Kitabı oku: «Maybelline», sayfa 2

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3

Es gab eine dreistufige Pagode, errichtet auf einem kleinen Hügel oberhalb des Flusses, der wie geriffeltes Glas schimmerte. Die Einheit hatte den Fluss zu einem Pool aufgestaut. Sie kauerten darin in ihrem Unterzeug und schrubbten sich mit Seife den Augustdreck aus den Falten und Ritzen ihrer Körper. Haubitzen waren um sie herum auf den Hügeln aufgestellt wie Schutzmonster. Trotzdem wuschen sich die Marines in aller Eile, weil sie sich ohne ihre Stahlhelme, ihr Tarnzeug und ihre gelben Leinenbeinlinge, die seitlich geschnürt waren, ungeschützt fühlten. Erkennungsmarken baumelten um ihre Hälse und blitzten in der koreanischen Sonne.

Rory stand aus dem Pool auf und spürte, wie das kalte Wasser wie ein Umhang an seinem Körper hinabglitt. Seine bloßen Füße mit den weißen Zehen standen auf den runden, glatt gewaschenen Steinen wie die auf dem Berg bei ihm zu Hause. Er ging den Hügel hinauf in Richtung des Tempels mit dem Ziehharmonikadach, wo sie einquartiert waren, vorbei an olivfarbenen Hemden und Hosen, die auf Felsen und Büschen trockneten und wie Tierhäute ausgebreitet waren. Die Luft fühlte sich an, als wäre sie voller Zähne. Früher am Tag, als sie ein verlassenes Dorf durchsucht hatten, waren sie unter Beschuss von Heckenschützen geraten. Ihr erstes Mal. Sie waren zwar Marines, aber trotzdem naiv. Das Knallen der Schüsse hatte ihnen die äußere Schicht Mut vom Rücken gepellt; ihre Knochen waren jetzt dichter unter der Oberfläche.

Ein Paar steinerne Löwen bewachte den Eingang der Pagode, von Flechten überzogene Tiere mit eckigen Köpfen und großen Pfoten. Die Marines nannten sie »Foo dogs«. Es gab einen Nisei in ihrer Einheit, Sato, dessen älterer Bruder im 442. Infanterieregiment im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte. Alles japanischstämmige Amerikaner.

»Komainu«, sagte er. »Wächterlöwen. Sie halten die bösen Geister fern.«

Einer hatte sein Hemd über eins der Tiere geworfen. Rory nahm das Kleidungsstück herunter, damit die Kreatur etwas sehen konnte. Er betrat den Tempel. Die Luft fühlte sich kühl und abgestanden an wie in einer Höhle. Die dunklen Geister abgebrannter Kerzen spukten um die Wandleuchter. Der Ort roch nach Weihrauch und Lucky Strikes und nervösen Marines. Ihre Ausrüstung war an den Wänden aufgereiht. Er war noch nie an einem so alten Ort gewesen. Granny hatte für Kirchen nichts übrig – »Gottesschachteln« nannte sie sie –, und die in den Bergen schienen im Vergleich zu dieser hier nicht sehr stabil zu sein. Hastig zusammengeschusterte Bretter, manche lediglich aus Unterholz. Doch hier halb nackt und allein im Zentrum des Tempels fühlte er sich mit dem Stein von Generationen wie gepanzert. Keine Kugel konnte ihn hier treffen. Kein Gefühl von Angst ihn beschleichen.

Er wollte an diesem Ort bleiben, der so still und freidlich war inmitten der waffenstarrenden Hügel. Aber ein kalter Wind pfiff durch den Tempel und traf ihn am Rücken, und ihm fiel wieder ein, dass der Herbst früh begonnen hatte, für die Blätter und die Menschen. Leuchtendes Blut auf den sägezahnförmigen Gebirgskämmen und das Schreien, das nicht aufhören wollte.

Er konnte es nicht vergessen.

Rory wachte gegen Mittag auf, er hatte die Bettdecke weggestrampelt, und sein Körper war trotz der Oktoberkälte von einem Schweißfilm überzogen. Das Bein, das er verloren hatte, pochte, als befände es sich noch an dem zerbeulten Stumpf unterhalb seines Knies. Er stand auf und zog sich rasch an. Sein Zimmerfenster war beschlagen, und die vier Scheiben schimmerten blassgolden. Bilder ohne Rahmen bedeckten die Wand. Tiere des Feldes, Vögel der Luft – ihre Körper geflammt, wo die Sonne auf sie fiel. Sie erinnerten ihn daran, welcher Tag war: Sonntag.

