorhang beiseite, der ihr den Blick auf den Kirschbaum verwehrt hatte. Er stand in voller Blüte. Ob Frau und Herr Schröder schon wach waren? Sicher kochte er ihr wieder den Kaffee und wenn sie noch schlief, so brachte er ihn an ihr Bett. Er stellte das Tablett auf ihrem Nachtschrank leise ab und küsste sie auf die Stirn, wie er es immer tat. Seit Jahrzehnten. Frau Schröder hatte es ihr kürzlich erzählt.

»Nach so vielen Jahren! Stellen Sie sich das vor«, hatte sie geschwärmt.

Vor ihrem Fenster rekelten sich die Blüten. Und sie?

Sie fühlte sich, als wäre sie aus Glas.

Silke hörte ein Lied. Direkt neben sich. War das ein Traum? Sie blinzelte und wollte wach werden. Oder lieber nicht. Während dieser Überlegungen sang ein Mann neben ihr:

»Der Kaffee ist fertig, klingt das net unheimlich zärtlich.

Der Kaffee ist fertig, klingt das net unglaublich lieb.

Wenn die ersten Sonnenstrahl’n auf meine Aug’n niederfall’n, dann hör’ i dei’ Stimm’, die wie Glock’n klingt …«

Es erinnerte sie – woran nur? Die Augen wieder geschlossen, fiel es ihr ein. Peter Cornelius, der Mann unter den Hochsensiblen. »Ein Diamant verbrennt«, ein alter Schinken, aber sie weinte jedes Mal, wenn sie das Lied hörte. Woher kam dieses Kaffeelied? Sie traute sich, ihre Augen wieder zu öffnen, folgte der Musik und setzte sich im Bett auf. Da sah sie es. An ihrem Fußende stand ein Radio. Im Moment des Erkennens trat Peter feierlich in ihr Schlafzimmer, auf dem Tablett eine dampfende Tasse Kaffee und auf dem Gesicht ein schrecklich breites Lächeln, als hätte er in der Nacht eine Gesichtslähmung erlitten. Spontan fiel Silke der Spruch ein: »Liebe, lache, lebe. Wenn das nicht funktioniert: Lade, ziele, schieße.«

Ob sie ihr altes Luftgewehr noch fand? Es war doch im Keller? Ihr Kapiervorgang zu diesem Mann war schon seit Tagen abgebrochen. Sie sah ihn an, versuchte sich in einem nicht ganz so bekloppten Lächeln, zeigte aber immerhin ihre schönen, gepflegten Beißerchen; und sie fühlte sich elend.

»Einen wunderschönen guten Morgen, mein Engelchen!«, säuselte das abgemagerte, glatzköpfige Honigkuchenpferd.

»Moin«, entgegnete sie kurz und knapp.

»Hast du gut geschlafen?«, raspelte er weiter Süßholz und sie überlegte wieder – plötzlich auf den Geschmack eines wundervollen Gedankens gekommen –, nämlich den, wo denn nun ihr altes Gewehr war. Immerhin war sie wenige Jahre zuvor noch Schützenkönigin von Bärwalde gewesen. Da sollte doch was gehen? Oder besser schießen.

»Geht so!«, antwortete sie muffig. Du Homo novus, was fragste denn so nen Scheiß, nach der Nacht, hä?, dachte sie, diesmal im gewollt sächsischen Dialekt, und kochte innerlich. Ihre Wut ballte sich immer mehr zusammen. Schlimmer aber war die Angst, die er ihr einjagte, um sie am darauffolgenden Tag mit einem vor Schmalz triefenden, uralten Song zu wecken und sich zu trauen, ihren geliebten und heiligen Kaffee auch nur anzusehen und sie dabei anzuglotzen wie ein zu groß geratener Daumenlutscher seine Mama, damit sie ihm die Brust freimachte.

