Kitabı oku: «Maybelline», sayfa 4

Yazı tipi:

6

Die Jungs waren verschwunden, zusammen mit ihrem Anführer, der jammernd auf dem Rücksitz einer verrosteten Limousine gekauert hatte. Rory hatte die anderen aus dem Dunkel zurückgerufen und ihnen erklärt, wie sie das Bein des Jungen bandagieren mussten, und den Weg zum Tierarzt beschrieben, der ein Säufer war und die nächtlichen Opfer von End-of-the-Road versorgte. Er hatte sogar die zwanzig Dollar gezückt, die sie brauchten, damit der Mann die Tür aufmachte. Die Gesichter der Jungen waren blass gewesen. Sie hatten sich unablässig bei ihm bedankt. Schließlich waren sie mit knatterndem Auspuff zwischen den Bäumen hindurch davongebraust.

Erst nachdem sie verschwunden waren, bemerkte Rory, dass sie – oder jemand anders – seine Reifen aufgeschlitzt hatten. Er stieß einen mit dem Zeh an, als würde er sich davon wieder auffüllen.

»Mist.«

Er ging zur Tür des Hurenhauses. Verriegelt. Niemand kam, als er dagegenschlug. Er fragte sich, was in dem Drink gewesen war, den sie ihm hatten geben wollen. Er blickte über die Straße: eine alte Sinclair-Tankstelle, die schon seit Jahren geschlossen war. Die Fenster waren mit Zeitungspapier zugeklebt, weshalb man nicht hineinsehen konnte. Die grünen Sinclair-Dinosaurier auf den Schildern sahen aus, als würden sie zerlaufen. Ein kleiner Bau, der normalerweise dunkel war, wo heute Abend jedoch die Fenster pulsierten und Schatten sich hinter dem angestrahlten Zeitungspapier bewegten. Die Luft bebte vom Klang der Musik.

Er ging darauf zu. Zwei Zapfsäulen standen davor, schwerkraftgetrieben, jede mit einer Glaskugel obendrauf. Die eine war kaputt, war nur noch eine Schale mit gezackter Kante. Die andere war mit brauner Flüssigkeit gefüllt. Regenwasser vielleicht. Kein Whiskey. Dann hätte ihn schon jemand getrunken.

Er überquerte die Straße, wobei der Kies unter seinen Stiefeln knirschte. Die Werkstatttore waren geschlossen, und die papierverklebten Fenster leuchteten. Schatten fielen auf die Lichtstreifen, hoben und senkten sich, taumelten und wankten wie züngelnde Flammen. Die Luft summte und knisterte. Etwas Wildes, Verstörtes lag darin. Etwas Elektrisches. Gedämpfte Tamburine und eine jaulende Stahlsaitengitarre durchdrangen die Luft. Stark vibrierendes Metall und kreischende Saiten, ein Jaulen und Lärmen, als würde das Ende der Welt verkündet, jedoch lebendig und die Fersen beflügelnd. Er konnte beinahe sehen, wie die Musik sich in wild zuckenden weißen und goldenen Blitzen entlud, als er sich dem Ort näherte, und Worte gab es auch, geheult, gekreischt und gesungen. Ein paar kannte er, andere nicht, ein paar waren in einer fremden Sprache. Trotzdem wusste er, was sie bedeuteten. Wovon sie erfüllt waren.

Von Lobpreisung.

»Das hier ist wahr!« Die Haare des Priesters waren mit Gel zu einem Ducktail zurückgestrichen, und sie waren rabenschwarz, obwohl sein Gesicht alt war, und er trug eine Schnürsenkelkrawatte und ein gebügeltes Button-down-Hemd mit kurzen Ärmeln. Er hielt das Buch der Bücher hoch über seinen Kopf. Die Seiten waren zerfleddert und die Buchdeckel voller Flecken. »Es ist das Wort Gottes, und ein anderes darf es nicht geben.«

Amen.

»Wer auch immer den Namen des Herrn anruft, soll gerettet werden.«

Amen.

»Aber wir leben in einer viel zu stummen Welt, nicht wahr? Einer Welt voller närrischem Geschwätz, jedoch ohne etwas zu sagen. Ohne Seinen Namen. Das, meine Freunde, das ist die eigentliche Stille des Todes.«

Ja, das ist sie.