Er wusch Achseln und Gesicht, gelte das Haar zurück und betupfte seine Halskuhle mit Grannys hausgemachtem Eau de Cologne, das brannte. Er zog ein weißes Hemd an, das man bis zum Hals zuknöpfen konnte, legte eine schwarze Krawatte um und setzte die Melone seines Großvaters Anson auf. Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel – es sah aus, als hätte sich über Nacht ein ganzes Jahrzehnt unter seiner Haut eingenistet. Die Haut unter seinen Augen schimmerte, als hätte ihm jemand einen Fausthieb verpasst.

Er saß auf der Veranda und kratzte den Schlamm von seinen Stiefeln, als Granny herauskam. Sie balancierte eine Pastetenform in ihrer Armbeuge.

»Ich nehme das«, sagte er und sprang auf.

»Ich bin vierundfünfzig Jahre alt. Ich bin nicht invalide.«

Sie saß steif und mit geradem Rücken in dem PS-starken Fahrzeug, als wäre es eine Pferdekutsche. Man konnte sich problemlos vorstellen, wie sie auf einer Wells-Fargo-Postkutsche fuhr, eine kurzläufige Schrotflinte im Schoß. Als er hinter das Steuer glitt, blickte sie ihn an.

»Hast du wieder schlecht geträumt?«

»Nein«, log er.

»Du solltest die Tinktur nehmen, die ich für dich zubereitet habe.«

»Das tue ich.«

»Von wegen, du kippst sie immer in das Astloch in der Bodendiele.«

Rory ließ den Motor an und fragte sich, woher sie so etwas wissen konnte.

Innerhalb einer Stunde waren sie unten im Tabakland, Quadrat um Quadrat hügeliger Felder, die links und rechts vorbeizogen, der rote Lehmboden wie Wunden zwischen den Bäumen. Riesige, grob gezimmerte Trocknungsscheunen schwebten oben auf den Hügeln wie verwitterte Archen, die Brightleaf-Tabak enthielten, der die weißen Zigarettenhüllen füllen würde, die mit Trucks im ganzen Land verteilt wurden. Chesterfields und Camels und Lucky Strikes. Pall Malls und Viceroys und Old Golds. Der Highway schlängelte sich durch Winston-Salem, wo das zwanzigstöckige Reynolds-Gebäude wie eine Miniatur vom Empire State Building in den Himmel ragte. Es war nach R. J. Reynolds benannt, der Zeitung lesend auf einem Pferd in den Ort geritten war und das Zigarettenpäckchen erfand, was ihn zum reichsten Mann des Staates gemacht hatte.

»Es heißt, es sei das höchste Gebäude in beiden Carolinas«, sagte Rory.

Granny saugte an ihren Zähnen und trug eine verächtliche Miene zur Schau, wie sie es immer tat, wenn sie gezwungen war, den Berg zu verlassen.

»Das is’n Fliegenschiss verglichen mit der Höhe, in der mein Haus steht, oder?«

Sie fuhren an Greensboro und Burlington vorbei, wo sich riesige Fabriken aneinanderreihten, deren Schornsteine Tag und Nacht schwarzen Rauch ausstießen, während weiter unten hübsche, kleine Städte mit Straßenbahnen und straff gespannten Telefonleitungen erblühten. Sie fuhren vorbei an Durham, dem Sitz von Duke Power, das beinahe den gesamten Staat mit Strom versorgte, dann hinein nach Raleigh, wo sie die von Eichen beschatteten Straßen entlangfuhren, und schließlich hinauf zur staatlichen Irrenanstalt namens Dix Hill. Es war ein riesiger, doppelflügeliger Sandsteinbau, der über der Stadt aufragte, vierstöckig, die schmalen Fenster dicht an dicht wie mittelalterliche Schießscharten. Der Mittelbau sah aus, als wäre er von Griechen errichtet worden, vier riesige Säulen, die ein dreieckiges Gesims trugen, mit einer Glaskuppel obendrauf.

Sie unterschrieben die Papiere, setzten sich und warteten. Als die Krankenschwester kam, um sie abzuholen, ging Rory als Erster hinein. Seine Mutter durchquerte leichtfüßig den Besucherraum, die Sohlen ihrer weißen Leinenschuhe kaum hörbar. Ihre Gestalt war dementsprechend, beinahe durchscheinend wie ein Windhauch. Sie konnte im selben Raum mit einem sein, ohne dass man es bemerkte. Ihr schwarzes, mit silbernen Strähnen durchzogenes Haar war nach hinten gekämmt und reichte ihr bis zur Taille. Ihre Haut war geisterhaft weiß, so als bestünde sie aus Licht. Als könnte man, wenn man nur kräftig genug zwinkerte, ihre Knochen sehen.

