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Abgestürzt
Die Ritter vom Hermannsberg
Nicht weit von Steinbach-Hallenberg, recht mitten im Waldgebirge, liegen zwei Berge, der kleine und der große Hermannsberg. Über letzteren läuft ein steiler, haushoher Porphyrfelsenkamm, wie eine Riesen- oder Teufelsmauer, grau bemoost und mit alten Bäumen bewachsen.
Da droben soll ein Schloss gestanden haben, bewohnt von einem Grafen, welcher Hermann hieß. Er führte gar ein übles Leben mit seinen Rittern und gewann dadurch einen großen Schatz, dass er zwölf Seelen opferte.
Zur Strafe seiner Untaten ward er mit den Seinen in den Berg verflucht; zuzeiten hört man ein wildes, wüstes Toben dieser Ritter, sieht auch wohl den Grafen umgehen; so hat ihn mancher Förster und Kreiser (Jäger im Schnee) auf sich zukommen sehen mit einem spinnwebenen Gesicht.
Ein Führer geleitete einen Fremden über die Waldestrift, wo man von Steinbach-Hallenberg nach Mehlis geht, an einem Märzmorgen. Es hatte einen frischen Schnee gelegt. Da kam der Geist sichtbarlich und ging an den Wanderern vorüber; wie sie sich umsahen, weil sein Aussehen sie entsetzte, war er verschwunden, und im Schnee war, wo er gegangen, kein Fußtapfen zu erblicken.
Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenschatz
I
Großer Hermannsberg bei Steinbach-Hallenberg
Dienstag, 8. Mai 2007
Das Wetter spielte mit. Hainkel trabte im lockeren Dauerlauf. Der Weg war ein steiler Bergpfad, ausgewaschen von unzähligen Regenfällen. Geröll überall. Es galt wachsam zu sein. Ein Fehltritt und das war’s. Eine Verletzung, speziell an den Beinen, konnte er sich nicht leisten. In wenigen Wochen waren die Landesmeisterschaften.
Immer, wenn die Zeit es zuließ, trainierte er. Damit es nicht zu langweilig wurde, suchte sich Hainkel immer neue Laufstrecken. Diesen Nachmittag hatte er frei. In seinem Triathlonverein tauschten sich die Männer über gute Laufstrecken aus. Ein guter Kumpel hatte ihm die Bergstrecke am Großen Hermannsberg vorgeschlagen. Ein echter Kanten. Start am Knüllfeld, einer beliebten Ausflugsgaststätte oberhalb des Städtchens Steinbach-Hallenberg, dann quer über die Ganswiesen zum Berg.
Der Große Hermannsberg war ein beeindruckender Geselle. Wie ein riesiger Blauwal lag er vor einem, zum Greifen nah und dennoch so fern. Er war dicht bewaldet, obwohl er in den Achtzigern fast seinen ganzen Baumschmuck verloren hatte. Wind- und Schneebruch hatten viele Nadelbäume an den Hängen umgelegt. Die darauffolgenden, heißen Sommer brachten den Borkenkäfer, der sich inmitten des Holzbruchs pudelwohl fühlte.
Nur mit schwerem Gerät, extra aus Österreich herbeigeholt, war man der Plage Herr geworden.
Nach und nach verschwanden die abgestorbenen Bäume. Der Berg präsentierte sich fast kahl. Rotbraune Felsen wurden sichtbar. Porphyre, die sich seit Millionen von Jahren auftürmten. Der Berg war ein klassischer Bruchschollenberg, gefaltet von unvorstellbar großen Kräften aus dem Erdinneren. Das erklärte auch seine eigenartige Form, langgestreckt, steil aufragend, mit den zahlreichen Porphyrfelsen bekrönt, die zum Klettern einluden. Es gab zwei Möglichkeiten, den Berg zu besteigen. Eine holprige Straße zog sich spiralförmig bis zum Gipfelgrat hinauf. Die Straße, eigentlich mehr ein ausgewaschener Weg, war moderat in der Steigung, zog sich aber ziemlich in die Länge.
Und dann gab es noch einen steilen Pfad, versteckt zwischen den Bäumen, einer Schneise folgend, die seit langer Zeit eine kleine Lücke zwischen den dicht stehenden Bäumen aufwies. Dieser Pfad war extrem steil und führte fast senkrecht nach oben.
Hainkel hatte die Straße gewählt, schließlich wollte er ja trainieren für die Triathlonmeisterschaften und nicht für Bergcross, obwohl ihn diese Sportart auch reizen würde.