»Nimm den Kaffee wieder mit runter. Ich komme gleich«, blaffte sie ihn an. Warum sollte sie kuschen, in ihrem eigenen Haus? Widerrede oder seine arroganten, gestelzten Wortkreationen erwartend, bei denen man ein Fremdwörterbuch verschluckt haben musste, um sie zu verstehen, stellte sie sich darauf ein zu schießen. Erst einmal mit Worten.

Aber Peter zog eine Schmollschnute und sah zum Brüllen aus. Der war ja auch noch feige! Das war auch so einer, der vor einer Frau einen auf dicke Hose machte und dann kniff. Super. Richtig gut. Als Peter ihr Schlafzimmer verlassen hatte, war Silkes gedankliches Schimpfwörterrepertoire vorerst aufgebraucht. Hastig zog sie sich ihren Bademantel über und lief nach unten. Normalerweise kämmte sie sich erst die Haare. Sie war so eitel, dass sie sich vorm Sterben noch einen Friseurtermin geben lassen würde. Es störte sie aber nicht im Geringsten, jetzt wie ein aufgeplatzter tasmanischer Teufel auszusehen. Den Mann wollte sie ohnehin nicht heiraten.

Wieder verspürte sie dieses eigenartige Grummeln in der Magengegend. In ihrem Wohnzimmer angekommen, sah sie ihn. Er lief, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, durch den Raum, von einem Ende zum anderen. Wie ihr Großvater, der seine Arme hinter den Rücken legte, weil er eine Kriegsverletzung hatte und der rechte Arm ihn so weniger schmerzte. Dieser Mann hier hatte wohl auch eine Verletzung, die aus einem anderen Krieg stammte. Angestrengt und die Mundwinkel nach unten gezogen, starrte er vor sich hin. Er schien nichts wahrzunehmen. Sie wollte diesmal keine Angst haben. Einen frischen Kaffee eingegossen, schlürfte sie provokant laut daran. War das schön! Er konnte es nicht leiden, es wäre gegen die Etikette. Welche bitte? Sie schlürfte nur in ihrem Haus, draußen wusste sie sich zu benehmen. Und verdammt noch mal – ja! In ihrem Haus furzte sie auch, wenn es sein musste; rannte in Jogginghose herum und pfiff auf Lagerfeld, den armen Kerl, der jetzt gar nichts mehr tragen durfte. Alles für die Katz. Da hatte sie es besser.

»Peter, ich möchte, dass du gehst. Und nicht wiederkommst!«

Basta, du Vogel. Es wird Zeit, dass du davonfliegst, ehe ich dir die Federn aus den Flügeln reiße und mein Haar damit schmücke. Er blieb nicht stehen, sondern lief weiter.

»Hörst du mich? Hast du heimlich was geraucht, oder was ist mit dir?«, rief sie ihm laut und mit ihrer ganzen seit Tagen angestauten Aggression zu.

»Mache ich«, sagte er und lief weiter, diesmal nach oben, um seine Reisetasche zu packen. Sein Werkzeug aus der unverschämt aufgeräumten Abstellkammer nahm er auch mit. Er sah sie durch seine komische Brille nicht einmal mehr an. Ihr Korridorlicht warf ihm einen Lichtstrahl auf die Glatze. Der Heiligenschein war es nicht. Aber er sah jetzt auf dem Kopf aus wie ihr Deoroller, wenn sie ihn rollte und er ihr neue glänzende Flüssigkeit anbot.

»›Wenn einer weggeht, muss man die Tür schließen. Es wird sonst kalt‹, sagte schon Brecht«, murmelte sie in sich hinein und ging vergnügt in ihr Bad, um zu duschen. Der Dreck musste runter. Unbedingt.

4. Kapitel
Das Leben geht immer weiter

»Er wartet jeden Tag auf Sie.«

Herr Walter

»Das war knapp«, sagte Silke zu ihrer Freundin Anett, als sie sich kurz danach mit ihr im »Café zur Allee« zum Plaudern traf. Es war ein sonniger Tag Ende Mai, an dem Silke glaubte, bereits die Bienen summen zu hören, und man konnte fast schon den Sommer riechen, den Duft nach Wiesen und Leichtigkeit. Sie atmete tief ein und schlürfte an einem Irish Coffee, als wolle sie ihn nie austrinken.