»Der spirituelle Tod!«

Ja.

Er wedelte mit dem Buch der Bücher hoch über seinem Kopf.

»Wo das rettende Wort doch hier ist, meine Freunde! Genau hier!«

Hallelujah.

»In der letzten Stunde wird Er die Spreu vom Weizen trennen. Die Bäuche der Nationen werden weit offen sein, und die Reuelosen werden von einer Feuersbrunst verschlungen.«

Ja, das werden sie.

»Und das sehr bald, Freunde. Sehr bald! Es ist beinahe zweitausend Jahre her. Seine Zeit ist gekommen. Das Ende. Lassen wir die Welt zu Asche werden, lassen wir Atompilze sprießen, die die Sonne verdunkeln. In dieser Dunkelheit werden wir gerettet werden.«

Ja, das werden wir.

»Denn wir haben das Wort. Und wir rufen es, nicht wahr, meine Freunde?«

Ja, das tun wir.

»Wir rufen Ihn an! Hier am dunkelsten Ort am Fuß dieser Berge. Hier in diesem Sündenpfuhl. Rufen wir Seinen Namen!«

Ja, Bruder.

»Nicht nur für uns, sondern damit alle durch Ihn gerettet werden.«

Amen.

Der Priester schlug einem Mann mit Gitarre auf die Schulter.

»Lasst uns singen!«

Die Gitarre war an eine Holzkiste mit gewebter Front angeschlossen, und die Saiten knisterten im elektrischen Licht der kleinen Werkstatt blechern und fremdartig, während der Verstärker brummte. Rory spähte mit einem Auge durch den Türspalt. Die Leute kreischten und tanzten jetzt. Rasselnde Tamburine, die gegen Handballen geschlagen wurden. Sie waren schweißüberströmt, ihre Münder aufgerissen, erfüllt von rauem Stöhnen und Keuchen.

Sie wirbelten herum und stampften, die Arme wie Kandelaber in die Luft gereckt, die Hände hohl, als hielten sie darin Weihwasser oder Feuer. Doch es war eigentlich das Mädchen, von dem er den Blick nicht abwenden konnte. Sie hatte milchweiße, glatte Haut und dunkles Haar, das bis auf den Pony in ihrer Stirn über ihre Schultern wallte. Ihr Gesicht war irgendwie schmerzverzerrt, als würde sie großes Leid durchleben, als würde sich ein Messer in ihre empfindlichsten Stellen bohren. Sie stand ganz vorn, die Augen konzentriert zusammengekniffen, und hatte die Arme zitternd von sich gestreckt, so als hielte sie einen großen Stein in ihren Armbeugen.

Auf einmal schlug sie die Augen auf, die grün wie Juwelen waren, und sah ihn direkt an.

Rory wich zurück, als hätte ihn ein elektrischer Schlag getroffen. Er stolperte über einen alten Reifen, der hinter der Kasse lehnte, und knallte gegen einen Klappstuhl aus Metall, hüpfte auf seinem gesunden Bein hinaus auf die Rampe und erwartete, dass ihm die Meute folgte. Er humpelte hastig zwischen den beiden Zapfsäulen hindurch und über die Straße, wobei ihm sein Schatten auf der geriffelten Wand des Hurenhauses folgte und sich wie ein gejagter Kobold krümmte und zuckte. Er erreichte den Wagen, lehnte sich keuchend und mit pochendem Stumpf und geballten Fäusten an die Tür und wartete darauf, dass sie mit Knüppeln, Kanthölzern und Axtgriffen aus der Dunkelheit auftauchten.

Doch niemand kam.

Die Morgendämmerung kroch blass hinter den schräg stehenden Bäumen, windschiefen Spelunken und herrenlosen Fahrzeugen in Vorgärten und auf Parkplätzen herauf. Rory öffnete klackend die Fahrertür. Es war ruhig, niemand zu sehen. Er stieg aus, streckte sich und pinkelte ins Gras, wobei er die Stirn gegen das Dach des Fords stützte. Er hatte unruhig auf der Vorderbank des Wagens geschlafen, war immer wieder aufgewacht, überrascht, nicht einen Haufen Gesichter zu sehen, die sich wutverzerrt gegen das Glas pressten.