Er kannte die Strecke, war sie vor kurzem schon einmal gelaufen. Man war am Hermannsberg meist allein unterwegs. Es gab auf seinem Gipfel keine Ausflugsgaststätte und der Aufstieg war mühsam. Früher waren die Jugendlichen der umgebenden Dörfer mit Rucksäcken, gefüllt mit Eiern, Schinkenspeck und Brot auf den Berg geklettert, machten oben im Schatten der Felsen kleine Lagerfeuer und feierten Pfingsten. Doch das war schon lange vorbei. Die moderne Dorfjugend saß vor dem Computer und rettete die Welt. Einer der Gipfelfelsen hatte sogar ein eisernes Geländer. Dieser Fels war der höchste auf dem Berg. Hier erreichte er seine stattliche Höhe von 867 Metern. Es galt für jeden Gipfelstürmer, genau den Felsen als letztes zu erklimmen. Ein paar Stufen waren in den weichen Porphyr gehauen worden, die es ermöglichten den rundgeschliffenen Stein zu erklimmen. Oben angelangt, wurde der Gipfelstürmer mit einem sagenhaften Ausblick belohnt. Der gesamte westliche Thüringer Wald lag zu seinen Füßen.
Gleich links erhob sich der Ruppberg. Nur einen Meter kleiner als der Hermannsberg präsentierte sich der steil aufragende Kegel wie ein Bergkönig. Bekrönt wurde er von einer rotbraun angestrichenen Hütte. Dieser Hütte verdankte der Ruppberg seine Popularität. Außerdem lag der Ruppberg im direkten Einzugsgebiet der Stadt Zella-Mehlis. Hinter dem Ruppberg reckte sich aus dem dunklen Tannengrün der Steinhauk in den Himmel. Er fristet nur ein Schattendasein.
Schaute man gen Osten, konnte man die Gipfel des Hauptkamms des Thüringer Waldes sehen. Eigenartige Namen hatten sie: Donnershauk, Hohe Möst, Schneekopf, Gebrannter Stein, Hoher Stein. Der Kanzlersgrund, ein längliches Hochtal zog sich zwischen den Bergen aufwärts.
Richtung Süden war der Blick frei auf hügelige Felder und Wälder. Am Horizont zeichneten sich als hellblaue Kulisse die Berge der Rhön ab. Davor thronte erhaben der Dolmar, ein einzelner Berg, der seit alters her mit einem geheimnisvollen Nimbus umgeben war. Schon die alten Kelten hatten sich den Dolmar ausersehen, um dort ein Heiligtum zu errichten. In der jüngeren Vergangenheit wurde der Dolmar für die Thüringer zur Sperrzone. Eine Raketenstation der Roten Armee verwehrte den Zugang zum Gipfel.
Weiter links grüßten die Gleichberge. Sanfte Hügel, von Wald bedeckt. Eingebettet in die Landschaft erblickte man zahlreiche kleine Städtchen und Dörfer: Steinbach-Hallenberg streckte sich langgezogen rechts unterhalb der Ganswiesen. Bermbach duckte sich in einen kleinen Talkessel. Unterhalb der Rückseite des Berges zogen sich die beiden Schwesterdörfer Ober- und Unterschönau in einem Tal empor, dem Haselgrund, einer natürlichen Fortsetzung des Kanzlersgrunds.
Hainkel kannte die Gegend. Es war sein Einsatzgebiet als Lokalreporter. Er fühlte seinen Puls. Achtundachtzig. Das war okay. Der Lauf hatte ihn nicht sonderlich verausgabt. Zufrieden saß er auf dem Felsen, genoss den Ausblick und überlegte, welchen Weg er abwärts wählen sollte. Gerade als er aufstehen wollte, irritierte ihn ein seltsames Blinken. Die Sonne war hervorgekommen und schien mit ihrer Frühlingskraft direkt auf die Felsen. Porphyr glänzte nicht. Porphyr war stumpf und matt, rotbraun mit ein paar Einsprengseln in Schwarz und Ocker. Aber da blinkte etwas auf dem Felsen direkt vor ihm.
Hainkel hangelte sich vorsichtig auf den etwas tiefer liegenden Stein direkt unterhalb des Felsens. Das Blinken kam von einem kleinen, silbernen Medaillon. Es war oval, vielleicht fünf Zentimeter groß, an einem Kettchen, das zerrissen war. Eindeutig konnte Hainkel erkennen, dass die Kettenglieder mit Gewalt auseinandergerissen worden waren. Vorsichtig öffnete er das Medaillon. Auf der Innenseite des Klappverschlusses standen in zierlichen Schnörkeln zwei Buchstaben. Ein großes M und ein großes R.
