Kitabı oku: «Ab 40 wird's einfach nicht schwer», sayfa 7
8. Kapitel
Die Nachwehen
»Aber die trug komische Alternativklamotten, solche Säcke aus Leinen, das war ja gar nichts für mich, hahaha.«
Reini
Silke erwachte um neun Uhr dreißig und fühlte sich wie gerädert. Es dauerte, bis sie sich bewusst wurde, wo sie sich befand und ihr die vergangene Nacht wieder in den Sinn kam. Oh nein! Worum ging es eigentlich ursprünglich bei dieser Party? Sollte es da um eine restlose Verausgabung mit offenem Ausgang gehen, um eine streng befristete und nostalgische Unterbrechung der Existenz im Jetzt, in der wir jeden Tag daran erinnert wurden, alt zu werden? Und das in einer Zeit, in der wir schon die ersten Todesmeldungen mit unserem Geburtsjahr im Internet entdeckten? Silke sah erst Anett und dann die betrunkene Dürre auf der Tanzfläche vor sich, die Männer und die stinkende Gaststube, die dreckigen Damentoiletten, ihren perfiden Racheplan und schüttelte sich angewidert. Aber es nützte nichts, sie musste sich diesem Tag stellen – und wollte es auch. Gestern war gestern. Behäbig stand sie auf und zog die blickdichten Vorhänge zurück, öffnete weit das Fenster, beugte sich hinaus und sah in den Garten. Der August neigte sich dem Ende zu. Wie Perlen hingen Tautröpfchen an den Fäden der Spinnennetze. Die abgeernteten Getreidefelder und das frische Heu verströmten einen satten Duft. Das mochte sie besonders am Dorfleben. Im Schlafanzug lief sie die Treppen hinunter in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Der erste Kaffee war immer der beste. Laut schlürfte sie ihn Schluck für Schluck. Peter war schließlich nicht mehr da. Mit einem Grinsen schlürfte sie noch geräuschvoller, als ihr Handy piepte. Sie hatte es in der Nacht in ihrer Handtasche gelassen. Sollte es doch piepen, egal. Jetzt Kaffee, Terrassentür öffnen, in den Garten hinaustreten, und zwar im Schlafanzug.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Silke. Na, Sie haben aber lange geschlafen. War wohl eine sehr lange Nacht?«, lachte Frau Schröder sie herzlich an. Der Frau konnte sie nichts übel nehmen, bei einer anderen hätte sie jetzt, in ihrer Verfassung, über Mord nachgedacht. Bevor der erste Kaffee nicht bis zum letzten Tropfen ausgetrunken war, durfte sie niemand ansprechen, gleich gar nicht nach solch einer Nacht.
»Moin, Frau Schröder, oh ja, und sehr aufregend, das kann ich Ihnen versichern«, lachte Silke zurück und richtete ihr Haar, als sie daran dachte, wie sie aussehen musste. Frau Schröder seufzte.
»Ach, wenn ich daran denke, wie oft mein Schatz und ich die Nächte durchgemacht haben. Herrlich! Möchten Sie uns wieder mal besuchen?«
Nur nicht heute, bloß nicht, dachte Silke und versprach Frau Schröder, in der Woche darauf vorbeizukommen. Freudig nickte die alte Dame zurück und säuberte die Vogeltränke, um sie anschließend mit frischem Wasser zu füllen.
»Das muss regelmäßig gereinigt und das Wasser erneuert werden, um das liebe Federvieh vor Krankheiten zu schützen«, erklärte sie Silke. Diese nickte und verabschiedete sich ins Haus. Ihr war gerade nicht nach Vögeln. Sie brauchte noch einen Kaffee und eine kalte Dusche. Ob Reini sich heute melden würde? Endlich wieder ein wenig Aufregung, nicht nur verrückte Frauenzimmer, die sich – sie eingeschlossen – benahmen wie Teenager auf Drogen.
Nach der Dusche und frischen Klamotten fühlte sie sich wie neugeboren und dachte an das Piepen ihres Handys. Sie holte es aus der Tasche und sah nach. Vier Nachrichten: eine von Carola, eine von Sandra, eine von Anett und – eine von Reini. Sie wollte es sich selbst spannend machen.