Er knöpfte seine Hose zu und machte sich auf den langen Marsch in die Stadt. Die Tankstelle hinter ihm war jetzt dunkel und mit einem Vorhängeschloss zugesperrt. Eine leere Hülle. End-of-the-Road war im Tageslicht ein seltsamer Ort, an dem die nächtlichen Sünden wie bei Ebbe zum Vorschein kamen. Entlang der gesamten Straße lagen die Opfer zusammengerollt auf Rücksitzen oder lehnten mit geöffneten Mündern, deren Atem kleine Wolken an den Fenstern bildeten, an Seitenscheiben. Sie waren eingeschlafen, während sie nach ihrem Schlüssel, dem Anlasser, dem Schalthebel oder dem Innenbeleuchtungsknopf getastet hatten, sich ihre Augenlider in Zeitlupe bewegt hatten, ihre Körper sich schwer anfühlten, als wären sie auf dem Meeresgrund. Im wuchernden Gras lagen leere Flaschen, und auf der Straße schimmerten Glasscherben. Ein einzelner Stiefel lag wie ein totgefahrenes Tier da. Fetzen aus Kattun oder von Kleidern mit Karomuster, heruntergerissen vor Zorn oder Lust. Fußabdrücke auf Autoscheiben, Kondome, die wie blasse, platte Würmer auf der Straße lagen. In der Sonne getrocknetes Blut, das Ergebnis von Fäusten oder Messern. Letzte Nacht sogar ein Gewehr.

Sein ungleichmäßiger Rhythmus erklang synkopisch auf dem Asphalt, und sein Stumpf schmerzte bei jedem Schritt. Er hatte eine spezielle Socke, die er tragen sollte, um Hautscheuern und eine Follikelentzündung zu verhindern, aber das tat er nie. Binnen Kurzem konnte er spüren, wie die Haut unter den Schnallen und Riemen heftig brannte, wie die hervortretenden Haarfollikel zu kleinen roten Hügeln anschwollen, die juckten. Darunter lag ein tieferer Schmerz. Zu viel Druck auf dem verbliebenen Knochen und Gewebe, während der Stumpf sich verdunkelte wie eine angeschlagene Frucht, wie etwas von der aussortierten, verdorbenen Ware eines Lebensmittelhändlers.

Ein Stück weiter oben bog ein Truck auf die Straße ein, ein Halbtonner, der von einer Rostschicht überzogen war. Rory winkte und streckte den Daumen raus. Es war eine Weiße, die über und über mit Sommersprossen bedeckt war. Sie hielt am Straßenrand und winkte ihn heran. Rory humpelte um die Vorderseite herum und stieg ein, wobei er die Tür dreimal zuschlagen musste, bevor sie schloss.

»Dankeschön«, sagte er.

Sie hatte ein rundes Gesicht und dicke Arme, die von rosafarbenen und weißen Narben übersät waren. Bei einem Faustkampf mit einem der älteren Sergeants aus dem Marine Corps, die er kannte, hätte Rory nicht gegen sie gewettet. Sie legte den Gang ein, wobei auf der Rückseite ihres Arms ein wulstiger Muskel hervortrat. Die Schaltung krachte, doch der Gang war drin, und der Truck machte einen Satz auf die Straße und ratterte unter den Eichen entlang, als würde er gleich auseinanderfallen. Die Reifen sprangen aus der Spur, und sein Taxi kam zum Stillstand wie ein gestürzter Büffel. Rory blickte sie an. Wenn der Truck schlau war, würde er sich selbst zusammenhalten.

»Wohin wollen Sie?«

»Zu einer Werkstatt in der Stadt. Ich brauche ein paar Reifen.«

»Mehr als einen?«

»Vier.«

Sie pfiff. »Sie hab’n wohl jemanden geärgert. Freundin?«

»Schön wär’s.«

Sie grinste, ihre Zähne waren dunkel.

»Bei ’nem Kerl wie Ihnen müssten sie Ihnen jeden Abend den Wagen mit dem Schlüssel zerkratzen.«

Rory blickte durch die Windschutzscheibe und legte den Kopf schräg. Die Sonne stand jetzt kalt und weiß über den Bäumen, und die toten Blätter wirbelten in wilden Schlenkern und Schleifen über die Straße, so als schrieben sie eine Nachricht, die er nicht entziffern konnte.