Im Medaillon selbst war eine farbige Miniatur zu sehen. Ein Portrait. Es gehörte zu einer schönen Frau, vielleicht Anfang Zwanzig, möglicherweise sogar noch jünger. Der Stil der Frisur und der Kleidung rückte die schöne Unbekannte weit zurück in die Vergangenheit. So sahen die Damen möglicherweise vor zwei- oder dreihundert Jahren aus.
Genauer konnte Hainkel das nicht datieren. Aber er war sich sicher, dass das Medaillon ein historisch wertvolles Stück war. Wie das Schmuckstück auf den Gipfel des Hermannsbergs geraten war, konnte er sich nicht erklären. Möglicherweise hatte ein Wanderer es verloren. Aber dann besah er es sich noch einmal genauer. Das Medaillon musste mit Gewalt jemandem vom Hals gerissen sein. Die zerstörten Kettenglieder ließen keinen anderen Schluss zu.
Hatte sich hier auf den Felsen ein Drama abgespielt?
Nachdenklich kletterte Hainkel an dem Felsen zurück auf den Gipfelpfad. Eine vage Idee hatte er just in diesem Augenblick. Ob nicht am Fuße der Felsen …?
Mühsam kämpfte er sich durch das Unterholz und riesige Farnbüsche. Endlich war er unterhalb der Gipfelfelsen. Junge Fichten und ein paar Buchen standen an dem schräg abwärts laufenden Hang. Der Boden war bedeckt mit Farnen und Heidelbeerbüschen. Nichts deutete auf Spuren eines Kampfes hin. Hainkel schüttelte den Kopf.
Seit er die Einbruchsserie in den Thüringer Schlössern verfolgte, hatte er öfters schon solche seltsamen Eingebungen. Wer weiß, möglicherweise war das Medaillon ja sogar Diebesgut? Ausschließen konnte er das nicht. Zumal die Bestandslisten, die er von den Verwaltungen bekommen hatte, große Lücken aufwiesen, was die inventarisierten Artefakte anging.
Ein kleines Medaillon würde da wohl nicht auffallen. Vielleicht eine erste Spur zu den Tätern. Hainkel schlitterte auf dem weichen Grund abwärts. Fichtennadeln bedeckten den Boden.
Wurzeln waren Stolperfallen. Gerade schien er wieder an einer solchen Wurzel hängengeblieben zu sein. Dichtes Farnlaub machte es schwierig, die Wurzeln rechtzeitig zu entdecken.
Fluchend fiel er kopfüber in den Farn. Wie von einer Tarantel gestochen fuhr er jedoch fast zeitgleich wieder auf. Was er für eine Wurzel hielt, war ein Bein. Das Bein gehörte zu einer Frau, die höchstwahrscheinlich tot war.
Hainkel war entsetzt. Fieberhaft kramte er sein Handy hervor. Leider gab es hier am Berg keinen Empfang. Was sollte er tun?
Nichts anfassen! Das, wusste er, war die wichtigste Prämisse. Bei zahlreichen Polizeieinsätzen, die er als Lokalreporter begleitet hatte, klagten ihm die Polizisten jedes Mal, wie achtlos die Leute Spuren zerstörten durch unüberlegtes Herumgelatsche am Fundort.
Aber irgendwie musste er den Fundort sichern, so dass er ihn leicht wiedererkennen konnte. Letztendlich wusste er, was zu tun war. Er schlang um die Fichte direkt vor dem Farndickicht, in dem die Frauenleiche lag, sein T-Shirt. Dann machte er sich auf den Weg. Er wusste, dass am Knüllfeld ein Telefonanschluss war. Dort musste er hin.