»Du hast noch mal Glück gehabt, Silke. Pass doch mal besser auf. Der Typ hätte ein Irrer sein können, der dich zerstückelt und im Keller vergräbt!«

Silke verschluckte sich an ihrem Kaffee, der jetzt schon nicht mehr irisch, sondern eher wie deutsche passierte Bohnensuppe schmeckte.

»Jetzt hör aber mal auf, du alte Krimitante!«, lachte sie, wenn auch nicht herzlich genug. Verdammter Mist, ganz unrecht hat sie nicht. Was, wenn der mir was getan hätte? Wenn das so ein Psycho gewesen wäre? Ein Frauenmörder? Er hatte sich so gut verkauft, dass sie ihm alles glaubte. Woher wusste sie denn schon, ob das alles stimmte? Ihr Magen rebellierte. Anett sah sie schräg an.

»Du wirst so blass. Ist alles in Ordnung?«

Sie legte den Arm um Silke.

»Na hör mal, du bläst mir eine mörderische Fantasie ins Hirn und fragst mich dann, ob alles in Ordnung ist?«

»Sorry, meine Liebe, das war blöd«, meinte Anett kleinlaut.

»Schon in Ordnung, du hast leider nicht ganz unrecht.«

Einige Minuten waren die Frauen still. Und Silke lächelte.

»Ist das Leben nicht schön?«, sinnierte Anett ungewohnt phrasenhaft und grinste Silke aus den Augenwinkeln an.

»Silke, bald ist wieder eine Hammer Ü40-Party in ›Fortunas Licht‹.«

Was für ein bescheuerter Name für eine Kneipe, die Veranstaltungen für die Vergessenen und Übriggebliebenen ausrichtete. Sie war da mal kurz drin gewesen. Es kam ihr eine abgewrackte Frau mit fettigen Haaren entgegen, und zwar so gar nicht Fortuna: mit einer völlig unweiblichen Zigarre im Mund, schief stehenden Zähnen und einem pervers tiefen Ausschnitt, der infolge hochgeschnallter Brüste die Haut unansehnlich faltete. Silke hatte damals gedacht, sie sei in einem der alten Cowboyfilme, in dem die Jungs in diverse Häuser einkehrten und die Mutter der jungen Dirnen sie begrüßte.

»Du kennst meine Meinung dazu, Anett!«

»Mensch, langsam könntest du doch wirklich mal etwas lockerer werden«, warf Anett ihr vor.

»Ha, klar doch, ich habe inzwischen eine ganze Orangenplantage auf der Haut. Und mit der soll ich zum Tanz gehen? Wer will denn meine Orangen pflücken? Das tu ich mir – und erst recht anderen – nicht an.« Dabei lächelte sie ununterbrochen.

»Sag mal …«, übersprang Anett ihre Bemerkung, »warum lächelst du eigentlich ständig, obwohl es gerade gar nichts zu lächeln gibt? Auch vorhin, beim Mordszenario, da wurdest du blass – und du l-ä-c-h-e-l-t-e-s-t.« Anett schaute sie ungläubig an.

Silke stutzte. Es stimmte. Ein gewisser Automatismus hatte sich wohl eingeschlichen. »Ich überlege mir, wie ich meine Ernstfalten um den Mund entfernen könnte«, antwortete sie .

»Aha, deshalb läufst du als Permanentgrinserin durch die Gegend? Um die Falten um den Mund zu glätten? Weißt du, du siehst dabei ziemlich dämlich aus! Als wärest du aus dem ›Hotel zur lockeren Schraube‹ abgehauen.«

Silke lächelte weiter. Anett schüttelte entsetzt den Kopf und fuhr fort: »Mädchen, du bekommst Wechseljahrbeschwerden, oder?«

Silke hörte auf zu lächeln.

»Blöde Kuh!«, sagte sie und rief die Kellnerin, um zu zahlen. Es dauerte nicht mehr lange und die Frauen begannen zu lachen.

