Kitabı oku: «Der Tote in der Hochzeitstorte», sayfa 2

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TODESSCHATTEN

Rache war ein Motiv, das Leute zu den grausamsten Taten trieb. Die Rachehandlung konnte zu jeder Zeit und auf jede erdenkliche Weise erfolgen.

Auf diese Weise dachte ein Mensch über den Tod nach.

Der Tod würde sich in einem Moment einstellen, in dem keiner mit ihm rechnete. Wie ein Engel mit schwarzen Schwingen würde er dahinfegen und einen leblosen Körper hinterlassen.

Niemand würde das plötzliche und völlig unerwartete Ableben verstehen können. Keiner würde jemals den wahren Grund für den Todesfall erfahren.

Wer überleben will, braucht Ruhe und Klarheit. In diesem Fall schien die einzige Möglichkeit, zu überleben, gleichzeitig der Tod zu sein. Es gab keinen anderen Ausweg.

Der Plan für den Todesfall lauerte auf dem Berg. Viele Vorbereitungen waren dafür nötig. Außerdem Augenzeugen. Das Sterben machte nur Sinn, wenn viele dabei anwesend waren.

Eine Hochzeit im Alpenschlössel erschien als der beste Moment für den Auftritt des Todes.

DIE GÄSTELISTE

»Du hättest sie heute sehen müssen«, rief Axel in der Diele. »Sie haben wirklich alles gegeben. Wir werden die Special Games gewinnen.« Nachdem er seine Jacke aufgehängt und die Sportschuhe weggestellt hatte, stutzte er. Wieso kam ihm niemand entgegen?

»Hallo? Keiner da?«

Axel lauschte in die Stille des Hauses. Was war hier los? Sowohl Lilo als auch Lotta müssten doch zu Hause sein.

Laut rief er noch einmal seine Frage die Treppe hinauf.

»Ich bin hier«, kam es von oben. Am Klang ihrer Stimme konnte Axel erkennen, dass seine Tochter keinen guten Tag hatte. Er lief drei Stufen auf einmal nehmend in den ersten Stock und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer.

Lotta saß am Schreibtisch neben dem Fenster über ein Heft gebeugt und schrieb etwas. Sie sah nicht einmal auf, als er eintrat.

»Ist Lilo nicht zu Hause?«, wollte Axel von ihr wissen.

»Zum Glück nicht.«

»Was soll das denn heißen?«

Als Lotta den Kopf hob, fiel Axel die Veränderung auf. Ihr Haar, das sie bisher zu kleinen Zöpfchen geflochten getragen hatte, war offen und gekraust.

»Schicke Frisur«, sagte er.

»Ich hasse Zöpfe!«

»Seit wann? Gestern haben sie dir noch gefallen.«

»Ich hasse Lilo.«

»Stopp!« Axel trat neben Lotta. »Das reicht. In diesem Haus wird nicht gehasst.«

»Mir egal.«

Axel ließ sich auf Lottas Bettkante sinken, um ihr in die Augen sehen zu können. »Lass mich raten: Lilo hat darauf bestanden, dass du deine Hausaufgaben schreibst. Oder sie hat dir den dritten Pudding aus dem Kühlschrank verweigert. Oder sie hat geschimpft, weil du mit matschigen Schuhen ins Haus gelaufen bist. Also, was war es diesmal?«

Lotta starrte ihn finster an. »Alles drei.«

Auch wenn Axel nicht so gut kombinieren konnte wie Lilo, war die Schlussfolgerung nicht schwierig. »Du bist wütend und hast dir deshalb die Zöpfchen aufgemacht, damit du nicht wie Lilo aussiehst.«

»Ich hasse dich auch«, brummte Lotta.

»Weil ich dich durchschaut habe?«

Er bekam keine Antwort.

»Es ist sehr ärgerlich, wenn Erwachsene ausnahmsweise recht haben, nicht wahr?«

»Ich hasse …«

»Nein, du hasst heute nicht mehr und auch sonst nicht mehr«, fiel ihr Axel ins Wort. »Lotta, reg dich ab. Schreib deine Hausaufgaben, damit deine Lehrerin uns nicht jeden zweiten Tag anruft, weil du sie wieder nicht gebracht hast. Zu viel Pudding macht dick und Lilo ist keine Putzfrau. Daher bleiben die Schuhe, wenn du deine Schlamm-Expedition gemacht hast, in der Garage stehen.«

Von Lotta kam nur ein unverständliches Grummeln.