Die Herren im Berg
Einst hütete ein Hirte am Großen Hermannsberg, da verlief sich der Brüller (Herdochse), und der junge Knecht ging in den Wald, ihn zu suchen. Da kam er zu einer Gesellschaft Herren, die vergnügten sich mit Kegelschieben, und da sie ihn sahen, winkten sie ihm, ihnen die Kegel aufzusetzen. Dies tat er, und als sie ihr Spiel beendigt hatten, gingen sie hinweg und sagten, er möge nur die Kegel mitnehmen. Er belud sich mit dem Spiel, kam wieder zur Herde, zu der sich indes der Ochse wiedergefunden hatte, trieb sie heim und wurde verwundert gefragt, wo er denn bleibe und gewesen sei, er sei schon drei Tage nicht nach Hause gekommen. Er aber beteuerte, kaum eine halbe Stunde von der Herde gegangen zu sein, die Herren hätten ihn genötigt, ihnen die Kegel aufzusetzen. Da fragte man weiter, ob er auch einen Lohn bekommen. O ja, sagte der Knecht, ich habe das ganze Spiel mitgebracht, draußen liegt's unter der Treppe. – Nun wollte der alte Hirt selbst den Ranzen mit den Kegeln unter der Treppe hervorziehen, vermochte das aber nicht, hingegen der Junge, wie er angriff, brachte ihn gleich hervor, und da waren die Kegel von purem Golde. Zu einer anderen Zeit, als der junge Knecht wieder im Walde hütete und herumschweifte, fand er die Gesellschaft wieder, setzte wieder auf, und da bekam er auch die Kugeln. So war er zweimal glücklich.
Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenschatz
II
Knüllfeld bei Steinbach-Hallenberg
Dienstagabend, 8. Mai 2007
Soviel Polizei war noch nie hier oben. Das Wirtspaar vom Knüllfeld konnte sich nicht daran erinnern, dass schon einmal eine zahlreichere Präsenz von Polizei, Krankenwagen, Leichenwagen und Technikern vor ihrer Haustür zu sehen war.
Selbst als vor vielen Jahren einmal ein Waldbrand gleich unmittelbar hinter dem Knüllfeld zu bändigen war, standen nur ein paar Feuerwehrautos herum.
Doch jetzt war alles anders. Drüben am Hermannsberg hatte man eine Leiche entdeckt. Eine Frau sollte es sein. Wohl abgestürzt am großen Aussichtsfelsen.
Naja, da ging es schon ein paar Meter steil bergab in die Tiefe. Der Sportler, der die Frau entdeckt hatte, saß in ein Gespräch mit zwei Polizisten vertieft im Schankraum.
Als der völlig abgekämpft vor drei Stunden Sturm geklingelt hatte, normalerweise war dienstags nämlich Ruhetag, dachten die Wirtsleute, es wäre ein schlechter Scherz. Aber der durchtrainierte Typ sah nicht wie ein Spaßvogel aus.
Er trank zwei große Gläser mit Mineralwasser, ohne mit der Wimper zu zucken, in einem Zug aus. Dann berichtete er kurz, was er entdeckt hatte und bat um ein Telefon.
Ja, und nun war hier alles voll mit Polizei. Man konnte mit den Autos nicht direkt zum Hermannsberg. Die Wege waren einfach ungeeignet. Also hatten sich die Techniker, ein paar Beamte und die Rettungssanitäter zu Fuß auf den Weg gemacht. Der Sportler übernahm die Führung und lief vorneweg. Die Begleiter hatten Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
Nach einer guten, halben Stunde waren sie am Fundort angekommen. Hainkel hatte die Männer den steilen Pfad aufwärts geschickt. Das wäre wohl schneller. Zielsicher strebte Hainkel dem Ort direkt unterhalb des Aussichtsfelsens zu. Da war auch schon sein T-Shirt. Er wies auf das dichte Farn. Da drinnen liege sie.
Als erstes waren die Techniker zugange. Vorsichtig bahnten sie sich ihren Weg, beseitigten systematisch mit Scheren die vielen Farnblätter, um freie Sicht zu haben. Nach und nach wurde die Frauenleiche sichtbar. Es war eine nicht mehr ganz junge Frau, wahrscheinlich Ende vierzig, Mitte fünfzig. Gekleidet war sie mit Blue Jeans, einer hellgrünen Bluse, darüber eine schwarze Steppweste. Etwas abseits lagen ein Sommerhut aus geflochtenem Bast, eine Handtasche und eine Sonnenbrille. Die war wohl durch den Sturz heruntergerissen worden.
Die Frau lag in einer unnatürlichen Position auf dem Rücken, die Arme weit von sich gestreckt, die Beine waren in einem unnatürlichen Winkel ebenfalls gestreckt. Der Kopf der Frau wirkte wie abgeknickt. So konnte man eigentlich den Kopf nicht auf natürliche Weise bewegen. Hainkel wurde es schlecht. Mit Leichen hatte er es nicht so.
Ein Fotograf begann sein Werk, lichtete die Frauenleiche ab, positionierte kleine Kärtchen mit Zahlen an den Fundorten der Handtasche, der Sonnenbrille und des Hutes.