Es war ein anstrengender Arbeitstag gewesen. Ihr Chef kam wahrscheinlich auch ins Klimakterium – oder er war schon scheintot. Zumindest roch er so und das wurde immer schlimmer. Vor allem, wenn sie am PC saß, er neben ihr stand und sich mit einem Arm am Regal über ihr abstützte. Dann bekam ihre Nase die volle Geruchspalette ab, als säße ein alter Ziegenbock in seiner Achselhöhle. Dabei soll der Achselschweiß voller Pheromone stecken, das waren die Botenstoffe, die uns in Sekundenschnelle Dinge mitteilten, für die wir mit dem Intellekt womöglich Jahre benötigen würden. Ihr Intellekt jedenfalls reichte dafür, binnen weniger Sekunden Botenstoffe zu empfangen, die sie für den Rest des Lebens vom männlichen Wesen entfremden lassen könnten. Für ihre Diät war es von Vorteil, denn nach dieser Ziegenbock-Ammoniak-Zwiebel-Sonstwas-Vielfalt konnte sie nichts mehr essen. Mindestens drei Tage die Woche. Heute hatte er sie angegrinst und seine gelben Zähne entblößt. Wann hatte Silke nur versäumt, seine Wandlung zu registrieren? Schön war er noch nie gewesen, aber gepflegter.

»Nu, Frau Silke, hammer jetze das Schreiben fürs Amtgerischt fertsch?«, fragte er. Dabei fragte sie sich, warum sein Foto nicht auf Zigarettenschachteln abgebildet wurde.

»Rauchen Sie nicht, sonst …« – nein, das war zu böse! Oder doch nicht? Sie konnte sich gerade nicht bremsen. Vielleicht wäre sein Foto auf Empfängnisverhütungsmitteln gut: »Überlegen Sie sich genau, mit wem Sie unverhütet schlafen.« Sein Sohn jedenfalls, der Junior-Chef, sah aus, als wäre der Junge auf der Kinderschokolade inzwischen erwachsen geworden.

»Nu, abor, Frau Silke, was läscheln se denn jetze? Isses nu fertsch oder nisch?«, brabbelte er wieder in seinem schrecklichen Sächsisch. Das machte alles noch schlimmer.

»Ja, natürlich, Chef, das Schreiben ist bereits vor zwei Tagen raus«, antwortete sie und verbiss sich ein erneutes Lächeln. Wie wäre es eigentlich, wenn man einen Tag lang die Wahrheit sagen müsste? Sie wäre ihren Job los. Mindestens. Mit einer Klage am Hals. Oder mehreren.

Martha, die einstige Büroschönheit, hatte noch immer die Stimme einer zarten Elfe, körperlich aber leider alles Elfenhafte verloren. Was war passiert?

Silke hatte kürzlich in einem Artikel gelesen: »Eine Heirat und eine Scheidung – beides verursacht Stress, wenn auch auf jeweils andere Art und Weise.« Und wer im Stress war – na klar, der futterte.

Silke hatte eine weniger geschwollene, dafür aber ganz natürliche Erklärung: Martha hatte eine lang ersehnte Zufriedenheit mit ihrem Körper erreicht. Nun schmeckte nicht mehr der Mann, sondern das Essen.

Martha hatte ja außerdem bereits, was sie wollte: Sie tauschte schlanke Figur gegen dicke Brieftasche. Also kein Grund mehr, sich weiter abzumühen. Silke schüttelte den Kopf. Und dann noch dieser Fatalismus: Der Mann liebt uns ja so, wie wir sind, auch mit einigen Kilos mehr. Was braucht die Seele noch? Da macht es nichts, wenn wir Frauen beim zweiten Stück Kuchen nicht Nein sagen können. Frust macht dick. Wer will schon eine wiederkäuende Kuh? Eine tofuverehrende, am Salatblatt knabbernde, vor Hunger schlechtgelaunte und sexmuffelige Schnepfe, die beim Duschen durch den Abfluss rutschen könnte? Bin ich heute wieder abgrundtief böse? Wann bin ich nur zu solch einer kratzbürstigen Emanze mutiert? Trotzdem musste sie lachen und bedauerte beim Öffnen ihrer Weinflasche diese Frau. Martha, arme Martha.