»Hübsch«, sagte sie.

»Wie bitte?«

»Bäume«, sagte sie. »Alle lieben den Frühling, wenn alles grünt und blüht.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich nicht. Das ist hier unten wie in ’nem verdammten Gefängnis, alles zugewuchert und so voller Pollen, dass man kaum atmen kann. Ich mag’s, wenn sie bunt werden, wenn man weiß, dass bald die klare, kalte Luft kommt.«

»Oh ja«, sagte Rory. »Ich auch. Schade, dass sie nicht länger so bleiben.«

»Dann wär’s nichts Besonderes. Wertvoll ist, was selten ist. Ist die reine Ökonomie, mein Junge.«

»Stimmt wahrscheinlich.«

»Ich weiß, dass es so ist. Hatte einen Jungen in Übersee.« Sie blinzelte und berührte sacht ihre Wimpern. »Jeder Tag, den ich mit ihm hatte, war Gold wert.«

»Mein Bei…«

Sie hob eine riesige Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die Handfläche wirkte wie gebleicht, und die Linien waren rot wie Schnittwunden. Sie nahm die Hand langsam wieder herunter und berührte ihn am Arm.

»Schhh«, flüsterte sie.

Rory spürte, wie seine Augen brannten und sich verschleierten, als hätte sie mit der Berührung und dem Schweigen etwas auf ihn übertragen.

7

Granny saß in ihrem alten Schaukelstuhl, ein schwarzes Garnknäuel im Schoß. Die Sonne stand schon seit einer Stunde über den Bergen im Westen, und sie machte sich langsam Sorgen. Ihr Enkel war noch immer nicht nach Hause gekommen. Sie versuchte, nicht über all das nachzudenken, was passieren konnte. Sie wusste, es unterschied sich nicht sehr von dem, was den Holzfällern widerfuhr. Den zahlreichen mit zerquetschten Gliedmaßen und kaputten Rücken, fehlenden Fingern oder Zehen oder Augen. Auch nicht von dem, was in den Fabriken geschah, den Bränden, die sich durch Baumwollballen fraßen wie Teufelsgeister, die Luft voller Flusen, deretwegen sich die Menschen die Lunge aus dem Leib husteten. Der Tod herrschte über dieser Gegend wie ein eigenes Wesen, Tausende von Splittern und Flusen desselben schrecklichen Geistes, die nach einem Zugang suchten, nach einer Verletzung oder Charakterschwäche. Sobald man sie in sich hatte, wurde man sie nur schwer wieder los.

Sie legte die Nadeln weg und zündete ihre Pfeife an. Der Rauch drang wohltuend in ihre Brust. Eustace war längst weg, war wieder in der Dunkelheit verschwunden, aus der er gekommen war. Er hatte wie stets sein Bestes gegeben. Sie konnte nicht behaupten, er hätte es nicht versucht. Rotgesichtig, schwitzend. Mit knirschenden Zähnen. Was für eine Anstrengung. Aber es gab eins, was sie im Laufe der Jahre gelernt hatte: Ein paar hatten Talent dazu und andere nicht. Sein gewaltiger Bauch war jedenfalls keine Hilfe. Er erschwerte es, den richtigen Winkel zu finden. Je älter und runder er wurde, desto schwieriger war es.

Wenn jemand das wusste, dann sie. Sie beide waren schon seit etlichen Jahren zugange, seit Rory auf der Welt war. Eustace war ohne einen Kratzer aus Frankreich zurückgekommen, keinen sichtbaren jedenfalls, anders als Anson, der in einer Kiste heimgekehrt war. Sie hatte deswegen stets einen Groll gegen Eustace gehegt. In den Nachkriegsjahren erwarb er sich rasch den Ruf, dem Whiskey zugeneigt und ein harter Hund zu sein. Er hatte mit seinen Vorschlaghämmern ähnelnden Fäusten die Kiefer loser Mäuler gebrochen und war von Steuerfahndern durch die Hügel gejagt und nie erwischt worden. Er hatte sich eine Armee von Schnapsbrennern aufgebaut. Aber er war nie grob mit ihr, nicht einmal in betrunkenem Zustand. Er sorgte dafür, dass ausreichend Brennholz ums Haus herum gestapelt und Whiskey im Krug war. Er hielt eine schützende Hand über ihren Enkel und gab ihm Arbeit und einen Lohn, den kein anderer Krüppel bekam. Und eine alte Frau hatte Bedürfnisse. Nein, es war nicht Eustace’ Schuld, dass er Glück gehabt hatte. Nur wünschte sie sich, er wäre mit bestimmten Dingen etwas mehr gesegnet. Mit Talent und mindestens einer anderen Sache noch.