»Ist Lilo noch einmal weggefahren?«

Axel konnte sich selbst die Antwort auf diese Frage geben. Ihr Geländewagen stand vor dem Haus. Für einen Spaziergang war es zu spät und zu kalt. Also musste Lilo im Haus sein.

»He, Lotta, wo ist Lilo? «

»Sie spinnt heute.«

Normalerweise verlor Axel nur selten die Nerven, aber heute war ein Tag, an dem ihn Lotta wieder einmal aus der Ruhe brachte.

»Das reicht jetzt. So redest du nicht über Lilo! Sie ist wie eine Mutter für dich, wenn nicht noch besser. Sie hatte mit allem recht und ich hätte es genauso gemacht. Wenn du mir keine Antworten geben willst, dann bleib allein in deinem Zimmer. Sobald du mit den Hausaufgaben fertig bist, zeichnest du für Lilo eine Karte zur Entschuldigung.«

Lotta war eine begeisterte und gute Zeichnerin. Axel wollte von ihr eine liebevolle Geste in Lilos Richtung sehen und hielt das für besser als jede Strafe.

Ohne weitere Worte verließ er das Zimmer. Er konnte Lottas Blick im Rücken spüren, kümmerte sich aber nicht darum. Mit Nachdruck schloss er die Zimmertür.

»Lilo? Schatz? Wo bist du?«, rief er den Flur hinunter.

Die Tür zum gemeinsamen Schlafzimmer wurde geöffnet und Lilo trat heraus. »Rufst du schon lange?«

»Eine halbe Stunde«, scherzte Axel.

Lilo lächelte schwach. »Ich habe dich nicht gehört, ich war im Badezimmer.«

»Hast du dich verwöhnt und ein warmes Bad genommen? Erholung von Lottas Frühpubertät?«

»Nein. So schlimm ist das nicht.«

Axel trat zu ihr und wollte sie auf den Mund küssen, aber Lilo drehte den Kopf zur Seite. Sein Kuss ging halb auf ihre Nase. Ein wenig irritiert neigte er sich zurück und sah sie prüfend an. »Stimmt etwas nicht zwischen uns?«

Axel musste an den Sommer des vergangenen Jahres denken. Ihre Beziehung wäre damals beinahe auseinandergegangen. Auch wenn sie sich schließlich wiedergefunden hatten und in Kitzbühel zusammengezogen waren, kämpften sowohl Axel als auch Lilo noch immer mit einer kleinen Unsicherheit bezüglich ihrer Gemeinsamkeiten.

»Nein, nein, alles zu hundert Prozent in Ordnung«, versicherte ihm Lilo. Sie hob entschuldigend die Hand und verschwand wieder im Schlafzimmer. Axel folgte ihr langsam. Er streckte den Kopf durch die Tür, konnte sie aber nicht sehen.

»Lilo?«

»Komme schon.« Sie trat aus dem Bad und kam auf ihn zu. Der frische Geruch von Pfefferminze schlug Axel entgegen und sie küsste ihn. Lilo musste schnell mit Mundwasser gegurgelt haben.

»Mein Team wird immer besser«, begann Axel zu erzählen. »Ich kann die Special Games kaum erwarten.« Nebeneinander gingen sie hinunter in die gemütliche Wohnküche.

»Freut mich sehr für dich.« Lilo öffnete den Kühlschrank und nahm eine flache Backform heraus. »Waren heute alle beim Training?«

»Es fehlt praktisch nie jemand. Sie freuen sich die ganze Woche darauf.« Axel war der Stolz anzumerken. Auf einem Regal an der Wand standen Fotos von Lilo, Lotta und ihm, die die drei auf Urlaub in Teneriffa, beim Skifahren, auf einer Bergtour und auf ihrer Städtereise nach London zeigten. Daneben gab es ein großes Foto von Axel und seinem Team, aufgenommen am Tag, als sie die Landesmeisterschaft im Special Football gewonnen hatten.

Das Team bestand aus Jungen und Mädchen, die alle eine Behinderung hatten. Es gab Kinder mit Downsyndrom, körperlichen Behinderungen, Sehschwächen und Gehörlosigkeit. Axel mochte sie alle und keine andere Tätigkeit in seinem Leben hatte ihn bisher so sehr erfüllt wie das Training mit dieser Gruppe.