Nach diesem Tag brauchte Silke etwas Schönes. Als Erstes überlegte sie, wann sie endlich in Rente gehen konnte. Und als Nächstes brauchte sie die Stimme ihres Sohnes. Gut, dass er noch nichts von ihrem Ausflug in den exotischen Zoo wusste; vom Fettschwanzmaki. Sie wählte Julians Nummer. Es dauerte ziemlich lange, ehe der Anruf entgegengenommen wurde.

»Marcel Schmidt«, meldete sich der Mitbewohner ihres Sohnes.

»Hallo, hier ist Silke, Julians Mutter. Ist Julian zu sprechen?«

»Hallo, nein, Julian hält in der Uni einen Vortrag«, sagte Marcel feierlich.

»Er hält einen Vortrag?«, fragte Silke unsinniger Weise.

»Hat er Ihnen das nicht erzählt?«

»Nein …«

»Na ja, Julian wurde vom Prof ausgewählt, vorerst einmal wöchentlich eine Vorlesung zu halten. Er hält Julian im Fach Psychologie für einen Überflieger. Toll, oder?«

»Ja, das ist in der Tat toll. Ich rufe später noch mal an«, gackerte Silke in den Hörer, als hätte sie Wasser aus dem Jungbrunnen getrunken. Als sie aufgelegt hatte, konnte sie es nicht fassen: Julian hielt Vorlesungen? Ihr Julian? Sie musste unbedingt mehr erfahren. Aber da musste sie sich noch gedulden.

Was machte sie mit dem freien Nachmittag? Sie entschloss sich zum Joggen und trat zehn Minuten später in ihrer neuen modernen Sportkleidung aus dem Haus. Frau Schröder zog vor ihrem Haus gedankenversunken Unkraut und blickte auf, als sie Silkes Haustür ins Schloss fallen hörte.

»Silke, Sie sehen aus wie ein junges Mädchen mit Ihrer flotten Jacke und dem Pferdeschwanz!«, rief sie begeistert aus.

»Na ja, beim Aussehen bleibt es auch – aber nur auf hundert Meter!«, trällerte sie. Es sollte lustig klingen.

»Sie sind immer so selbstkritisch. Was würde ich dafür geben, noch einmal in Ihrem Alter zu sein!«

Natürlich. Silke war einfach blöd. Was jammerte sie auch ständig auf hohem Niveau?

»War eigentlich auch nur Spaß!«, versuchte sie ihre Aussage zu relativieren.

»Das dachte ich mir schon. Wann kommen Sie uns wieder besuchen, Silke?«, fragte Frau Schröder und zeigte ihre immer noch fantastisch intakten, weißen Zähne. Ihre grünen Augen strahlten. Jetzt wirkte sie jünger als Silke in ihrem Frust.

»Morgen wäre es mir recht. Wie sieht es bei Ihnen aus?«, entgegnete sie und zog ihren Zopf enger.

»Wunderbar! Das passt! Wir freuen uns. Wein ist genug da. Wir trinken ja allein nicht mehr. Oder besser, nicht mehr so viel«, lachte Frau Schröder. Jetzt war sie sechzig Jahre jünger geworden.

Silke lief bis zum Ende des Dorfes. Bärwalde war beinahe beängstigend klein. Hundertfünfzehn Einwohner, nur eine Straße. Keine Infrastruktur. Langweilig, öde. Sie wollte damals nicht hierher, aber ihr Mann hatte sich durchgesetzt.

»Das nennst du ›Dorf‹? Hier gibt es nichts. Weniger als nichts – nicht mal eine Kirche!«, hatte sie sich bei Harry beschwert.