Und dann sein Neffe: Eli. Sie wunderte sich darüber. Kein Gramm Fett am Leib – nichts als Haut und Knochen. Kaum Muskeln, aber was er hatte, konnte sich sehen lassen. Sie bemerkte manchmal seine Blicke, wenn er einen in der Krone hatte. Natürlich war das verrucht. Aber das hatte sie noch nie abgehalten.

Sie hörte den Ford, bevor sie ihn sah. Der starke Motor kam dröhnend den Berg herauf, wie eine neue Züchtung von Höllenhunden, dazu ausersehen, alte Frauen auf ihrer Veranda in Angst und Schrecken zu versetzen. Als er in der Auffahrt erschien und holpernd die Spurrillen entlangfuhr, gab sie einen erstickten Laut von sich und blinzelte in die Sonne.

Halb zwölf, wenn sie sich nicht täuschte.

Was nur selten geschah.

Rory hielt unter der Kastanie, stellte den Motor ab und stieg aus. Sie sah ihm dabei zu, wie er die Veranda heraufhumpelte, den Mantel an zwei Fingern über der Schulter. Sie saugte an ihren Zähnen.

»Die Schweine haben Hunger.«

»Ja, Ma’am.«

»Die Hühner auch.«

»Es ging nicht früher.«

Sie drehte den Kopf und spuckte auf die Dielen.

»Du bist doch kein Geist, oder?«

»Nein, Ma’am.«

»Bist nicht mit dem Messer angegriffen oder angeschossen worden?«

»Nein.«

»Bist auch nicht verliebt?«

Er zögerte. Ihre Augen wurden schmal, als sie ihn anblickte.

»Irgend so ’n Flittchen aus der Stadt? Wie heißt sie?«

»Das war’s nicht«, erwiderte er. »Es war bloß Ärger mit dem Auto.«

Sie schnaubte. »Warst wohl eher hinter ’nem Rock her.«

»Ich war in einer Kirche, damit du’s weißt. Du weißt nicht, wo sie ist.«

»Verdammt«, sagte sie. »In den Klamotten? Das muss ja ’ne tolle Kirche sein.«

Er sagte nichts.

»Ich hab dir von der Tochter des Priesters erzählt …«

»Herrgott noch mal!« Er trat gegen die Tür. »Ich will meine Ruhe.«

»Rory

Er blieb stehen, eine Hand an der Tür. Sie reckte ihm das Kinn entgegen. Er nahm einen tiefen Atemzug und stieß die Luft hörbar durch die Nase aus, beugte sich dann hinunter und küsste sie auf die Wange. »Hast du trotzdem eine gute Nacht verbracht?«

»Ich hatte schon bessere.«

»Mit Eustace?«

»Mit einem Maiskolben.«

Er schnellte herum, Mund und Augen weit aufgerissen.

»Herrgott, Granny.«

Granny zuckte mit den Achseln und hielt ihre gelbe Maiskolbenpfeife hoch – nur eine unschuldige alte Frau in einem Schaukelstuhl. »Was ist?«

»Unfassbar«, sagte er und stieß die Tür auf. Von drinnen rief er noch lauter: »Einfach unfassbar!«

Granny klopfte mit der Pfeife gegen ihren Handballen und gluckste vor sich hin.

In der Abenddämmerung richtete er sich in seinem knarrenden Bett auf und rutschte an die Kante. Er zog die Hosen über seine nackten weißen Beine und schob sich nacheinander die Hosenträger auf die Schultern. Dann hob er das Holzbein vom Boden auf und legte es in seine Arme. Der kleine Colt Automatik passte perfekt in die Vertiefung wie ein Organ, das an seinen Platz zurückgelegt worden war. Er steckte seinen Stumpf in das hohle Ende, das sein Knie umschloss, zog die Lederriemen und Schnallen straff, die sein Fleisch einschnürten, und stand in dem dämmrigen Raum auf. Die Schlieren und Kratzer auf dem Fensterglas hoben sich vom verlöschenden Tageslicht ab. Die Bilder seiner Mutter wellten sich leicht an den Rändern, als wollten sich die Vögel von der Wand lösen und in die Dunkelheit eintauchen.