Seit die vier Freunde, die in Kindertagen Knickerbocker-Bande genannt wurden, einen riesigen Internetbetrug aufgedeckt hatten, waren sie alle wohlhabend. Ihre Belohnung lag in Millionenhöhe. Keiner der vier hätte noch arbeiten müssen, aber trotzdem taten es alle.

»Ich bin so froh, keine reichen Leute mehr dafür loben zu müssen, dass sie drei Kniebeugen schaffen, nur damit sie sich nach dem Training beruhigt den Bauch vollstopfen und eine halbe Flasche Wein trinken können«, sagte Axel. Er war Personal Trainer gewesen, verwendete seine Kenntnisse nun aber nur noch für sein Spezial-Team und zwei Seniorengruppen in Altenheimen, die für Axels wöchentliche Trainingseinheiten sehr dankbar waren.

Lilo lächelte Axel liebevoll an. »Die größte Freude für mich ist, zu sehen, wie sehr du in deiner Arbeit aufgehst.«

Das traf zu. Axel hob die Alufolie von der Backform ab. »Fischpastete«, erklärte Lilo.

»Hmmm.« Axel leckte sich die Lippen. »Lotta wird aber weniger begeistert sein.«

»Sie bekommt zwei Mini-Pizzas.« Lilo öffnete das Backrohr, wo die Pizzas schon auf dem Blech lagen. Die Fischpastete kam in das zweite Rohr daneben.

Axel schenkte Mineralwasser ein. Für Lilo gab er ein paar Tropfen Rosensirup ins Glas, für sich selbst nahm er Minzblätter und Gurkenstückchen. Sie prosteten einander zu.

Nachdem er getrunken hatte, legte Axel den Kopf schief. Einfühlungsvermögen war keine seiner Stärken. An diesem Abend aber entging ihm nicht, wie verändert Lilo erschien. Er konnte nur nicht genau festmachen, woran es lag.

»Ist mit dir wirklich alles in Ordnung?«, fragte er nach.

Lilo nickte. »Ich habe heute eine Entscheidung getroffen und hoffe, du bist einverstanden.«

»Kein größeres Haus. Dieses hier reicht uns völlig.« Axel deutete um sich. Die Wohnküche allein hatte die Ausmaße einer Junggesellenwohnung.

Lilo und Axel hatten das Haus kurz nach der Fertigstellung günstig erwerben können. Es lag auf einem Berghang, von dem sie einen prachtvollen Blick über die Dächer von Kitzbühel hatten.

»Wir heiraten am 21. November!«, platzte Lilo heraus.

»November?« Axel war anzumerken, dass ihn die Meldung überrumpelte.

»Ja. Genau, wie du es gerne magst: kleiner Rahmen, kleiner Kreis, aber nicht gewöhnlich«, erklärte Lilo schnell.

»Das ist doch schon das übernächste Wochenende«, fiel Axel ein.

»Stimmt. Aber ich will nicht bis zum Frühling warten. Es gibt da Meldungen über ein neues Coronavirus und … und …«, Lilo suchte nach Worten, was ungewöhnlich für sie war.

»Und was?«

Sie lächelte verlegen. »Und ich will dich einfach wirklich gerne endlich heiraten.«

»Können die anderen so kurzfristig? Dominik hat doch Dreharbeiten.«

»Alles schon arrangiert. Alle kommen.«

»Wo werden wir uns das Jawort geben?«

»In 2.800 Meter Höhe in einem Hotel, das Spezialhochzeiten anbietet. Es gefällt dir bestimmt.« Lilo holte ihr iPad und zeigte Axel die Webseite des Hochzeitsschlössels. Er besah sich die Fotos und nickte. »Sieht nicht schlecht aus.«

»Es wird wunderbar werden. Eine Standesbeamtin wird kommen und uns trauen. Zum Glück müssen wir kein neues Aufgebot bestellen, weil unsere andere Hochzeit wegen Corona abgesagt wurde.«

»Ich kenne niemanden, der im November geheiratet hat«, meinte Axel.

»Vielleicht schneit es nächste Woche. Dann wird unsere Hochzeit sicher romantisch.« Lilo strich ihm über die Hand. »Du bist doch einverstanden?«

Axel grinste auf seine jungenhafte Art. »Lilo, habe ich eine andere Wahl?«

Verlegen blickte Lilo zu Boden. »Nein. Eigentlich nicht.«

»Wen laden wir noch ein, außer Poppi und Dominik? Ich nehme an, Poppis Mann Klaus. Und meine Mutter selbstverständlich. Meinen Vater auch, sonst ist er beleidigt.« Axels Eltern waren seit vielen Jahren geschieden und nicht gut aufeinander zu sprechen.

Lilo stand auf und holte ihr Handy. »Dominiks Eltern nicht, weil er das ablehnt. Ich habe ihn gefragt.«

Sie blickten gleichzeitig auf ein Foto im Regal. Es zeigte Lilo mit ihren Eltern und war vor ungefähr zehn Jahren aufgenommen worden. Herr und Frau Schroll lebten beide nicht mehr. Sie waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein betrunkener Fahrer hatte sie gerammt.

Diesmal nahm Axel Lilos Hand. »Sie hätten sich sehr über unsere Hochzeit gefreut.«

Stumm nickend stimmte Lilo zu.

»Sonst noch jemand, den wir einladen?«, fragte Axel, der das Thema wechseln wollte. Die Erinnerung an ihre Eltern machte Lilo immer traurig. »Herrn und Frau Monowitsch vielleicht?«

»Ich habe sie auch auf meiner Liste«, sagte Lilo. Sie beratschlagten über ein paar andere Verwandte, aber beschlossen am Ende, die Gäste auf ihre beiden Freunde und Eltern zu begrenzen.

»Darf ich nicht kommen?« Lotta stand in der Tür und machte ein verlegenes Gesicht.

»Aber Lotta, was ist denn das für eine Frage.« Lilo winkte sie zu sich.

Lotta streckte ihr eine gefaltete Karte hin. Vorne hatte Lotta Berge gezeichnet, eine orangerote Sonne und einen Mann, eine Frau und ein Mädchen, von denen nur die Silhouetten im Gegenlicht zu sehen waren. »Für dich«, sagte sie.

»Danke, mein Schatz.« Lilo nahm die Karte und betrachtete die Zeichnung bewundernd.

»Steht etwas drinnen.« Lotta deutete ihr, die Karte zu öffnen. In krakeliger Handschrift stand hineingeschrieben: »Ich mag dich! Sehr!« Das »sehr« war unterstrichen und daneben noch ein Herz gemalt. Sogar unterschrieben hatte Lotta.

Axel breitete die Arme aus. »Kommt zu mir, meine beiden Herzensdamen.« Er drückte sie und fühlte sich sehr glücklich.

Die Hochzeit in zwei Wochen fand er überstürzt. Er freute sich auch nicht wirklich darauf. Axel wollte Lilo schon lange gerne das Jawort geben, aber Ort und Jahreszeit kamen ihm unpassend vor. Aus langer Erfahrung wusste er allerdings, wie sinnlos es war, Lilo etwas auszureden. Sie war nicht nur das Superhirn der Bande gewesen (und war es wahrscheinlich immer noch), sondern auch der größte Sturkopf, den er kannte.

»Ich muss meinen Anzug probieren«, verkündete er. »Seit wir ihn gekauft haben, habe ich viel Krafttraining gemacht.« Er deutete auf seine muskulösen Oberarme.

»Keine Sorge«, beruhigte ihn Lilo. »Es ist noch genug Zeit, ihn ändern zu lassen.«

FREITAG 13. NOVEMBER

DIE LIEFERUNG

Raoul vertraute auf einen einzigen Menschen und das war er selbst. Er arbeitete allein, er lebte allein und er würde niemals im Leben eine Partnerschaft eingehen, weder beruflich, noch privat.

Er war immer schon so gewesen, sogar als kleines Kind. Im Schulhof war er in den Pausen immer abseitsgestanden. In der Klasse hatte er nichts unversucht gelassen, um allein in einer Bank zu sitzen. Seine freundliche Grundschullehrerin hatte ein Mädchen namens Isobel zu ihm gesetzt, in der Hoffnung, sie könnte ihn ein wenig aus der Reserve locken. Um Isobel loszuwerden, hatte Raoul sie mit frisch gespitzten Bleistiften gestochen, gezwickt und ihre Hefte versteckt. Bald hatte Isobels Mutter darauf bestanden, dass ihre Tochter einen anderen Platz bekam und er hatte wieder den ganzen Tisch für sich allein gehabt.

Das Studium der Pharmazie absolvierte Raoul im Rekordtempo. Auch an der Uni hatte er alle Kontakte vermieden, immer allein gelernt und Gruppenarbeiten, wie sie von einigen Professoren vorgeschlagen wurden, grundsätzlich abgelehnt.

Das Lernen war ihm leichtgefallen und deshalb hatte er nach seinem Master der Pharmazie noch ein Studium der Medizin angehängt. Er promovierte in der Mindestzeit. Die Ausbildung zum Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie machte Raoul an einem darauf spezialisierten Krankenhaus in Chicago. Danach unternahm er mehrere Fortbildungen auf eigene Faust und an Instituten, die unter strengster Geheimhaltung im Verborgenen arbeiteten.

Covid-19 hatte Raoul mit großem Interesse verfolgt. Er hatte mittlerweile sein eigenes kleines Institut, das von ihm allein geführt wurde. Während die meisten Virologen der Welt an einem Medikament und einem Impfstoff arbeiteten, tat Raoul das Gegenteil. Er intensivierte seine Forschungen an neuen Viren, die wie Covid-19 die Welt lahmlegen konnten.

Natürlich wusste er, dass so etwas als »biologischer Kampfstoff« bezeichnet werden konnte. Ihm war auch klar, welche fürchterlichen Folgen ein künstliches Virus haben konnte, wenn es in falsche Hände geriet. Raoul plante weder einen Verkauf noch eine weltweite Erpressung. Wichtig war ihm nur ein Gefühl von Macht. Er wollte spüren, dass er die ganze Erde in der Hand haben konnte.

Seine Experimente waren bisher recht erfolgreich verlaufen. Ebenso die Entwicklung eines Impfstoffes gegen sein Virus. Wenn er es schaffte, seine Forschungen rechtzeitig zu beenden, könnte er sich überlegen, zu einem tödlichen Schlag gegen die Menschheit auszuholen. Die Möglichkeit allein reichte ihm.

Die Pharmazie und die Virologie würden ihm helfen, sich selbst ein Denkmal des Schreckens zu setzen. Auf diese beiden Fachrichtungen führte Raoul es zurück, dass sein Körper im Mutterleib verunstaltet wurde und sein Herz so sehr beschädigt wurde, dass seine Lebenserwartung von Ärzten zuerst auf wenige Jahre geschätzt worden war.

Seine leibliche Mutter hatte ihn deshalb einfach im Krankenhaus gelassen und war verschwunden. Die Pflegefamilie, die ihn aus Mitleid aufgenommen hatte, rechnete es ihrer Fürsorge an, dass er das Erwachsenenalter erreicht hatte und die Ärzte sich eingestehen mussten, eine Fehleinschätzung getroffen zu haben.

Trotzdem wusste Raoul um den Zustand seines Herzens Bescheid. Er könnte sich jederzeit rapide verschlimmern und dann wären seine Tage gezählt.

Jeder Tag war für Raoul kostbar. Da er alleine arbeitete, musste er Teile seiner Forschungen an andere Labore abgeben, um Zeit zu gewinnen. Wie er arbeiteten auch diese Labore nicht immer im Bereich des Legalen.

Diese Subaufträge musste er finanzieren, genauso wie seine Ausrüstung. Er brauchte dafür Millionen und hatte eine Möglichkeit gefunden, dieses Geld auf schnellstem Wege zu verdienen.

Gift war seine Ware. Natürlich handelte es sich nicht um erlaubte Gifte, sondern um jene Arten von Giften, die dringend gewünscht, aber illegal waren: Gifte, die Schädlinge auf Avocadoplantagen in Südamerika vernichteten, Gifte zur Beseitigung von Staren, diesen lästigen Vögeln, die Oliven- und Weintraubenernten vernichteten oder Gifte, die Fischereigebiete zerstörten, ohne nachgewiesen werden zu können. Die Herstellung solcher Substanzen war Raouls Spezialität.

Es erfüllte ihn mit Befriedigung, zu wissen, dass die sprunghafte Preissteigerung bei einigen Meeresfischen auf die Verbreitung von Substanzen aus seinem Labor zurückzuführen war. Es war am Markt bereits zu einer Verknappung von Dorsch und Kabeljau gekommen.

An diesem nebeligen Novembertag lieferte Raoul ein Gift, wie er es noch nie zuvor hergestellt hatte. Es war eine Premiere, eine neue Herausforderung, wie er sie schätzte. Das Gift war für einen Selbstmord bestimmt, der das Leben der betreffenden Person retten sollte. So widersprüchlich das klang, so sinnvoll erschien der Plan, der dahinter steckte.

Wer sein Auftraggeber oder seine Auftraggeberin war, wusste Raoul nicht. Die Bestellung war über eine der zahlreichen Webseiten abgewickelt worden, die er im Darknet betrieb. Abigor nannte er sich dort, ein Deckname, der beschrieb, wie er sich sehen wollte. Allerdings glaubte er nicht, dass jemand die Bedeutung des Namens schon einmal nachgeschlagen hatte.

Der Handel hatte klare Regeln. Der Kaufpreis war auf ein Konto in einem Steuerparadies der Südsee zu transferieren. Eine Hälfte musste vor der Hinterlegung des Giftes überwiesen werden. Die zweite Hälfte war fällig, wenn der Besteller das Gift übernommen hatte. Erst nach Erhalt des gesamten Betrags teilte Raoul den Code mit, mit dem der gelieferte Behälter geöffnet werden konnte. Raouls Anweisung an seine Kunden lautete, das Gift frühestens drei Tage danach einzusetzen.

Der Grund dafür war die Gefährlichkeit der Stoffe. Wie beim Umgang mit Giftschlangen war es ratsam, das Gegengift in der Nähe zu haben. Dieses Gegengift aber gab es nur, wenn der volle Kaufbetrag bereits bezahlt worden war und eine Extrazahlung von weiteren vierzig Prozent erfolgte. Das war Erpressung, aber keiner seiner Besteller würde zur Polizei gehen.

Zwei von Raouls Kunden hatten sich für besonders schlau gehalten und beschlossen, auf das Gegengift zu verzichten. Beide starben innerhalb von Stunden, nachdem sie die bestellte Ware eingesetzt hatten.

Grundsätzlich akzeptierte Raoul von seinen Kunden keine Vorschläge für den Ort der Übergabe. Er bestimmte die Spielregeln. Die Leute bekamen Anweisung, von wo sie die Ware abholen konnten.

Die Lieferung ging diesmal nach Tirol und hier kannte Raoul einen Übergabeort in den Alpen, den er aus mehreren Gründen wählte: Erstens war er sehr sicher, zweitens bot ihm die Anreise ein gewisses Vergnügen und drittens hatte Raoul eine Schwäche für hohe Berge. Es war seine einzige Schwäche.

Das Vergnügen bestand für ihn darin, auf seinem Motorrad die kurvige Bergstraße hinaufzufahren. Der Novembernebel blieb wie eine dicke Decke unter ihm im Tal hängen. Auf dem Berg schien die Sonne.

Das Ziel war ein Würfel aus verspiegeltem Glas, in dem ein kleines Restaurant untergebracht war. Zu dieser Jahreszeit hatte es keinen Betrieb.

Nachdem Raoul das Motorrad abgestellt hatte, holte er eine Drohne aus der Transportbox hinter dem Sitz. Er öffnete sein Handy und tippte auf eine App. So konnte er die Drohne vom Handy aus steuern und die Bilder sehen, die sie lieferte.

Die Drohne besaß eine Infrarotkamera, die ihm anzeigte, ob sich irgendwo in der Umgebung Menschen versteckten. Mehrere Male ließ er die Drohne über dem Gipfelplateau kreisen, bis er Gewissheit hatte, allein zu sein. Die einzigen Lebewesen, die die Drohne zeigte, waren zwei Gämsen, die beim Lärm des Flugkörpers aus ihrem Versteck unter einem Felsvorsprung sprangen und die Flucht ergriffen.

Auf dem Handy schaltete Raoul zur zweiten Funktion der Drohne: Sie konnte nun Kameras aufspüren. Aber auch dieser Rundflug blieb ohne Ergebnis. Er war unbeobachtet.

Nachdem er die Drohne wieder weggepackt hatte, marschierte Raoul auf den spiegelnden Würfel zu. Er stand auf einer Ecke, was ihn noch spektakulärer aussehen ließ, fast wie das Spielzeug eines Riesen, das hier auf den Gipfel geworfen worden war.

Raoul betrachtete sich in der Spiegelung der Würfelwände. Er war froh, dass das Visier des Helms sein Gesicht verdeckte. Die Lähmung des Gesichtsnervs auf einer Seite ließ Mundwinkel und Auge hängen. Es waren die letzten Folgen der Infektion, die er als Baby erlitten hatte.

Unter der Jacke zog er eine kleine Metallkassette hervor. Sie war mit einem Zahlenschloss versperrt, dessen Code er später nach Erhalt des Geldes preisgeben würde. Er hob das Gitter des Schuhabstreifers vor dem Eingang und hinterlegte die flache Kassette in einer Aussparung an der Seite. Danach kehrte er zu seinem Motorrad zurück.

Niemand würde jemals erfahren, wer der Erzeuger dieser Gifte war. Raoul hatte es immer geschafft, unerkannt zu bleiben. Es gab keine Möglichkeit, eine Spur zu ihm zurückzuverfolgen. Sobald er in sein Labor zurückgekehrt war, würde er den Besteller, den er gerade beliefert hatte, über die Notwendigkeit des Gegenmittels informieren. Es war in diesem Fall von noch größerer Wichtigkeit als sonst, weil sonst aus einem lebensrettenden Selbstmord ein bedauerlicher Todesfall werden konnte.

Sein Handy meldete eine neue Nachricht. Die zweite Hälfte seines Honorars war soeben auf seinem Konto eingegangen. Raoul blickte sich prüfend nach allen Seiten um. Wieso wusste der Besteller, dass die Ware hinterlegt war? Er sah hinüber zu den Gipfeln der anderen Berge und ihm kam der Verdacht, es könnte ihn jemand mit einem sehr starken Fernrohr beobachten.

Egal, dachte er. Die Nummerntafel seines Motorrades war aus dieser Entfernung sicherlich nicht zu lesen und von ihm selbst war nur der Lederanzug und der Helm zu sehen. Weil er gute Laune hatte, schickte er über einen verschlüsselten Kanal den Nummerncode für die Schatulle mit dem Gift. Wie immer fügte er die Warnung an, das Gift frühestens in drei Tagen einzusetzen.

Es war Zeit, die Rückfahrt anzutreten. Raoul stieg auf das Motorrad, ließ den Motor an und sog noch einmal das traumhafte Bergpanorama mit den Augen ein. Er konnte sich an den schroffen Felsen, den schneebedeckten Kuppen und dem Licht der untergehenden Sonne nicht sattsehen.

Schließlich riss er sich von dem Anblick los und fuhr die Bergstraße hinunter. Ihn überkam eine Fröhlichkeit, die ihm sonst unbekannt war. Raoul legte sich in die Kurven und genoss es, die Fliehkraft zu spüren. Die Waghalsigkeit versetzte ihm einen anregenden Nervenkitzel.

Die nächste Rechtskurve tauchte vor ihm auf und Raoul senkte den Kopf wie ein angriffslustiger Stier. Er lenkte, das Motorrad gehorchte zuerst, rutschte dann aber seitlich unter ihm davon. Wasser rann über die Fahrbahn. Die Reifen schlitterten wie auf Eis. Raoul zog die Bremsen und versuchte, durch Verlagern seines Körpergewichts das Motorrad wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die schwere Maschine raste unerbittlich auf die Leitplanke zu. Die Wucht des Zusammenstoßes schleuderte Raoul über die Planke. Dahinter fiel der Fels senkrecht in die Tiefe.

Für Bruchteile von Sekunden schien die Welt stillzustehen. Alle Geräusche verstummten. Dann zog ihn die Schwerkraft nach unten. Er strampelte. Aus der Felswand ragten kleine Bergkiefern, deren Wurzeln fest in den Felsspalten verwachsen waren. Raoul versuchte, eine davon zu fassen zu bekommen.

Der Sturz endete mit einem Aufschlag, der seinen Körper in einen einzigen glühenden Schmerz verwandelte.

Türler ve etiketler
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