»Aber Menschen leben hier und es ist göttlich ruhig. Ich habe lange genug in einer Großstadt gelebt. Der Krach geht mir auf die Nerven. Sieh doch mal …«, Harry hatte die Straße entlang gedeutet und in Richtung Wald gezeigt.

»Du liebst doch die Natur so sehr. Dort ist gleich der Wald, viel Wald, und mehrere Seen. Die Stadt ist nur fünf Kilometer entfernt«, hatte er versucht, sie zu überzeugen. In der ersten Woche nach ihrem Umzug war Silke die Straße entlanggelaufen, die einzige eben, und sie hette gezählt. Dreißig Häuser standen schnurgerade. Sie war von Hundegebell, Gänseschnattern und Schafsblöken begleitet worden. Ans Ende des Dorfgebietes grenzte ein altes Militärgelände.

Überall standen noch die Schilder:

»Betreten verboten! Lebensgefahr!« Da hatten einst die Russen gekämpft. Silke machte einen großen Bogen darum. Irgendwann hatte sie mit ihrer Wahlheimat Frieden geschlossen und begonnen, sich mit der seltsamen Ruhe dieses Dorfes sogar anzufreunden. Nur die Menschen, bis auf die Schröders – und selbst diese kleine Freundschaft entwickelte sich erst spät – blieben ihr ein Rätsel. Sie erinnerte sich an ihr erstes und zugleich letztes Dorffest, kaum sechs Monate nach dem Umzug ins Dorf. Harry war nicht mitgekommen, er hatte arbeiten müssen. Die Alteingesessenen hatten Silke stehen gelassen, bis eine alte Dame rief:

»Da ist die fleißige Läuferin aus der Stadt! Kommen Sie zu uns!«

Silke glaubte zwar damals, dass die Oma sicher schon einen zu viel hinter die Binde gegossen hatte, war aber freudig an den Tisch der fünf Dorfältesten gegangen und hatte mit ihnen Kräuterschnaps getrunken. Die einladende alte Dame mit dem verschmitzten Blick hatte mit geröteten Wangen und einem uralten Kopftuch am Tisch gesessen und alle fünf Minuten den jungen Mann gerufen, der verschiedene Schnapssorten in einem Körbchen mit sich trug, um sich ihr Glas nachfüllen zu lassen.

»Das hat wohl ein Loch«, hatte sie vergnügt gerufen und die anderen alten Damen freuten sich wie kleine Kinder. So hatten sie mit ihren Zahnlücken vor sich hin gegluckst und sich gegenseitig wehmütig an ihre alten Zeiten erinnert. Mit schmalen Lippen und alkoholtränenden Augen schwelgten sie in Erinnerungen. Silke hatte die Damen einfach hinreißend gefunden. Da war wenigstens noch Leben, da fand sie etwas, was sie bei den anderen vermisste. Im Hintergrund lebte der alte Holzmichel noch und die Organisatorin des Festes hatte ihre Bratwürste an wie eine Marktschreierin angeboten. Alle diese unliebsamen Geräusche ausblendend, hatte sich Silke auf ihren Kräuterschnaps und die gesellige Altdamenrunde konzentriert. Dann hatte sie sich kurz entschlossen und tapfer entschieden, auch die anderen Schnäpschen zu probieren. Nach dem zweiten anderen Schnäpschen nahm sie dann nur noch nebulös wahr, dass sie einige der Einheimischen auf diesem Fest ansahen, als hätte sie einen lebendigen Gorilla im Gesicht.