Carola: »Hey, schöne Dame der Nacht. Die Frauenzimmer haben gebrüllt, als ob sie abgeschlachtet würden. Ich hätte fast eher aufgeschlossen, so leid taten sie mir. Aber ich war tapfer. Du glaubst nicht, wie sie aussahen, als sie nach knapp einer Stunde herauskamen! Sie waren nicht mehr wiederzuerkennen. Na gut, vorher waren sie schon keine Schönheiten, aber danach … Die hätte man in der Gespenstershow als Hauptattraktion engagiert. Leider haben sie mich beschimpft und mit einer Anzeige wegen ›Freiheitsberaubung‹ bedroht. Na und? Wer soll mir das nachweisen? Also alles okay, war eine gute Aktion. Diese Bosheit konnte nur mit Bosheit bestraft werden. Melde dich mal, würde mich freuen. Schönen Sonntag, Caro.«
Das hat sie gut gemacht. Silke wollte sich später auf jeden Fall bei ihr melden. Sie würde ihr nicht sagen, wie sie am Beginn des »Tanzabends für Vergessene« über sie gedacht hatte, so ähnlich nämlich wie Caro über die Damen. Auf keinen Fall!
Sandra: »Huhu, meine Sonne, wie hast du geschlafen? Ich hoffe doch, gut? Ich ja. Das kannst du dir ja denken. Eine Klassefrau, meine Prinzessin Di. Muss ich dir dringend erzählen. Bis später!«
Oh nein! Wie war das gleich mit dem blauen Elefanten …?
Anett: »Moin, Silke. Danke für alles. Bin immer noch fertig, ich schäme mich so. Aber du warst große Klasse, bist eben eine echte Freundin.«
Wenn sie wüsste! Sie wird es erfahren, dessen war sich Silke sicher.
Reini: »Hallo, mein Party-Engel, wie wäre es heute mit einem Wiedersehen? Würde dich gern auf einen Kaffee einladen.«
Komisch. Sie las die Nachricht so schnell, wie er sprach, nur konnte sie nicht so schnell tippen:
»Hallo, Reini, ja, bin vorhin von den Toten auferstanden und bis zum Nachmittag hoffentlich wieder salonfähig.«
Reini war gerade online.
»Bist du doch hundert Pro jetzt schon. Fünfzehn Uhr im ›Cafe Hundert‹?«
Klar, die Location war ihr bekannt. Was für ein Snob!
»Okay, bis dahin«, schrieb sie zurück, ließ sich Kaffee Nummer vier ein, schlürfte wieder, so laut sie konnte, und ging nach oben, um sich Gedanken über ihre Garderobe für den Nachmittag zu machen.
Am Nachmittag kam sie kurz nach fünfzehn Uhr vor dem Café an. Reini wartete schon, wie sich das gehörte, wie sie fand. Der Mann sollte früher da sein, die Frau sollte sich ein paar Minütchen verspäten. Das hatte sie zumindest mal gelesen. Reini trug ein leichtes, sportlich-elegantes schwarzes Sakko, darunter ein sorgsam gebügeltes Leinenhemd und eine dunkelblaue Jeans, diesmal ohne Risse und passend zum vornehmen Café. Kaum hatten sie sich begrüßt, entfuhr es ihm wie gehabt im Eilzugtempo:
»Wow! Du siehst wieder sehr schick aus. Ich habe gestern schon bemerkt, dass du einen tollen Geschmack hast – so schlicht und trotzdem mit Klasse, finde ich gut. Gefällt mir. Hahaha.«
»Danke schön«, antwortete Silke artig und sah, als müsse sie sich daran erinnern, an sich herunter. Sie trug einen schwarz-weißen Glockenrock und eine lockere weiße Bluse. Noch war es warm genug.
»Wollen wir reingehen … habe extra vorher angerufen … ist doch immer voll hier … da ist es besser, man bestellt vor … hahaha«, tönte er und öffnete Silke die Tür. Das konnte was werden. Hoffentlich gewöhnte sie sich an dieses ulkige Sprechen und Lachen am Ende jeden Satzes. »Ich habe heute angerufen und zwei Plätze bestellt«, sagte Reini auf Nachfrage des edel gekleideten Kellners und nannte seinen Nachnamen. Ohne Lachen! Der Kellner führte sie an einen kuscheligen Platz am hinteren Ende des Cafés. Der Platz war perfekt. Reini schob ihr den Stuhl zurecht. Old School, auch perfekt. Sie bestellte einen Kaffee und er einen Cappuccino.
»Ich vertrage nicht so viel Kaffee, trinke nur früh zum Munterwerden eine Tasse und dann nicht mehr«, und er lachte. Ich nicht, dachte Silke. »Wenn du nicht deine sechs Tassen Kaffee am Tag bekommst, müssen deine Mitmenschen aufpassen, nicht auf deine schwarze Liste zu geraten«, so hatte ihr Sohn sie vor einigen Jahren geneckt. Aber Reini fragte sie nicht nach ihrem Suchtmittelkonsum und sie schwieg.