Die anderen Beamten durchstreiften die direkte Umgebung. Wohl um sicher zu gehen, nichts übersehen zu haben. Plötzlich ertönte ein kurzer Schrei. Einer der Beamten schien etwas entdeckt zu haben.
Hainkel eilte herbei. Etwa dreißig Meter abwärts hatte ein Polizist noch eine weitere Leiche entdeckt. Diesmal ein Mann. Auch er schien vom Felsen gestürzt zu sein. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er gen Himmel. Hainkel wurde es schon wieder schlecht. Mein Gott, was für ein Drama hatte sich da abgespielt.
Hatten die beiden möglicherweise auf dem Felsen miteinander gekämpft? Hainkel musste an das Medaillon denken. Bisher hatte er davon noch nicht berichtet.
Wie normale Touristen sahen die beiden Toten nicht aus. Eher wie Städter, die sich verirrt hatten.
Touristen im Thüringer Wald waren leicht zu erkennen. Speziell die Wanderer. Meist trugen sie Funktionskleidung, die älteren Semester waren sogar mit Kniebundhosen und Tirolerhüten unterwegs. Zu ihnen gehörte immer ein Gehstock und ein gewaltiger Rucksack. Im Sommer durchzogen sie scharenweise die Gegend. Die Einheimischen nannten die Wanderer liebevoll »Luftschnapper«.
Auf dem Rennsteig war dann ein Verkehr wie in der Fußgängerzone von Schmalkalden. Unangenehm wurde es meist, wenn solch ein Trupp anfing Lieder zu deklamieren, immer zuerst natürlich die Thüringer Waldhymne von Herbert Roth: »Ich wandre ja so gerne am Rennsteig durch das Land …«
In den letzten Jahren waren zu den konservativen Jodlern und Sängern die Nordic Walker hinzugekommen. Ausgerüstet mit zwei Skistöcken, Stirnband, Sonnenbrille und Leggins marschierten diese Spezies in einem hohen Tempo durch die Landschaft. Die Nordic Walker hatten kein Interesse an Natur und Landschaft, ihnen ging es um Zeiten. Schnaufend und keuchend stapften die Walker an einem vorüber. Sie hetzten durch die Gegend auf der Suche nach dem Kick, pure Adrenalinjunkies.
Hainkel hielt sich von beiden Gruppen fern, sie waren ihm nicht ganz geheuer. Seine Gedanken kehrten wieder zurück zu den beiden Toten.
Oder gab es vielleicht einen unsichtbaren Dritten? Möglicherweise wurden die beiden ja verfolgt. Retteten sich auf den Felsen, dann ging es nicht mehr weiter. Der Verfolger nahte und …
Hainkel sah in Gedanken die beiden mit einer geheimnisvollen Figur in Schwarz ringen, das Medaillon wurde der Frau vom Hals gerissen, bevor sie in die Tiefe stürzte. So könnte es gewesen sein. Unbedingt musste er herausbekommen, wer die beiden Toten waren.
Er sah schon die Titelseite der »Rennsteig-Nachrichten« vor sich: »Drama am Hermannsberg – Zwei Tote im Farngestrüpp entdeckt«.
Ob er mit dem einen der Kriminalisten mal sprechen könnte? Er war immerhin der Entdecker … und überhaupt, im normalen Leben war er Lokalreporter, also, dass würde ihn schon brennend interessieren.
Später, später. Erst müsse man die Toten bergen und sicher sein, nicht etwas übersehen zu haben.
Hainkel nickte. Er wusste, dass die Polizei sich bei solchen Fällen stets bedeckt hielt. Man wollte vermeiden, dass zu viel Details an die Öffentlichkeit gerieten.
Heimlich knipste Hainkel mit dem Handy alles, was wichtig war. Die Aufnahmen waren zwar mit dem Handy nicht ganz von bester Qualität, aber mit dem Computer könnte er sie ja noch etwas nachbearbeiten.
Die Techniker bedeuteten ihm, sich aus dem Bereich des abgesteckten Fundorts fern zu halten. Klar, er kannte die Spielregeln.
Dann setzte sich der gesamte Zug in Bewegung. Die Toten waren in Transporthüllen gebettet worden. Vorsichtig arbeiteten sich die Leute von der Technik durch das Unterholz. Endlich kreuzte der Weg den kleinen Pfad. Einer der Fahrer hatte es geschafft, ein Auto auf der halsbrecherischen Strecke heranzuholen. Mit Tempo zwanzig rumpelte der Transporter bergab.