»Prima«, hatte sie vergnügt in sich hineingelallt. Sie war ja nun einmal ein Stadtkind gewesen und ihr Kleiderschrank mit wesentlich mehr Sachen gefüllt, als lediglich zwei Jogginghosen: eine für gut und eine für den Hof. Absichtlich hatte sie die unauffälligsten Sachen aus dem Kleiderschrank gefischt: eine Jeans und eine schwarze Sweatjacke. Schließlich wollte sie so unscheinbar und farblos wie möglich wirken. Erst recht wollte sie die Frauen des Dorfes nicht ärgerlich stimmen. Ihre Eitelkeit hatte an diesem Tag keine Priorität gehabt. Die langen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, damit sie nicht aus dem Rahmen fiel. Julian hatte vergnügt und lautstark mit den Jungen des Dorfes Fußball gespielt und schien sich wohlzufühlen. Sie hatte den Kindern zugesehen, die für ihre Sicht der Welt noch keinen Kräuterschnaps benötigten. Da ich ja eine gute Mutter bin, bleibe ich, hatte sie gedacht und sich auch nach ihren alten Zeiten gesehnt. Zeiten der bunten, lebendigen Stadt, der modernen Leute, eiligen Schritte, der Anonymität. Ihre Augen hatten bei ihren heroischen Gedanken wie wild flatternde Schmetterlinge geblinzelt.

»Ich trinke noch paar von diesen wunderbaren Kräuterschnäpsen. Danach sieht die Welt sicher anders aus«, hatte sie sich Mut zugesprochen.

Am Ende der Feierlichkeit, wenn man das so bezeichnen durfte, war Julian endlich müde gewesen und ihre Welt hatte tatsächlich anders ausgesehen, denn sie hatte einen dicken Kopf. Das hatte sie ja mit Bravour gemeistert. Vielleicht würde sie doch noch Freunde hier finden? Der Zustand in dem Dorf hatte sich jedoch nie geändert. Die anfängliche Idylle trübte sich allerdings zusehend, als eine Familie der Nachbarschaft versucht hatte, Harry und sie mit allen Mitteln aus dem Dorf zu ekeln. Solche Verhaltensmuster waren ihr vollkommen fremd gewesen, und ehe sie begreifen konnte, was sie bezweckten, hatte sie in einer Jahreszeit den Garten umgegraben und den Baum hinter dem Haus abgesägt. Zumindest liebte sie inzwischen die Natur, die Stille, das Zwitschern der Vögel, das Knacken der Äste und dieses Gefühl, mit der Natur eins zu sein, mit ihr zu verschmelzen. Ihre besten Ideen sammelte sie im Wald, umgeben von der reinen, beinahe unberührten Luft und mit der Klarheit einer von außen Unbeeindruckten. Das alles konnte ihr die Stadt nicht bieten. Die winzigen begrünten Orte, die es dort noch gab, wurden von Touristen bevölkert oder durch Häuser und feudale Gebäude ersetzt.

Inzwischen war sie am Ende des Dorfes, also der einen Straße, angekommen, wo ein älteres Haus stand. Es war von Herrn Walter bewohnt; er war schätzungsweise etwas älter als sie selbst und hatte einen jungen Schäferhund: Harry. War es Schicksal, dass der Hund genau so hieß wie ihr verstorbener Mann? Anfangs hatte Hunde-Harry immer gebellt, wenn sie vorbeigejoggt war. Er war eben ein echter Hofhund, also sprach sie immer mit ihm. In den ersten Wochen bellte er trotzdem weiter, wenn sie dem Hof nahekam. Eines Tages sagte sie:

»Harry, mein Lieber, ich bin es doch nur. Ich komme jeden Tag, das weißt du doch.«

Harrys Bellen war plötzlich verstummt. Er sah sie an und winselte leise. Silke hatte übersetzt:

»Okay, du hast mich überredet.«

Dann war er innerhalb des Hofes am Zaun mit ihr entlanggelaufen, bis sein Zaun endete. Sie sagte:

»Gleich komme ich wieder, Harry.«

Als habe er das verstanden, war er fast andächtig zurückgelaufen, um sich im Hof niederzulassen. Das wiederholte sich beinahe täglich. War Harry mit seinem Herrchen Gassi, war sie traurig und freute sich inständig, ihn bald wiederzusehen.

An diesem wunderschönen, sonnigen Tag freute sie sich besonders auf ihre Waldrunde. Endlich schien sich der Frühling anzumelden. Die ersten Vögel stimmten ihre Melodien an und in den Kronen der Baumwipfel schimmerte goldgelbes Licht. Silke hatte die sanfte Wärme genossen und fotografierte immer wieder neue Eindrücke auf ihrem Weg, die sie fesselten. Da war der Bogenbaum und der Gabelbaum oder die eitlen, sich in der Pfütze des letzten Regengusses spiegelnden Bäume, der vergessene Handschuh am Baumstumpf und die Wolken, die Figuren zeichneten. Da waren dieser Sonnenweg, mitten im Wald, und ihr Gefühl von Freiheit. Als sie zurückkehrte, stand der junge Schäferhund schon da und sah ihr entgegen. Sie verstanden einander.

»Harry, da bin ich wieder. Nur eine Stunde war ich weg.«

Wieder winselte Harry kurz und lief mit Silke innerhalb des Hofes in ihre Richtung am Zaun entlang. Wie immer machte sie an den Granitsteinen ihre Dehnungsübungen, trank gierig aus der Wasserflasche und schnallte den Sportgürtel ab. Harry saß am Zaun und sah ihr zu. Normalerweise trabte er nach wenigen Minuten gelangweilt zu seinem Herrchen zurück. An diesem denkwürdigen Tag aber sah er ihr fünfzehn Minuten lang tatsächlich zu. Silke lachte.

»Na, mein kleiner Racker?«, rief sie, als sie auf den Zaun zuging. Harry wedelte mit dem Schwanz. Herr Walter kam vom Holz schneiden.

»Er wartet jeden Tag auf Sie.«

Schüchtern lächelte er Silke an und sie war den Tränen nahe. Er wartet jeden Tag auf Sie. Wer wartete schon jeden Tag auf sie? Kein Mensch jedenfalls. Sie war noch nie für Dorfgeschwätz. Nun hielt sie eins. Über Gott und die Welt, ein angeregtes erfrischendes Gespräch. Sie war sehr überrascht, dass auf diesem Fleckchen Erde, am Ende des Dorfes, ein so interessanter und gesprächiger Mensch wohnte. Er lebte zurückgezogen. Herr Walter war Lehrer, siehe da. Sie sprachen über Bücher, über die Gesellschaft, über Menschen und den Verfall von Werten. Ihre Einstellung zu den Dingen teilte er und begründete es sogar. Er war etwas kleiner als sie, was keine Kunst war bei ihrer Größe. Selbst ihr Menschen-Harry war gerade so groß wie sie gewesen und sie hatte auf Absatzschuhe verzichten müssen. Herr Walter war an den Haaren bereits ergraut, von schlanker Gestalt und trug eine Brille. Insgesamt war Harrys Herrchen eher ein unauffälliger Geselle. Das war er auf dem ersten Blick. Silke sah ihm in die Augen und er hielt ihrem Blick stand. Ein gestandener Mann mit ausgesprochener Liebe zur Natur, das war er. Seine ruhige, ausgeglichene Art imponierte ihr. Wenn sie sich in der Nähe eines Menschen wohl, irgendwie aufgehoben fühlte, dann waren es jene, deren unerklärliche Ruhe auf sie wirkte. Keine ihrer Freundinnen, außer Birgit, die Psychologin, hatte diese Ruhe. Das war mit sanften Wellen zu vergleichen, auf denen sie sich treiben lassen konnte.

Als sie zu ihrem Haus zurückkehrte, funkelte die Abendsonne in ihre Augen. Auf dem See am Ende des Dorfes schimmerte es kupferfarben mit jadegrünen Streifen. Der Himmel wurde blaugrau und die Wiesen begannen sich zu verändern, als wäre ein Nieselregen auf sie niedergegangen. Aufgewühlt ging Silke nach Hause. Dort, am Ende dieses kleinen Ortes, wohnte ein tierischer Harry, der sie vermisste. Damit hatte sie nicht gerechnet. Erschöpft, aber glücklich und heiß geduscht sank sie zurück in ihre Einsamkeit, die heute anders aussah: Sie trug ein schönes, farbenfrohes Kleid zur Feier des Tages.