»Ist schön hier, oder?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, plapperte er weiter:
»Ich war schon paarmal hier, auch mit meiner Tochter und mit einem Freund … ein paarmal sogar alleine. Ich gehe gerne weg, hocke nicht so gern zu Hause am Wochenende … irgendwas mache ich immer … ich muss einfach raus … sonst würde ich verrückt werden … das muss einfach sein … gehe total gerne in die Disko und tanze … manchmal gehe ich sogar alleine ins Kino oder ich gehe essen … sehe mir was an oder fahre mit dem Auto herum, bis ich was finde, was mir gefällt … da steige ich aus und laufe bisschen herum … was machst du so an deinen Wochenenden? Hahaha.«
Atme, Reini, atme!, sprach Silke in Gedanken und meinte auch sich. Sie bemerkte, wie sie die Luft anhielt, wenn Reini sprach. Hatte er sich nicht vergangene Nacht bereits als Vielunternehmender geoutet? Wenn das so weiterging, musste sie an diesem Abend eine Beruhigungstablette nehmen.
»Ich gehe gern laufen, treffe mich mit Freundinnen oder lese, wenn mir danach ist.«
Das Interesse für Kunst ließ sie bewusst weg. Reini lachte sein putziges Lachen.
»Du liest? Ach so … nein, das ist mir gar nichts … ich kann mich nicht konzentrieren beim Lesen … ist mir zu langweilig … aber Fußball sehe ich gern … bin Bayern München-Fan … hahaha.«
Hahaha. Genau. Er las nicht. Er war Fußballfan. Er litt unter Konzentrationsproblemen. Silkes Diagnose: ADHS. Ob er Ritalin nahm? Denk an gestern, denk an Carola! Warte ab, bevor du wieder Urteile fällst!, mahnte sie sich.
»Schaust du Fußball? Manche Frauen mögen ja sogar Fußball … meine Ex konnte es ganz gut leiden … und meine Tochter sieht mit mir auch gern ein Spiel … das finde ich toll … manchmal geht sie sogar mit mir ins Stadion«, schwatzte er weiter, überschlug sich fast und verschlang manche Endungen. Das Schlimmste, was Silke auffiel, und daran konnten sie keine Mahnungen ihrer neuen inneren Stimme ändern, war der Speichel, der sich an Reinis Mundwinkeln beim Reden festsetzte. Klar, er konnte die Spucke ja nicht mehr kontrollieren, wenn er ohne Punkt und Komma redete. Ihr wurde übel. So ein attraktiver Mann und dann dieses Desaster. Gut, okay. Bleib ruhig. Vielleicht muss ihn jemand darauf aufmerksam machen? Vielleicht hat das bisher noch nie jemand getan? Aber warum ich? Warum immer ich? Weil ich vom lieben Gott oder sonst wem die Aufgabe bekommen habe, allen Menschen die Wahrheit zu sagen und mich damit ins Unglück zu stürzen? Nö. Will ich nicht.
Während Silke sinnierte, hörte sie Reini quasseln und quasseln. Das war, als ob jemand eine Kassette im Vorlaufmodus abspielte oder wie damals, bei den alten Kassettenrecordern, wenn sich das Band ineinander verhedderte. Was hatte er nun wieder gesagt? Aber es schien keine Rolle zu spielen, denn Reini lachte und nippte jetzt an dem Cappuccino. Wenigstens da sprach er nicht, wie schön. Er fragte sie etwas und wartete keine Antwort ab. Silke langweilte sich und begutachtete das Café etwas genauer. Überall schnieke angezogene Leute, die meisten offenbar Touristen, was man am farbenfrohen, völlig anderen Kleidungsstil und der gesunden Hautfarbe erkannte. Das Schlimmste war: Reini ermüdete sie langsam. Sie hatte genug von ihm gehört und nichts Neues erfahren.
»Wollen wir nächste Woche mal schön ausgehen? Dazu hätte ich wirklich Lust mit dir … mit so einer attraktiven Frau … vielleicht in die Disko? Hahaha.«
Silke lächelte ihn an. Hatte er etwas gesagt? Reini sah sie kurz verdutzt an und wiederholte seine Fragen. Disko? Um Himmels willen! Sie hasste Diskos, schon früher, als sie noch dahingegangen war, um erste Erfahrungen mit Jungs zu sammeln und der erste, der ihr gefiel, ihr mitteilte, dass sie zu dick sei. Bevor er sie zum Tanzen aufgefordert hatte, konnte er sie nur bis zur Schulter an der Bar sehen.