»Wirst du gut behandelt?«, fragte Rory.

Sie nickte und nahm seine Hände. Ihre Augen strahlten so hell bei seinem Anblick, dass sie ihm Löcher ins Herz bohrten. Sie sagte nichts. Sagte nie etwas. Sie sei schon immer ein stilles Mädchen gewesen, hatte Granny ihm erzählt, das in seiner eigenen Welt lebte. Verrückt, wie manche behauptet hatten. Sonderlich. Dann kam der Abend, als Gaston ermordet worden war, und sie sprach nie wieder ein Wort. Rory hatte noch nie ihre Stimme gehört. Er kannte ihren Geruch, wie bevorstehender Regen, und die langen, v-förmigen Sehnen, aus denen ihr Hals bestand. Er kannte die winzigen Fältchen von der Größe eines Kolibrikrallenfußes in ihren Augenwinkeln. Er wusste, wie sich ihre Hände anfühlten, so leicht und kühl. Hände, die mit einer Nagelklaue einem Mann ein Auge herausgerissen und den Augapfel anschließend in der Tasche ihres Kleids versteckt hatten.

Sie waren zu dritt gewesen, Night Riders, alle drei mit Sackkapuzen. Es war das Jahr 1930 gewesen. Die Männer hatten sie mit dem Sohn eines Fabrikbesitzers in einer leeren Hütte am Fluss erwischt. Der Ort war aufgegeben worden, dazu bestimmt, überschwemmt zu werden, wenn das Wasser stieg. Sie prügelten den Jungen mit Axtstielen zu Tode, aber sie wehrte sich, fand eine Nagelklaue in einem Haufen Werkzeug, gespalten wie eine Zunge. Sie teilte aus, so gut sie konnte.

Und erbeutete ein Auge.

Keiner von ihnen wurde je erwischt.

Der Junge, den sie totgeschlagen hatten, hieß Connor Gaston. Er sei ein seltsamer Kerl gewesen, sagten die Leute. Aber klug. Er hatte Vögel gemocht, Violine gespielt. Sein Vater leitete die Strumpffabrik am Ort. Ein Junge mit beträchtlichen Privilegien, wohingegen sie die Tochter einer Prostituierten war. Wahrscheinlich war sie selbst eine, hieß es. Lebte sie nicht in einem Hurenhaus? War sie bei den Blicken und dem Aussehen nicht schon volljährig? Hatte sie den Jungen nicht dorthin gelockt, damit er zusammengeschlagen und ausgeraubt wurde?

Sie lehnte es ab, sich zu verteidigen. Ein paar behaupteten, ein kräftiger Schlag auf den Kopf hätte sie verstummen lassen. Andere meinten, es sei Gott gewesen. Die Ärzte waren sich nicht sicher. Sie schien mit einem Bein in einer anderen Welt zu stehen. Sie hatte die Schwelle zum Tod teilweise überschritten. Die Gastons wollten nichts mit ihr zu tun haben, begraben und vergessen. Dieser Schandfleck auf dem Namen ihres Sohnes. Der Richter hatte sie für geistesgestört erklärt und sie dem Staat übergeben. Ihr Bauch war bereits zu sehen gewesen, als man sie fortgebracht hatte. Rory kam im Krankenhaus von Dix Hill zur Welt. Die Gastons waren verschwunden – hatten ihre Sachen gepackt und waren nach Connecticut zurückgekehrt, ohne Nachsendeanschrift.

Rory und seine Mutter saßen lange Zeit am Tisch und hielten Händchen. Rory stellte ihr Fragen, und sie nickte oder schüttelte den Kopf, als wäre sie zum Sprechen zu schüchtern.

»Irgendwelche neuen Bilder?«

Sie nickte und nahm den Notizblock von ihrem Schoß. Es waren hauptsächlich Vögel, Schornsteinsegler und Raubwürger und Rauchschwalben. Spechtmeisen, bläulich mit rotem Bauch, und eisengraue Goldhähnchen mit rubinrotem Scheitel. Carolinazaunkönige, haselnussbraun mit weißen Streifen über den Augen, rotschwarze Stare, die weiß gesprenkelt waren. Walddrosseln mit zimtfarbenen Schwingen, die helle Brust braun gesprenkelt, und Seidenschwänze mit zitronenfarbener Brust und einer schwarzen Maske über den Augen. Rotkardinale, mit einer hohen Haube auf dem Kopf, und rotschwänzige Habichte, die todbringend über der Erde kreisten.