Das ganze Haus schien unter ihm zu zittern, als er sich bewegte, so als hätte er in Übersee fünfzig Kilo zugenommen. Die Porzellanteller an den Wänden klapperten; die gerahmten Fotografien seiner Mutter und seines Großvaters auf dem Kaminsims wackelten. Er steckte seinen Kopf in die Küche und teilte Granny mit, dass er runter zu Eli fahren würde. Sein Stumpf war noch immer wund. Auf halbem Weg zum Wagen beschloss er, zu Fuß zu gehen. Aus Ärger vielleicht oder zur Strafe.

Am Himmel, der einer violetten Kuppel glich, waren die ersten Fledermäuse unterwegs, die im verlöschenden Licht mit sichelartigen Flügeln ihre kleinen Einsätze flogen, und er ging über die sich rotblau verfärbende Wiese, während er ihnen dabei zusah, wie sie umherschossen und ihre krummen Flugbahnen flüchtig an den Himmel schrieben. Er nahm die Pfade seiner Jugend, während seiner Abwesenheit von grauen Wildrudeln genutzt, einer fast fließenden Kraft, die durch die Wälder sprang, und von herumstreifenden Schwarzbären und der einzig verbliebenen Raubkatze, die noch in den Bergen lebte, alle paar Jahre auf das Dach einer Hütte kletterte und wie eine zornige Frau jaulte. Er war umgeben von Bäumen, die sich ans letzte Tageslicht klammerten, während die welkenden Blätter in ihrer alten Sprache flüsterten.

Als kleiner Junge, im Alter von sieben oder acht, war er so zu Eli gelangt, damit dieser ihn auf die Jagd mitnahm. Er hatte sich seine einschüssige Eichhörnchenbüchse, ein Geburtstagsgeschenk von Eustace, über die Schulter gehängt, aber Granny hatte ihm gesagt, dass er nicht allein jagen gehen dürfe. Er war oberhalb der Werkstatt von Elis Daddy aus dem Wald gekommen, deren Fensterscheiben in dem Moment blau und weiß leuchteten. Er stand da und sah durch das Glas dabei zu, wie Elis Vater seinem Sohn das Schweißen beibrachte. Der Mann zeigte mal hierhin, mal dorthin, eine Hand auf der Schulter des Jungen, und dann setzten die beiden wie Ritter vor einem Turnier gleichzeitig ihre Schweißmasken auf. Rory sah, wie die kleinen Sonnen im Staccato an der Spitze ihrer Schweißpistolen entstanden.

Bald erkannte er seinen Fehler. Er sah auf einmal kleine Lichtschlangen, die vor Schmerz pulsierten, wenn er die Augen schloss. Bald brannten seine Augen, als hätte ihm irgendein Fiesling Sand hineingerieben, und er konnte vor Schmerz kaum blinzeln. »Verblitzung«, sagte der Arzt. Seine Hornhaut war verbrannt. Zwei Wochen lang musste er Augenklappen tragen und durfte sie nur ganz leicht anheben, um seine Füße zu sehen, wenn er durchs Haus tappte. Zwei Wochen, in denen er Angst hatte, er würde nie mehr richtig sehen und die Eichhörnchen somit vor ihm sicher sein. Seine Sehfähigkeit wäre verloren gewesen wie die Stimme seiner Mutter.

Wie früher trat Rory oberhalb der Werkstatt aus dem Wald. Die Fenster glühten golden in der hereinbrechenden Dunkelheit. Es war im Grunde nur eine alte, verwitterte Scheune, aber Eli hatte eine Betonplatte gegossen, um den abfallenden Boden auszugleichen. Über den schweren Eichentüren auf Laufrollen aus Metall hing ein handgemaltes Schild: HOWL MOTORS. Eli lag auf seinem Rollbrett unter einem 51er Mercury, der goldgelb lackiert war. Nur seine Stiefel schauten heraus. Rory trat gegen den einen.