»Hast ja ein bildhübsches Gesicht«, hatte der große, schlanke Junge nach dem Lied gesagt.
»Aber die Figur, die geht gar nicht.«
Punkt. Wunder Punkt. Ganz wunder Punkt. Nachdem er wahrscheinlich erschrocken war, hatte er den einen Tanz tapfer durchgehalten, um sie dann mit der Wahrheit zu konfrontieren. Reini sah sie freundlich an.
»Ich mag ja Frauen, die sich richtig modern und schick kleiden. Manchmal habe ich ganz hübsche Frauen kennengelernt, hahaha. Eine von ihnen hatte wirklich ein niedliches Gesicht …« (Sprach er von einer Katze?)
»Aber die trug komische Alternativklamotten, solche Säcke aus Leinen, das war ja gar nichts für mich, hahaha.«
Ist ja gut, du Macho!, grummelte Silke in sich hinein und sagte:
»Zur Disko werde ich nicht gehen.«
Ihr Ton und der Klang ihrer Stimme waren unmissverständlich – sogar für jemanden, der sie nicht kannte.
»Schade, aber na ja … vielleicht ein anderes Mal … hahaha«.
Ganz sicher nicht!
»Oder wir machen was anderes. Samstag?«, fragte er unverblümt. Na gut, sie wollte ihn nicht schon jetzt vor den Kopf stoßen.
»Du, ich glaube, die letzte Nacht sitzt mir noch in den Knochen. Ich fahre jetzt nach Hause und leg mich mal aufs Ohr.«
Reini lachte.
»Na gut, ich habe ja die Hoffnung auf nächste Woche, hahaha.«
Er zahlte, sie verließen das Café und verabschiedeten sich. Nachdem er ihr einfach einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte, sah sie auf seine Mundwinkel. Da klebte gerade nichts. Welch ein Glück! Im Auto nahm sie trotzdem ein Feuchttuch und rieb sich die geküsste Wange ab.
Den restlichen Sonntag brauchte Silke, um sich zu erholen und schaltete alles ab, auch das Handy. Die neue Arbeitswoche kam gewiss schneller, als ihr lieb war; und mit ihr eine neue Geruchspalette.
Reini meldete sich jeden Tag mehrfach über WhatsApp.
»Guten Morgen und einen schönen Tag für dich«, Rose, Lach-Smiley. Mit letzterem hörte sie schon sein »Hahaha«. An manchen Tagen kam am Nachmittag:
»Na, du schöne Lotosblüte, schon Feierabend?«, Lach-Smiley. Hahaha. Und: Seit wann durfte er sie einfach »Lotosblüte« nennen? Wo hatte er diesen Mist her? Dunkel erinnerte sie sich an einen DDR-Komiker, Rolf Herricht. Hatte der nicht in einem Sketch dieses Wort benutzt? Die Nostalgie kannte keine Grenzen. Am Abend:
»Huhu, bin fertig mit der Arbeit, schönen Abend dir!«, Daumen hoch, Lach-Smiley. Am dritten Tag wusste sie bereits, wann und was er schrieb. Der Samstag jedenfalls rückte immer näher und damit der zu Mensch gewordene Lach-Smiley.
Große Lust hatte sie nicht, aber vielleicht kam sie noch? Beim Essen kam schließlich auch der Appetit. Sie verabredeten sich für achtzehn Uhr in Dresden in der Nähe der Hofkirche. Am meisten freute sich Silke auf Dresden. Endlich wieder in einer Großstadt sein und Leben genießen, Menschen sehen und Vielfalt. Vielleicht konnte sie Reini überreden, mit ihr in das Grüne Gewölbe zu gehen? Schon viel zu lange war sie nicht mehr dort gewesen. Hatte es nach dem Diebstahl überhaupt wieder geöffnet? Sie sah im Internet nach. Ja, hatte es. Nun kam doch noch Freude auf das bevorstehende Treffen auf. Nach dem Bad wickelte sie sich in ihren Bademantel und sah versonnen aus dem Fenster. Wie schön! Der Sommer ließ sich tatsächlich noch Zeit, die Führung an den Herbst abzugeben. Eine moderne Sommerjeans und eine tolle Bluse dazu, Strickjacke und fertig.