Sie waren nicht wie die Druckgrafiken an den Wänden. Diese Vögel waren wie aufs Papier geworfen, jede Kreatur kantig und ungestüm und leuchtend, die Flügel ein geisterhafter Anklang an Flugbewegungen. Sie waren mit Wasserfarben gemalt, ein wenig durchscheinend, so als hätte sie nicht den Körper, sondern den Geist des Vogels aufs Papier gebracht, jede Feder wie eine züngelnde Flamme. Es waren seltsame Feuer, die grün und violett, rostfarben und königsblau brannten. Rory wusste, dass Adler mehr Farben sehen konnten als Menschen. Sie sahen ultraviolettes Licht, das von Schmetterlingsflügeln abgestrahlt wurde, und Spuren von Urin ihrer Beute, erkannten die wachsartige Schicht auf Beeren und Früchten. Manchmal fragte er sich, ob seine Mutter auch so war, ob sie die Welt in Schattierungen unterteilte, die andere nicht sehen konnten. Ob das Kreisen und Gleiten eines Vogelflugs für sie eine Figur bildeten, ein in einer fremden Sprache hingekritzeltes Gedicht, das die anderen nicht kannten.

Sein Herz wurde wie immer schwer. Tränen traten ihm in die Augen.

»Sie sind wunderschön«, sagte er.

Wie immer gab sie ihm eins mit. Diesmal war es ein Papagei, lindgrün mit roten Punkten um die Augen. Er würde es in seinem Zimmer an die Wand hängen, ein neues Mitglied in seinem voller werdenden Vogelhaus, das ihm Gesellschaft leistete.

Es war später Nachmittag, als sie sich wieder auf den Heimweg machten. Rory zündete sich eine Zigarette an, Granny ihre Pfeife. Ihr Rauch zerstob im Fahrtwind. Sie fuhren an Stadtautos in Schwanenweiß oder Flamingorosa, Grasgrün oder Babyblau vorbei – schimmernd wie Kaugummikugeln unter den Bäumen. Sämtliche Gärten waren hübsch gepflegt, in vielen prangten eingepflockte Schilder mit der Aufschrift »We like Ike«. Die Leute, an denen sie vorbeikamen, wirkten seltsam reinlich und frisch und gleichförmig, wie Mitglieder derselben Modellreihe.

Rasch ließen sie die von Eichen beschatteten Straßen hinter sich, und der Verkehr wurde schwächer, löste sich schließlich ganz auf, und das Land begann in sanfte Hügel überzugehen wie ein Meer aus Erde.

Früher hatte Rory Granny immer gebeten, ihm Geschichten über seine Mutter zu erzählen. Darüber, wie wunderschön und gütig sie war. Wie sie einmal Totenwache für einen riesigen Grashüpfer gehalten hatte, den sie sterbend auf der Veranda gefunden und dem sie leise Wiegenlieder gesungen hatte, während er auf dem Rücken gelegen und gestrampelt hatte, grün wie ein Blatt im Frühling. Wie sie ihn mit einem Kreuz aus Streichhölzern hinterm Haus begraben hatte.

»Das Mädchen hatte Engelsblut«, pflegte Granny zu sagen. »Keine Ahnung, woher sie das hatte. Jedenfalls nicht von mir.«

Die alten Geschichten waren wieder und wieder erzählt worden, bis auf eine. Bis auf die Geschichte, die nur seine Mutter erzählen konnte.

Darüber, was wirklich an jenem Abend im Tal passiert war.

Das Land erhob sich vor ihnen, immer zerklüfteter und steiler, und die Berge schwebten wie Rauch über dem Horizont. Howl Mountain war der höchste und steilste unter ihnen. Er erhob sich breitschultrig und gezackt wie der abgebrochene Eckzahn eines Riesentiers. Auf seinem Gipfel schwebte eine mit Tannen und Fichten gesprenkelte Insel, ein Relikt prähistorischer Zeit in großer Höhe. Der Wind peitschte und jagte zwischen den alten immergrünen Bäumen hindurch und pfiff wie eine Turbine, und er tat seltsame Dinge. Es hieß, die Schwerkraft sei auf der Bergspitze aufgehoben und im Herbst würden sich die Blätter wie von selbst vom Boden erheben und säuselnd durch den Wald schweben, als wollten sie zu den Ästen zurückkehren, die sie verlassen hatten.