Hainkel marschierte mit den Beamten wieder zurück zum Knüllfeld. Man schwieg. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Handelte es sich um einen tragischen Unfall? Oder gab es da etwas, was vielleicht ein Selbstverschulden ausschloss?
Der Abend war angebrochen, langsam dämmerte es bereits. Im Schankraum hatten es sich die Beamten eingerichtet. Die Wirtsleute kochten Kaffee und boten auch einen kleinen Imbiss an, wie gesagt, heute war ja eigentlich Ruhetag.
Hainkel verspeiste mit gutem Appetit ein paar Knacker mit Kartoffelsalat. Der Kripobeamte neben ihm hatte sich ein paar Wiener Würstchen kommen lassen.
»Nun sagen sie mir doch mal, was haben Sie denn an einem normalen Wochentag am Hermannsberg zu suchen?«
Hainkel erklärte ihm umständlich, dass er trainiere und der Hermannsberg eine ideale Laufstrecke sei.
Der Beamte schien ihm das zu glauben.
»Und wie sind Sie auf die Leiche gestoßen? Die liegt ja abseits der Laufstrecke in einem nur schwer zugänglichen Bereich.«
Jetzt musste Hainkel sein gefundenes Medaillon hervorholen.
Der Beamte grunzte leise vor sich hin.
Er hörte sich Hainkels Bericht vom Fund des Medaillons an und dessen Intention, unterhalb des Felsens zu schauen, ob da noch mehr sei. Ob er die Personen kenne?
Nein, noch nie gesehen, ganz sicher. So wie die aussahen, würden sie hier doch auffallen. Städter wahrscheinlich.
Der Beamte nickte, holte zwei Pässe hervor, die bei den Toten sichergestellt worden waren. Es waren rote EU-Pässe, vorn war ein aufwändiges Wappen mit einem stehenden Löwen und einer Königskrone darüber in Gold eingeprägt, darunter stand in Druckbuchstaben Royaume de Belgique – Koninkrijk Belgie.
Es waren Belgier. Ein Monsieur Jean-Luc Blaireau und eine Madame Segolène Renard. Beide wohnhaft in Vilvoorde bei Brüssel. Was die beiden am Berg zu suchen hatten, war im Moment nicht zu ermitteln. Auf alle Fälle waren die beiden schon mehr als achtundvierzig Stunden tot, also vor über zwei Tagen musste sich das tragische Unglück ereignet haben. Man müsse nun erst einmal ermitteln, ob es womöglich Zeugen gab, die am Sonntag am Berg unterwegs gewesen waren.
Das wäre im Moment alles, was zu sagen sei. Hainkel erkundigte sich, ob es eine Nachrichtensperre bezüglich des Vorfalls gebe. Nein, das Ganze sei wohl doch ein tragischer Unfall.
Der Beamte schien mit dieser Erklärung ganz zufrieden zu sein. Unfälle, zumal hier in den Bergen, ereigneten sich immer mal. Da könne man auch nichts daran ändern, schließlich wären die Wanderwege ja vorbildlich ausgeschildert und wer sich in Gefahr begebe, indem er auf ungesicherten Felsen herumklettere, nun, dem könne eben auch schon mal etwas zustoßen.
Hainkel nickte. Ja, das wäre möglich. Tief in seinem Inneren regte sich gegen diese harmlose Sicht auf den Vorfall Widerstand. Da war vor allem das abgerissene Medaillon. Es musste ein Kampf auf dem Felsen stattgefunden haben. Ein Kampf mit tödlichem Ausgang. Er würde selber recherchieren.
Ihm fiel der Riese aus dem Café in Bad Liebenstein ein. Der war doch auch ein Kriminaler. Zwar außer Dienst, aber auf ihn machte er durchaus den Eindruck, dass es sich bei ihm um einen wirklichen Spürhund handeln könnte.
Bas me üwer onser all Staadt Schmakalle moss wess
Mi Schmakalle es e ganz all Staadt, de schonn ville honnerte Joahr of`n Buckel hatt. Behärbärgt hatt se ville berühmte Lüt, se senn net vergässe woar`n bes hüt. Der Martin Luther, der de Bibel üwersatzt hat, gehört dazo, awer au si Freund, der Philipp Melanchton war e bekaanter Moa. Ör Önnerkunft hatten se gefonne in dän Lutherhuus of`n Lutherplatz un in der jetzig Roseapothäke in der Steigass … Ofn Schlooß honn ville Forschte, Grafe un Prinze gelaat, es hat awe villen gefalle in onsere hüsche Staadt. ...