9. Kapitel
Reini, Dresden und neue Pläne
»Bitte, lass uns doch mal einen Moment
nichts sagen, Reini!«
Silke
Sie erschien kurz nach achtzehn Uhr am Treffpunkt. Reini erspähte sie schon von weitem und sein Lachen wurde breiter. Bald würde sie es auch hören. Als sie näher kam, war sie wieder von seinem Aufzug angetan. Geschmack hatte er, das musste man zugeben. Mit seiner grauen Jeans und dem schwarzen Hemd, den schwarzen, nicht billigen Schuhen und einer grauen Lederjacke über dem Arm stach er unter so manch ortsansässigem Mann seines Alters deutlich hervor. Dazu roch er zwar wieder für Silkes Geschmack etwas zu aufdringlich nach Parfum, so als hätte er sich damit übergossen, aber er war sehr gepflegt. Mundwinkel wurden abgecheckt, dann Küsschen links, Küsschen rechts, ein »Hahaha« durfte natürlich nicht fehlen.
»Gut siehst du aus!«, krähte Reini.
»Danke, du auch«, entgegnete Silke und Reini lachte sein kurzes »Hahaha«. Alles war also in Ordnung. »Ich war lange nicht mehr in Dresden und freue mich riesig darauf«, schwärmte Silke und strahlte.
»Echt? Wie lange nicht?«, fragte Reini und sie erzählte ihm, dass sie das letzte Mal neun Monate zuvor da gewesen war. Sie hatte Dresden vermisst. Es war besonders, hatte seinen eigenen Charme. Aber es hatte sich im Laufe der Jahre verändert, war hektischer und unruhiger geworden. Das stimmte sie traurig. Dabei hatte diese Stadt immer etwas seltsam Verträumtes, was man sonst kaum in einer Großstadt fand. Als wäre sie zwar mit der Zeit gegangen, aber dazwischen, zwischen den Häusern, zwischen den neuen, feudalen Gebäuden, da hockte noch das kleine, in sich gekehrte, beinahe schüchterne Dresden. Die Straßenbahnen mit ihrer gelb-schwarzen Aufschrift erinnerten Silke noch immer an die alte Zeit, in der die Straßenbahnen langsamer und lauter fuhren und sie die ersten Grübchen auf ihren Wangen entdeckt, Kirschen in Gärten geklaut und überlegt hatte, wie sie auf der Prager Straße an Marx und Engels hätte hochklettern können. Ihre alte Zeit vermischte sich gerade mit der neuen und es trieb ihr Tränen in die Augen, als Reini ihre Gedanken mit gewohnter Geschwindigkeit unterbrach.
»Wo wollen wir am besten hingehen? Worauf hast du Lust? Wollen wir spazieren gehen, ein Eis essen, Dampfer fahren oder was wollen wir machen? Also ich …«, plapperte er unaufhörlich weiter und dehnte seine Welt aus.
»Ich wäre gern mal wieder ins Grüne Gewölbe gegangen.«
Reini sah sie verdutzt an, fing sich jedoch rasch wieder und platzte ein »Wieso? Willst du was klauen?« raus. Total witzig. Damit sie sich nicht weiter ärgerte, wollte sie ihn jetzt ein wenig foppen. Mal sehen, was er wusste, ob er sich für seine Stadt interessierte.
»Ach«, schwärmte sie und sah zur Hofkirche hinauf, »sie ist so schön!«
Reini folgte ihrem Blick, sah zu ihr, wieder zur Kirche. »Hahaha.« Aha. Weiterging es.
»Wusstest du, dass sie während der Luftangriffe auf Dresden vom 13. bis 15. Februar 1945 mehrmals von Sprengbomben getroffen worden ist? Dabei stürzten Dach und die Gewölbe im Innenbereich ein. Erst 1965 wurde der Wiederaufbau beendet.«
Sie sah ihn von der Seite an und lächelte betont versonnen.
»Nein, das wusste ich nicht, hahaha.«
Das war zwar gemein von ihr, aber, ein bisschen Zicke sein konnte nicht schaden.
»Ich bin zwar nicht so der Kunstfanatiker, aber bisschen Bildung kann ja nicht verkehrt sein, hahaha«, und dann plapperte er weiter. Über seine Tochter, die sich sehr für Kunst interessierte und ihn schon einige Male mitnehmen wollte; er sie aber dann doch überredete, etwas anderes zu machen, und, und, und. In dieser Zeit stiegen sie die Treppe zur Brühlschen Terrasse hinauf. Reinis Mund stand nur beim letzten Drittel des Aufstiegs still und sie hörte ihn keuchen. Hahaha. Sie genoss diese zwei Minuten, denn kaum bekam er wieder genug Luft, versuchte er es mit der nächsten Wortkanone.