Rory wusste, dass der Boden dort oben von Blut getränkt war. Widerstandskämpfer aus dem Bürgerkrieg, die Kehle durchgeschnitten oder erschossen oder am Strick baumelnd. Vor ihnen waren es Grenzbewohner gewesen, Siedler in den Bergen mit langen Gewehren, die sich mit den Cherokee bekriegt hatten und mit den Pfeilspitzen aus Feuerstein in ihren Leibern und Musketenkugeln zwischen den Zähnen gestorben waren. Und wer kannte schon die vielen rivalisierenden Stämme aus früheren Jahrhunderten, längst vergessene Blutfehden, lange bevor der erste Weiße aufgetaucht war, die Knochen der Gefallenen, die wie Auszüge aus Geschichten über den Berg verstreut lagen. Manche behaupteten, es wären die Seelen all derer, die sich zu erheben versuchten, welche die toten Blätter aufwirbeln ließen.

Rory dachte an das, was Eustace ihm erzählt hatte, als er klein war, wie die Menschen in den Bergen damit prahlten, einander die Augen auszustechen und die Nasen abzubeißen. Wie sich diese in der Wildnis geborenen Waldbewohner in einem Kreis aus johlendem, wettsüchtigem Volk wiederfanden, ihre langen, gekrümmten Daumennägel über Kerzenflammen gehärtet und mit Öl eingerieben, und wie Davy Crockett sich persönlich einmal damit gebrüstet hatte, einem anderen so leicht, wie man eine Stachelbeere auslöffelt, ein Auge ausgestochen zu haben. Damals gab es keine größere Trophäe, als das Auge eines anderen in seiner Tasche zu haben, dicht gefolgt von einer abgebissenen Nasenspitze. Eine grausame Geschichte, wie alle von Eustace, aber vielleicht deshalb so erzählt, damit der Junge stolz auf das war, was seine Mom in ihrer Bedrängnis getan hatte.

Was er auch war.

Er wünschte nur, es hätte sie nicht ihrer Stimme beraubt, und er fragte sich manchmal, ob mit ihm vielleicht alles in Ordnung war, dass gar nicht das, was er in Korea gesehen und getan hatte, ihn hatte verstummen lassen.

Er blickte zu Granny.

»Stimmt es, dass du das Auge von ’nem verknallten Deputy gestohlen und irgendwo versteckt hast?«

Sie schnaubte.

»Dieses Auge bringt nichts als Ärger, Junge. Manche Dinge lässt man besser ruhen.«

»Ich habe ein Recht darauf, es zu sehen.«

»Na klar. Und ich habe ein Recht darauf, dir zu sagen, dass du mich mal kannst.«

4

Granny May saß in ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda. Die Hügel lagen goldbestäubt von der Herbstsonne da. Bald würden aschehafte violette Flecken auftauchen, die blutigen Stichwunden des Rotahorns. Die Farben würden an Intensität zunehmen, das Gelb sich in flüchtiges Gold verwandeln – die vielen Kronen, die majestätisch und zahlreich zur Sonne zeigten –, bevor die Blätter schließlich braun verfärbt und raschelnd zur Erde fielen.

Das war die beste Jahreszeit für die Wurzelsuche, für das Ausgraben von Rohstoffen, aus denen sie ihre Medizin machte. Die Tees und Tinkturen, Arzneien und Umschläge. Im Sommer brauchten die Pflanzen ihre Energie dafür, Blätter, Blüten und Früchte zu produzieren. Im Herbst versenkten sie ihre Nährstoffe in der Erde, verankerten sich dort, um die harten Wintermonate zu überstehen. Wenn sie durch den Wald ging, war sie von Freunden umgeben. Von Nachbarn. Sie kannte mehr als ihre Namen, kannte die Form ihrer Blätter, winzige Wimpel oder Messer oder Herzen, und die Größe ihrer Knollen, Beeren und Früchte. Sie kannte die dunklen Schluchten, in denen sich manche von ihnen gern versteckten, und die lichten Waldränder, wo sich andere der Sonne entgegenstreckten. Sie kannte den Geruch ihrer Blätter und Wurzeln, rieb sie zwischen den Fingern und schnupperte daran. Es gab Pflanzen, die das Herz oder die Lunge, die Haut, den Darm oder das Blut heilen konnten. Pflanzen, die den Körper reizen oder besänftigen, den Geist anregen oder dämpfen konnten. Es gab Wurzeln, die einem halfen, sich von sich selbst zu lösen oder sich dem Geisterreich zu nähern, und welche, die einen wurzeltief erdeten. Es gab Pflanzen, die töten konnten.