»Wer ist da?«

»Als hättest du mich nicht kommen hören.«

Eli kam unter dem Wagen hervorgerollt, Hände und Gesicht geschwärzt wie bei einem Bergarbeiter. Mit einem Lappen, der noch schmutziger aussah als der Rest von ihm, wischte er sich das Gesicht ab.

»Gib mir bitte mal die Zigaretten.«

Rory reichte ihm das Päckchen Lucky Strike, das auf einem Stuhl neben ihnen lag, wobei er sich vorher selbst bediente.

»Gern geschehen«, sagte Eli. Er zündete seine an, ohne von dem Rollwagen aufzustehen, legte den Kopf zurück und stieß den Rauch aus. »Hab gehört, du hattest Ärger gestern Abend.«

»Du bist ’n noch größeres Klatschmaul als Granny.«

Eli schnipste Asche aus seinem Bart. Der trockene, wirre Filz war reif für ein Buschfeuer.

»Hier kommen ’ne Menge Autos vorbei, und in jedem sitzt einer mit ’nem losen Mundwerk. Du glaubst also, dass Muldoon dahintersteckt?«

Rory zog den Stuhl heran, wobei die Rollen quietschend über den Boden holperten. Die Hände zwischen den Knien, schnipste er mit dem Daumen Asche von seiner Zigarette.

»Ich glaube nicht, dass sie besonders scharf drauf sind, es zuzugeben.«

»So, wie es gelaufen ist, nicht«, sagte Eli. »Vielleicht hat der Cooley-Junge sie dafür angeheuert.«

»Der scheint ja was ganz Besonderes zu sein.«

»Nicht gerade der Schlaueste«, sagte Eli. »Aber wie ich höre, gleicht der kleine Wichser das mit seiner Bösartigkeit aus. Es heißt, er sei mit acht von einer Mokassinschlange gebissen worden. Ist angeschwollen wie ’n Wetterballon. Seither tickt er nicht mehr ganz richtig. Hat letztes Jahr in Linville einen Jungen getötet, der ihm einen lahmen Coonhound verkauft hat, den er als Zuchthund haben wollte. Hat sich mit Notwehr rausgeredet, aber ich weiß nicht so recht. Es heißt, er hat den Hund von ’ner Brücke geworfen.« Eli nickte, noch immer flach auf dem Rücken liegend, und sah dabei zu, wie der Rauch zur Decke aufstieg. »Mit so jemandem stimmt etwas ganz und gar nicht, und zwar von Geburt an.«

»Ich bin drüben ein paar von der Sorte begegnet.«

Eli rollte auf einem Ellbogen näher heran und sah ihn an. »In Korea?«

Rory nickte.

»Wie war das?«, fragte Eli.

Rory blickte auf die heruntergebrannte Zigarette zwischen seinen Fingern und kaute auf seiner Lippe.

»Es war ein Ort, an dem man die wirklich finsteren Gesellen auf seiner Seite und hinter sich haben wollte. Dort drüben war schlecht gut.«

»Verdammt«, sagte Eli. »Das ist heftig.«

»Ja.«

»Hattest du Angst?«

»Die ganze Zeit.«

Eli nickte.

»Also dieser Cooley-Junge ist keiner, dem man den Rücken zudreht. Fährt den Hudson in der modifizierten Klasse unten auf der Rennstrecke. Macht auch zwei-, dreimal die Woche Fahrten damit. Diese Muldoons sind ganz dicke mit dem Sheriff, seit du weg bist.«

»Was ist mit diesem neuen Steuereintreiber aus Washington?«

Elis Zigarette ragte gerade aus seinem Mund und qualmte wie ein winziger Schornstein.

»Sein Name ist Kingman. Es heißt, er hat ein paar Countys oben in Virginia völlig trockengelegt. Ist nicht zimperlich im Umgang. Soll mal bei der Army gewesen sein. Sondereinheit und so.« Eli schüttelte den Kopf. »Bist in schwierigen Zeiten nach Hause gekommen.«

Rory ließ seine Zigarette auf den Boden fallen und trat sie mit seinem heilen Fuß aus.

»Wenigstens bin ich zu Hause«, sagte er. »Größtenteils jedenfalls.«

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

₺399,34