»Bitte, lass uns doch mal einen Moment nichts sagen, Reini!«
Dabei blieb sie höflich.
»Hahaha, ja, machen wir.«
Sie trat an das Geländer, um die schöne Aussicht auf die Elbe und den herrlichen Blick zu genießen und atmete tief durch. Schon wollte sie in ihrer Begeisterung:
»Ist das nicht zauberhaft?«, rufen, als sie sich entschied, es lieber zu lassen. Denn das hätte Reini als Aufforderung für eine neue Redeattacke aufgefasst. Silke lehnte sich an das Geländer und blickte sich auf dem Balkon Europas um. Unweit von ihnen saß eine Frau alleine auf einer Bank, mit einem Buch in der einen und einem Kaffee in der anderen Hand. Die Glückliche! Kaum gedacht, wahrscheinlich war Reini schon am Platzen, weil seine Welt sich schon wieder füllte, schnatterte er los; diesmal so schnell wie noch nie zuvor. Oh! Da hatte sich etwas angestaut in den drei oder vier Minuten!
»Hach, ist das nicht schön hier … ich erinnere mich, dass ich doch mit meiner Tochter mal hier war … und ganz früher sogar mit meinem Sohn … der ist ja jetzt schon viel älter … na ja, viel reden wir nicht miteinander … aber ich bin ja froh, wenn wir uns wenigstens ab und zu hören und sehen … ist auch alles nicht so einfach … er lebte von Anfang an bei seiner Mutter … und die war nicht gerade angenehm … wollte den Umgang unseres Sohnes mit uns nicht so haben … war ja damals noch nicht so offen wie heute … wird mehr Rücksicht auf die Väter genommen … da beschweren sich ja manche Mütter darüber … die können heutzutage nicht einfach so ihr Kind dem Vater vorenthalten … aber damals … na ja, war eben so … hahaha … so ist das eben … alles hat man nicht im Leben … aber ich bin trotzdem zufrieden … man muss immer positiv denken … hahaha …«
Dff, dff, dff, das Feuer war eröffnet! Sie hatte das Gefühl, wenn er noch einen Satz sagte, würden seine Worte in ihrem Gesicht explodieren. Was sollte das im Grünen Gewölbe werden? Sie musste sich umentscheiden, lieber wollte sie mit einer Freundin bei Gelegenheit ihren Wunsch erfüllen.
»Reini, ich habe eine Idee.«
Er sah sie neugierig an.
»Raus damit, ich bin für alles zu haben, hahaha«.
Das glaubte sie ihm auf’s Wort.
»Lass uns bei diesem schönen Wetter nicht unsere Zeit in einem Gewölbe, sondern lieber draußen verbringen. Was hältst du davon, wenn wir hier noch ein wenig schlendern und dann auf die Münzgasse in ein Café gehen?«
Wie ein kleines Kind zappelte er. Also doch ADHS. In unseren Zeiten gab es ja solche Symptome nicht. Wir waren ruhig und gelassen oder wir waren temperamentvoll und ausgelassen. Da gab es höchstens noch verhaltensauffällige Kinder, aber die mussten schon sehr auffällig sein. Wir waren einfach nur Kinder. Sie schweifte wieder in ihren Gedanken ab und betrachtete ihn von der Seite, als sie an plastischen Elementen vorübergingen und schließlich an die Büste für den Bildhauer Ernst Rietschel gelangten. Silke bestaunte sie, obwohl sie es schon oft gesehen hatte.
»Beeindruckend!«, entfuhr es ihr. Reini stand wie ein begossener Pudel daneben.
»Ich glaube, meine Tochter wüsste darüber alles, hahaha«, brabbelte er seine Unsicherheit weg. »Schau mal, da«, und sie zeigte auf die drei Reliefs.
»Diese Reliefs stellen die Geschichte, Poesie und Religion dar.«
Reini lächelte.
»Oh! Wie schön! Hahaha.«
Er kratzte sich am Kinn.
»Und was bedeuten die drei Figuren da?«, zeigte er sich interessiert. Immerhin.
»Die symbolisieren das Zeichnen, Modellieren und Meißeln. Spannend, oder?«
Eigentlich war das wieder dieses Necken, denn inzwischen war eins klar: Das war für Reini auf keinen Fall »spannend«. Aber siehe da! Reini begutachtete die Inschrift auf dem Denkmal, als wolle er einem Hund in die Schnauze schauen wollen.