Es gab das Salomonssiegel, das wirbelsäulenförmig in die Erde wuchs, mit perfekten kreisförmigen Wirbeln, für jedes Jahr einen. Es konnte den Magen beruhigen, die Lungen reinigen und eine starke Regelblutung eindämmen. Man konnte es mit der Hand ausreißen. Dann gab es den Sassafrasbaum, dessen Blätter häufig wie Fäustlinge aussahen, den Wasserschierling, der einen grausamen Tod voller Anfälle und Krämpfe verursachte – anders als der Gefleckte Schierling aus Europa, der Philosophen sanft ins Dunkel befördert hatte. Es gab diese und viele andere, ein Wunder an Kräutern und Pflanzen, die über den Berg verstreut und bereit waren, gepflückt zu werden, und dann noch jene, die sie heimlich unter Bäumen züchtete und deren Rauch Schmerzen des Körpers und des Geistes linderte, die Zeit auf Kriechgeschwindigkeit verlangsamte und selbst dem Hartherzigsten ein Kichern entlocken konnte.

An diesem Morgen hatte sie eine siebenblättrige mehrjährige Staude geerntet, die als Hasenklee oder Gemeiner Tarweed bekannt war, wobei sie unter gutem Zureden ihre Pfahlwurzel aus dem feuchten Ufer eines trockenen Flusses ausgegraben hatte, wo ein Bett aus grün bemoosten Steinen den Hang bedeckte. Sie mischte die Wurzel mit Honig und stellte daraus Hustensaft her – um diese Jahreszeit stark nachgefragt – und bewahrte die von Honig umhüllten Wurzelstückchen als Bonbons gegen raue Hälse auf. Sie hatte die feuchte Bergerde von den Wurzeln abgewaschen, und jetzt lagen sie auf einem Holzbrett zum Trocknen in der Sonne, und ihre blassen Arme rollten sich ein wie die Tentakel eines Jungkraken.

Granny lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück, stopfte ihre Pfeife und ließ den Blick über das Hochland, das ihr Zuhause war, gleiten. Ihre Vorfahren waren schon vor langer Zeit in diese Berge gekommen, vor fast zweihundert Jahren. Ihre Familie hatte mit Äxten und Schrotsägen Holz bearbeitet, hatte Hütten nicht größer als Bärenhöhlen gebaut. Sie hatten Hausschweine gezüchtet, die sie frei laufen ließen, damit sie sich an den herabgefallenen Nüssen im Wald satt fraßen, und hatten »Whiskeybäume« – Getreide – angebaut und mit handgemachten Kellen die Maische in riesigen Kupferkesseln umgerührt. Sie hatten in jedem Krieg einer noch jungen Nation gekämpft, sich auf die Seite der Union geschlagen, als der Staat sich abgespaltet hatte, und sie hatten Wurzeln gesammelt und alle Arten von Tieren gejagt, indem sie an den Berghängen gezahnte Fangeisen ausgelegt hatten. Sie hatten getan, was sie konnten, um zu überleben, das Gleiche, was auch sie getan hatte, aber sie waren gestorben wie die Fliegen. Sie waren an Grippe oder im Kindbett gestorben. Sie waren von Totholzästen erschlagen oder von Eseln getreten worden oder hatten sich bei Unfällen mit dem Destilliergerät verbrannt. Ein paar verschwanden in den Wäldern und kehrten nie zurück. Nur wenige starben an Altersschwäche.

Sicher, sie wurde langsam älter. Ihre Schritte waren schwerer als früher, ihre Füße platter, ihre Gelenke bei Wetterumschwüngen empfindlicher. Ihr Haar, das einst schwarz wie eine Krähenschwinge gewesen war – angeblich der Einfluss von Cherokeeblut –, hatte sich zu einem gräulichen Eichenton aufgehellt. Doch ihre hohen Wangenknochen – vielleicht ein weiteres Geschenk ihrer gemischten Herkunft – sanken nicht herab. Und ihr Verstand funktionierte einwandfrei. Zum Teufel mit ihr, wenn sie den je verlieren sollte.