Hans Schwarz (Mundartdichter): Schmalkalder Geschichtsblätter 3/1996
III
Schmalkalden
Mittwochnachmittag, 9. Mai 2007
Linthdorf war erstaunt. Der Indianerkrieger hatte sich bei ihm gemeldet. Ob er ein bisschen Zeit für ihn erübrigen könnte, es wäre da etwas zu besprechen.
Der Mittwochnachmittag wäre ideal, da wäre Gewerkschaftsversammlung des Kurpersonals. Ja prima, Hainkel käme vorbei und würde ihn abholen kommen. Nach Schmalkalden, da wäre auch seine Redaktion.
Am Mittwoch pünktlich um dreizehn Uhr stand Hainkels kleiner Hyundai vor dem Eingang zum Sanatorium. Linthdorf wartete bereits. Mühsam zwängte er sich in das kleine Automobil, Hainkel musste grinsen.
Schmalkalden lag nur ein paar Kilometer östlich von Bad Liebenstein. Die Fahrt ging durch eine zauberhafte Landschaft mit blühenden Rapsfeldern und einem Flusstal. Das sei die Werra, einer von Thüringens größten Flüssen.
Linthdorf sah interessiert auf das kleine Rinnsal. Erzählte dann Hainkel von der Havel, der Spree, der Oder und der Elbe. Was das doch für gewaltige Flüsse seien.
Die Straßen in Thüringen waren auf alle Fälle besser in Schuss als die Brandenburger Straßen. Auf der dreispurig ausgebauten Fernverkehrsstraße flitzte der Hyundai Hainkels dahin wie von Geisterhand getragen. Nach knapp einer Viertelstunde war das Ortseingangsschild von Schmalkalden zu sehen, gleich dahinter ein großes Werbeplakat aufgestellt.
Das elfhundertjährige Schmalkalden grüßt seine Gäste!
Darunter noch ein Schild: Deutsche Fachwerkstraße.
Und noch ein Schild: Hochschulstadt Schmalkalden.
Linthdorf war beeindruckt.
Vor 1100 Jahren gab es in Brandenburg nur ein paar herumziehende slawische Fischer und Bauern. An Städte war zu jener Zeit überhaupt nicht zu denken. Die ältesten Siedlungen auf Brandenburger Gebiet waren maximal 850 Jahre alt. Thüringen war ein altes Land und sichtlich stolz darauf.
Schon konnte Linthdorf die ersten Fachwerkhäuser sehen. Es war wirklich so, wie in den bunten Prospekten abgebildet. Prächtige Fassaden, reich geschmückt mit Schnitzereien und Sinnsprüchen, enge Gassen, dazwischen überall Blumenkästen und Bänke zum Verweilen. Hainkel machte zuerst eine kleine Rundfahrt durch die Altstadt, zeigte Linthdorf den »Hessischen Hof«, in dessen Keller Wandmalereien aus der Ritterzeit gefunden worden waren, ebenfalls das »Lutherhaus« mit dem Schwan als Zierde. Eine gewaltige gotische Kirche thronte im Zentrum der Stadt. Viel zu groß für die gerade mal 17000 Einwohner. Das sei die Georgenkirche, in der habe schon Luther gepredigt und auch Melanchthon.
Dann fuhr Hainkel mit ihm auf einer kleinen einspurigen Straße bergauf. Vor ihm lag die Wilhelmsburg, das Residenzschloss der hessischen Landgrafen. Frisch geputzt in Weiß mit rotbraun abgesetzten Fenstern präsentierte sich die majestätische Vierflügelanlage. Ein kleiner Turm bekrönte den Prachtbau. Linthdorf war beeindruckt. Hainkel bemerkte kurz, dass auch die Wilhelmsburg zu den von Einbrechern heimgesuchten Residenzen gehöre. Der Schaden wäre allerdings überschaubar.
Allerdings wären die abhanden gekommenen Objekte gerade für die Stadt sehr kostbar gewesen. Teile des Ratssilbers, ausgesprochen kunstvoll ausgeführte Arbeiten der berühmten Augsburger Silberschmiede, zwei kleinere Gemälde mit Portraits hessischer Landgrafen, ein Abendmahlskelch aus Luthers Zeiten und der vielleicht schmerzlichste Verlust, die beiden Bronzeminiaturen aus der Werkstatt des berühmten Conrad Meit, Adam und Eva, beide auf das frühe 16. Jahrhundert datierend.
Er grübelte, wo in Brandenburg eine ähnliche Stadt existieren könnte. In Gedanken sah er die Kleinstädte der Mark, allesamt graue Mäuse im Vergleich zu dieser prächtigen Residenzstadt.
Nein, mit so viel Prachtentfaltung und Geschichte konnte seine Heimat nicht mithalten. Obwohl, Sanssouci … aber das war ja noch einmal etwas ganz Anderes.
Zumal er von Hainkel erfahren hatte, dass Schmalkalden nur eine von vielen Residenzen in dem kleinen Bundesland war. Wer weiß, vielleicht gab es ja noch prächtigere Städtchen?
Langsam rollte der Hyundai auf der Rückseite des Berges wieder hinab in die Altstadt. Hainkel kannte sich aus, kutschierte gekonnt durch die engen Straßen, parkte seinen Wagen auf einem der kleinen Parkplätze und dirigierte Linthdorf zu einem Café in einer dunklen Gasse. Das Café war im Stil der Sechziger Jahre eingerichtet. Vorn waren Bäckerei und Konditorei, zwei Treppenstufen führten hinauf zum ruhigen Teil. Junge, dralle Frauen mit weißen Zierschürzen und eng sitzenden schwarzen Röcken bedienten.
Ein Blick auf die Kuchenauslage genügte Linthdorf. Auch hier waren die Kuchenstücke groß wie halbe Backsteine. Kein Wunder, dass die Thüringer Damen so propper aussahen. Hainkel bestellte zwei Kännchen Kaffee und die Spezialität des Hauses, frischen Rahmkuchen.
Wieder musste sich Linthdorf eingestehen, solch Hochgenuss nur selten erlebt zu haben.
In einer Pause berichtete ihm Hainkel von seinem gestrigen Erlebnis am Hermannsberg, speziell von dem Medaillon, welches er glücklicherweise noch mit seinem Handy abgelichtet habe. Und natürlich von den zwei seltsamen Toten, zwei Belgier, Blaireau und Renard …
Linthdorf musste lächeln.
Etwas irritiert hielt Hainkel inne. Linthdorfs Kenntnisse der französischen Sprache waren nicht perfekt, aber er hatte Französisch in seiner Schulzeit gelernt und war durch seine Urlaubsreisen immer wieder dazu angehalten gewesen, die Sprache aufzufrischen.
»Wissen sie, was Renard und Blaireau heißt?«
»Nein, das sind eben einfach zwei Namen…«
»Nun, ein seltsamer Zufall vielleicht. Aber Renard heißt Fuchs und Blaireau heißt Dachs. Die beiden würden also Fuchs und Dachs heißen. Sehr ungewöhnlich.«
»Meinen Sie, dass die beiden vielleicht …?«
»Es ist auf alle Fälle ein ungewöhnlicher Zufall.«
»Aber die Reisepässe…«
»Nun, die könnten ja auch gefälscht sein. Man sollte das auf alle Fälle prüfen.«
Hainkel war sich nach diesem kurzen Dialog sicher, dass an dem Vorfall etwas faul war.
Ob er denn …?
Linthdorf wehrte energisch ab.
Er könne nicht in die Ermittlungsarbeit seiner Kollegen vor Ort eingreifen, dass ginge gar nicht. Außerdem sei er auf Kur, das Herz …
Hainkel nickte. Ob er ihm wenigstens ein paar Tipps geben könnte. Er würde eigenständig Recherchen anstellen. Schließlich habe er ein persönliches Interesse an dem Fall, er habe die Toten ja entdeckt. Und das Medaillon, vielleicht gehörte das ja zum Diebesgut. Eine Spur, die es zu verfolgen lohne.
Linthdorf nickte. Als erstes müsse Hainkel herausfinden, wo die beiden gewohnt hätten. Sicherlich in einem Hotel oder einer Pension in der näheren Umgebung. Dann wäre es wichtig, herauszubekommen, an welchen Orten sie sich sonst noch aufgehalten hatten und, ganz wichtig, ob die Namen wirklich existieren.
Da müsse er sich mit den Behörden in Belgien in Verbindung setzen.
Ja, und das Medaillon. Da wäre es klug, das Foto den Sachverständigen der Thüringer Schlösserstiftung zu zeigen. Möglicherweise könnten die es ja zuordnen. Ob es sich um eine Thüringer Prinzessin handele, würden die bestimmt herausfinden.