»Auf der Stätte seines Schaffens«, las er laut vor. Das obligatorische »Hahaha« fehlte schon zum zweiten Mal hintereinander. Silke musste überlegen und in ihren Erinnerungen aus dem Studium kramen. Sie hatte Geschichte immer besonders gemocht. Wie vergesslich man im Laufe der Jahre werden konnte! Dann fiel es ihr ein.
»Rietschel hatte sein Atelier im Brühlschen Gartenpavillon, der zuvor an dieser Stelle gestanden hatte.« Reini nickte ernsthaft.
»Du weißt zu viel, du musst weg. Hahaha«, versuchte er zu witzeln. Okay. Aussichtslos.
»Lass uns jetzt zur Münzgasse laufen«, schlug sie vor.
»Gute Idee, hahaha.«
An diesem Abend würde sie Nerventee brauchen.
In der Münzgasse schlossen sie sich einer Menschenmenge an. Hier strömte pures Leben. Wie hatte ihr das gefehlt! So viele verschiedene Nationalitäten; edel Gekleidete oder Alternative, schräge Gestalten – eben bunt gemischtes Publikum. Bunter ging es nicht.
»Hier laufen Vögel rum«, plapperte Reini, als ihnen ein Mann entgegenkam, der auffiel. Seine Haare hatte er zu zwei, stark vom Kopf abstehenden Zöpfen geflochten, an den Seiten war er glattrasiert. Dazu abstehende Ohren und die Augen extrem geschminkt. Auf seinem Shirt stand:
»Mein Ex hat einen Kleinen.« Und er trug einen Wickelrock, das war wirklich schräg, aber interessant. Reini sah ihm nach und schüttelte angewidert den Kopf. Jetzt reichte es ihr.
»Sag mal, du wohnst doch in Dresden, in einer Großstadt. Da musst du es doch gewohnt sein, auf allerlei Menschen zu treffen!«
Ihr Ton war etwas spitz.
»Na ja, schon, aber der ging ja gar nicht! Wie kann man sich so in der Öffentlichkeit zeigen? Hahaha.«
Sie schlängelte sich an der nächsten Gruppe vorbei und sagte trocken:
»Und wer bestimmt, was ›geht‹ oder nicht?«
Er lachte nur. War der so blöd, oder konnte er keine anständige Diskussion führen? Egal, Silke rollte mit den Augen und wünschte sich Sandra oder Anett oder heute noch lieber ihre »Kunstfreundin« Birgit herbei. Das hätte gut gepasst. Es zupfte sie jemand grob am Arm. Schon wollte sie den Arm wütend entziehen, da erkannte sie, dass Reini sie in ein Café zerren wollte. Das fehlte noch. Ein Mann zog sie am Arm! Sie riss sich los.
»Ich komme ja schon, mein Gott!«
Langsam wurde sie aggressiv und die einzige Chance, sich zu beruhigen, war jetzt Koffein. In Dresden trank man schließlich zum Nachmittag immer Kaffee. Eierschecke dazu wäre natürlich der Bringer. Sie hatten Glück, am Rande der Münzgasse wurden Plätze frei. Sie mochte zwar diese runden Holzgartentische und klapprigen Holzstühle nicht, aber man konnte glücklich sein, zwei Plätzchen ergattert zu haben. Ihre Füße schmerzten sie und noch mehr ihre Ohren. Es dauerte eine Weile, ehe der Kellner kam. Sie bestellten ihren Kaffee und zwei Stück, ja tatsächlich, Eierschecke. Darauf freute sie sich jetzt, während die Menschen dicht an dicht an ihr vorüberliefen. Und niemand von ihnen schien gestresst zu sein. Alle unterhielten sich, lachten, manche sangen sogar. Dresden, ich liebe dich! Und diese Liebe endet nie!, sinnierte Silke pathetisch. Das war auch vorerst der letzte Gedanke, denn Reini hatte vor, sein Männerköpfchen leer zu quatschen. Achtung, fertig, los:
»Also, hier ist ja was los … hahaha … heute ist wirklich extrem viel los … als ich mit meiner Tochter letztens da war, war wesentlich weniger los … aber meiner Tochter würde das hier gut gefallen … na ja, die jungen Leute stehen eben auf viel Leben … ich eigentlich auch … vielleicht, weil ich auf Arbeit oft alleine bin … deshalb freue ich mich, unter die Leute zu kommen … hahaha … und vor paar Wochen war ich zur Disko … da habe ich eine Frau kennengelernt … die war ganz süß … aber als wir uns unterhalten haben, da kam der Hammer … sie hatte Garten und Hund und Enkel … so was will ich nicht … da wüsste ich schon, was auf mich zukommen würde … so ein Heimchen … hahaha.«
Dff, dff, dff, dff, alle erschießen, und zwar mit Worten. Es gab ja Sachen, die sollte ein Mann bei den ersten Dates für sich behalten. Da erzählte Mann eben nicht, dass Mann eine andere Frau süß fand. Das war zwar etwas Normales, aber Frau wollte das nicht wissen. Und überhaupt: diese Überheblichkeit gegenüber Frauen mit Garten, Hund und Enkeln! Reini kontrollierte außerdem den Luftraum. Das ging gar nicht. Stille und Ruhe wären sein sicherer Tod, diagnostizierte Silke gedanklich und nickte nur, während weitere Wortschwalle sich wie ein Platzregen über sie ergossen. Wenn er gerade erzählt hätte, sie in die Elbe werfen zu wollen, hätte sie genickt. Als sein Mund plötzlich für einen klitzekleinen Moment stillstand, erschrak sie regelrecht. Was? War sein Vokabular erschöpft? Mitnichten. Reini sah sich ihre Fingernägel an.