Immer um diese Jahreszeit ertappte sie sich dabei, wie sie an Anson, ihren Mann, dachte, der vor langer Zeit in Frankreich gefallen war. Sie hatte ihn kurz vor dem ersten Frost kennengelernt. Es war eins der Erntedankfeste am westlichen Ende des Countys gewesen, und sie war zusammen mit ein paar Nachbarmädchen hingegangen, wobei einer der älteren Brüder die Kutsche gefahren hatte. Sie war gerade mal vierzehn gewesen. Die Scheune, die im Dunkeln blau wirkte, war im Innern von warmem Licht erfüllt, das wie goldener Whiskey durch Türritzen und kaputte Verkleidung quoll. Fiedler hatten stampfend auf ihren Instrumenten gesägt, ihre Lieder quicklebendig und nur von einer flüchtigen Trauer erfüllt.

Sie trug ein Kleid mit rot-weißem Vichy-Muster, das ihre Mutter ihr genäht hatte, und ihr Haar war schwarz wie die Nacht und mit Nadeln hochgesteckt gewesen. Ihre Mutter hatte Stunden damit zugebracht, es hochzustecken, es irgendwie zu befestigen – eine Frau, die ihr Haar höchstens zu einem Dutt gebunden getragen hatte. Jetzt, nach Jahren, wusste Granny, weshalb. Damals war sie zur Frau geworden, ihre Brüste waren angeschwollen und zwischen ihren Schenkeln schimmernde schwarze Locken gesprossen. Ihre Regel hatte eingesetzt. Und ihr Vater, diese nichtsnutzige Ausgeburt einer alten, hartgesottenen Linie von Bergbewohnern, hatte sie, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte, merkwürdig angesehen. Ihre Mutter wollte sie aus dem Haus haben. Wollte, dass ihre Tochter einen Mann fand.

Es gab Jungs, die draußen vor der Scheune im Dunkeln auf Nagelfässern lümmelten, während sie an etwas nippten, das sie zum Kichern brachte, das sie aber versteckten. Eustace Uptree war der Stärkste von ihnen. Der Anführer. Sie hatte ihm keine Beachtung geschenkt. Keinem von ihnen. Anson gehörte nicht dazu. Sie kannte ihn bereits von einer Tanzveranstaltung im Sommer, und sie hielt Ausschau nach ihm.

Er tanzte so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Wie sie es sich erhofft hatte. Er war in ihrem Alter, schmal gebaut, aber groß, mit langen Beinen in eng geschnittenen Hosen und glänzenden Stiefeln. Er trug ein Hemd aus Chambray, das bis zum Hals zugeknöpft war, und seine hellen Haare in einem saloppen Wuschel. Er hatte ein breites Lächeln aufgesetzt, das er die ganze Zeit beibehielt. Die Tanzenden drehten sich in einem einzigen großen Kreis und hielten sich dabei an den Händen, teilten sich dann in vier Gruppen zu jeweils vier auf, wobei sie sich immer weiter drehten, und Anson gab in den Armen seiner Partnerinnen Eulenschreie von sich, während er seine langen Beine beugte und spreizte, mit den Hackeneisen auf den Dielenboden stampfte und sein Lächeln so breit wie ein quer liegender Halbmond war.

Nachdem das Lied vorbei war, ging sie geradewegs zu ihm hin. Sie kannte keine Angst, außerdem war sie die Hübscheste von allen. Er blickte lächelnd zu ihr hinunter.

»Kenne ich dich?«, fragte er.

»Nein.« Sie legte den Kopf schräg und zeigte ihre gebogene Halslinie. »Aber das solltest du.«

Sein Lächeln wurde noch breiter, falls das überhaupt möglich war.

Himmel, konnte sie tanzen. Die ganze Nacht, wenn sie wollte, und das taten sie auch. Die Musik setzte ihre Füße in Bewegung und brachte ihre Augen zum Strahlen. Seine ebenfalls, und seine Hände waren groß und trocken und warm, sein Körper stark und straff, als er sie berührte. Danach traten sie hinaus unter den Klingenmond, um im Schutz der Scheune zu schmusen. Ihr Blut wallte heiß. Sie wollte ihn erklettern wie einen Baum und sich in seinen Ästen wiegen.

Als andere Paare herauskamen, um das Gleiche zu tun, zogen sie sich in den Wald zurück. Der Boden war kalt, aber das kümmerte sie nicht. Es war ihr erstes Mal. Er war wie ein Pfannengriff. Er biss sie ins Ohr, als er in sie hineinstieß, und er fühlte sich an wie etwas, das man rot glühend aus den Kohlen geholt hatte. Es tat weh und gleichzeitig nicht. Ein Jahr später waren sie verheiratet, und Bonni war unterwegs, und dann wurde er gemeinsam mit den anderen Jungs nach Frankreich geschickt und in einer Kiste aus Fichtenholz wieder zurückgebracht. Es gab nicht viele Möglichkeiten, sich als Alleinstehende in den Bergen den Lebensunterhalt zu verdienen, und sie hatte für ihre Tochter getan, was sie tun musste. War in eins der Bordelle in Boone und dann ins Vorland nach Gumtree gezogen, als Firmen aus dem Norden damit anfingen, ihre Textil- und Möbelfabriken zu bauen und billige Arbeitskräfte aus den Bergen anlockten. Es gab eine Menge einsamer Männer mit ein bisschen Bargeld in der Tasche.

Sie seufzte. Diese Zeit hatte ihr nicht so sehr missfallen, wie sie es hätte sollen. Einen dicken Packen Bargeld in der Tasche und ein scharfes Rasiermesser zwischen den Brüsten. Und eine Schlange mit Männern, die beim Anblick ihres weichen Körpers hart wurden. Dann war das mit Bonni passiert, weshalb sie der Welt außerhalb der Berge ein für alle Mal abgeschworen hatte. Manchmal fragte sie sich, wie sie ein so wunderschönes und gütiges Geschöpf hatte zur Welt bringen können. So voller Licht. Warum es ihr nicht gelungen war, dieses Geschöpf vor den Übeln der Welt dort unten zu beschützen. Sie hatte die Männer nie gefunden, die es getan hatten, hatte sie nicht mit ihren Kehlen oder Herzen dafür bezahlen lassen. Seit damals war ihre Welt aus dem Lot und glich einem eiernden Kreisel. Trotz weiblicher Waffen und Zauberkräfte war es ihr nicht gelungen, die Balance wiederherzustellen. Und jetzt war ihr Enkel mit dem Krieg im Blut nach Hause gekommen, und sie fragte sich, wohin ihn das womöglich trieb. Auf welche Straßen, die längst in der Flut versunken waren. Sie fragte sich, welche Schmerzen und welche Schuld womöglich kommen würden und sich heimlich in seinem Herzen einnisteten. Sie kannte sie nur zu gut.

Granny schüttelte den Kopf, während sie fest an ihrer Pfeife zog und ihre Lungen mit Rauch füllte, um anschließend den blauen Schwall gemeinsam mit den Sorgen auszustoßen. Die Medizin tat ihre Wirkung, und sie ließ sich in den Schaukelstuhl zurücksinken. Die steifen Spindelstäbe im Rücken, die Füße schwer auf den harten Bodendielen. Der Berg, unerschütterlich wie eine Armee hinter ihr. Sie war hier. Jetzt. Sie war Blut und Knochen.

Sie beobachtete eine Wolfsspinne dabei, wie sie durch einen schrägen Lichtstreifen am Rand der Veranda kroch, und sie konnte beinahe das leise Kratzen ihrer Beine auf den Dielen hören. Sie hörte das Flattern von Moorhühnern, von irgendeinem Jäger aufgeschreckt, deren Flügel knatterten, als sie sich im Schwarm von den Bäumen erhoben. Ganz in ihrer Nähe sangen leise die Flaschen an den Zweigen der goldenen Kastanie, eine wandernde Lichtkaskade, während die Brise sie in Schwingungen versetzte. Darunter kauerte das alte Schmugglercoupé, das mit seiner geöffneten Motorhaube, die einem riesigen Maul glich, böse und gemein aussah. Das große Herz des Wagens glänzte in der Sonne, voller Kammern und Ventile.

Die Jungs kletterten zwischendurch auf das Auto, ohne Hemd und bis zu den Ellbogen voller Schmiere und Öl. Lappen hingen ihnen aus den Gesäßtaschen, und Schraubenschlüssel waren in die Schlaufen ihrer Jeans eingehängt. Wenn sie atmeten, zogen sich ihre Bäuche zu einem Muster aus winkligen Flächen zusammen, und ihre Haut glänzte in der sinkenden Sonne.

Gütiger Himmel, wenn sie doch nur zwanzig Jahre jünger wäre.

Eli hatte sich zu Rory über den Ford gebeugt. Er trug einen langen Bart, der buschig war wie der Schwanz eines Eichhörnchens und ein Eigenleben zu führen schien. In der Hand hielt er einen Flachmann mit etwas, das aussah wie Wasser, aber keins war.

»Deine Großmutter hat mich schon wieder angeglotzt«, sagte er. Er blickte über die Schulter und leckte sich die Lippen. »Das ist nicht gesund.«

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