»Du hast ja schöne Fingernägel, sind die echt?«
Ja, natürlich! Es war ihr zu langweilig, sich stundenlang ins Nagelstudio zu setzen und ihre Hände einem fremden Menschen hinzuhalten wie ein Hund seine Pfötchen dem Herrchen. Es war ihr höchst unangenehm, wenn jemand an ihren Händen herumfummelte oder ein Mann sie küsste, womöglich seine Sabber hinterließ, wenn ein Hund sie ableckte oder sie Hühnchen mit den Fingern essen sollte. Und sie aß so gern Hühnchen! Früher hatte sie mit ihrem Vater ein Spiel gespielt. Wer zuerst mit dem Abknabbern der Hühnchenschenkel fertig gewesen war, hatte gewonnen. Mitten in ihre Gedanken platzte ein neues »Sturmgewehr«.
»Also ich mag Frauen, die ihre Fingernägel lackieren.«
Machte sie auch. Mit unauffälligem Glanznagellack oder einer Nude-Farbe.
»Ja, mache ich.«
Reini zog die Stirn zusammen, glättete sie wieder und schmetterte ihr entgegen:
»Na ja, ich mag so richtig roten Nagellack. Würdest du für mich mal solchen drauf machen?«
Was, heiße ich vielleicht Olga oder Ludmilla? Vielleicht noch knallroten Lippenstift? Hat der Herr noch einen Wunsch?, war Silke kurz vorm Platzen.
»Schmeckt dir der Kaffee …« und schon wollte er weiter ballern. Da schrie sie:
»JA!« Am Nebentisch drehten sich zwei Pärchen um und kicherten. Silke hörte, wie eine der beiden Frauen meinte: »Der würde mich auch wahnsinnig machen« und die anderen drei nickten lachend.
Reini sah sie nur erschrocken an.
»Ich möchte jetzt gehen«, fügte sie leiser, aber bestimmt hinzu. »Und es wäre mir lieb, wenn wir das tun könnten, ohne dass du beim Reden durch die Haut atmest!«
Ruhe. Endlich. Sie schlenderten zur Hofkirche zurück und Silke nahm nichts mehr um sich herum wahr. Ich will nur noch nach Hause!, stöhnte sie gedanklich. Kühl verabschiedete sich von Schwafelreini, in dessen Mundwinkeln getrocknete Spucke klebte. Sie merkte, wie ihr kalt wurde. Mensch, eine Stunde Fahrt nach Hause. ›Wenn es sich wenigstens gelohnt hätte, dachte sie und betätigte beim Fahren den Schaltknüppel, als ob sie mit dem Spaten den harten Boden ihres Gartens bearbeiten wollte. Sie stellte das Autoradio auf CD und drehte AC/DC auf volle Lautstärke. Die CD war noch vom letzten Mal drin, als sie wütend war. Nach zehn Minuten, in denen sie sich zu »Highway to Hell«, »Let There Be Rock« und anderen Hits der Hard-Rock-Band die Seele aus dem Leib schrie, schaltete sie auf Radio um und atmete wieder ruhiger. Zu Hause nahm sie ein Bad, kuschelte sich in ihre Lieblingsdecke und schrieb Sandra über WhatsApp: