Kitabı oku: «Rebeccas Schüler», sayfa 4
Lydia schaute Rebecca ungläubig an, zog die Stirn in Falten. »Meinst du im Ernst, Tom geht fremd und setzt sich neben seinen Seitensprung? Ein Mann würde das doch unter allen Umständen verhindern und es so aussehen lassen, als ließe sie ihn absolut kalt.« Lydia hielt kurz inne, überlegte, ob es nicht doch so sein konnte, wie Rebecca sagte.
Scheinbar unbeeindruckt von den Worten gab Lydia noch mehr Details preis: »Wenn es nur die Gespräche gewesen wären. Am späten Abend wurde auch getanzt. Die Weihnachtsfeier fand in einem größeren Saal einer Gaststätte statt. Anstatt mich zum Tanzen aufzufordern, hat er mit Denise getanzt. Dieses … Flittchen … hat sich an ihn herangemacht! Wie nah sie ihm war und wie sie miteinander gelacht haben. Erst später hat er mit mir getanzt, aber weit weniger zärtlich und innig als mit Denise.«
»Das muss doch aber noch lange nicht heißen, dass die beiden miteinander schlafen.«
Lydia lief eine dicke Träne die Wange hinab, was Rebecca tiefes Mitgefühl empfinden ließ. »Was soll ich bloß tun, Beccy? Ich sehe furchtbar aus! So unförmig. Meine Haare sind fettig, die Haut ist unrein.« Lydia rieb sich die Stirn, als säße dort ein Teufel, den sie abschütteln wollte.
»Aber was das Schlimmste ist: Ich kann nicht mehr mit Tom schlafen, weil ich mich so unwohl bei dem Gedanken fühle, dass er mich widerlich und abstoßend findet.«
Lydia schüttelte resigniert den Kopf, bevor sie einen letzten, bedeutungsschwangeren Satz aussprach: »Ich wünschte, ich könnte mit ihm über alles reden.« Rebecca horchte auf. Bisher dachte sie, Tom und Lydia würden eine durch und durch harmonische Beziehung führen, könnten über ihre Gefühle sprechen und nur sie und Paul wären eine Ausnahme.
Lydia hielt kurz inne, bevor sie zerknirscht und mit verheultem Gesicht sagte: »Nach der Weihnachtsfeier habe ich Tom gefragt, ob er sich zu Denise hingezogen fühlt. Er ist dem Gespräch aus dem Weg gegangen. Er hat noch nicht einmal versucht zu dementieren, verstehst du? Die Frage, ob er mit ihr eine Affäre hätte, hat er nicht verneint!«
»Und du schließt daraus, dass er die Beziehung zu ihr verheimlicht? Vielleicht kann er es nur nicht verstehen, dass du ihm so etwas unterstellst. Denn …« Rebecca machte eine kleine Kunstpause, atmete noch einmal tief durch, um ihrer Freundin Mut zuzusprechen: »Wie er mit Lea umgeht, das macht doch kein Mann, der seiner Familie untreu wird.«
Lydia schaute Rebecca mit ihren großen, hochroten Augen an. Dann sagte sie mit fester Stimme: »Das ist deine Meinung. Ich traue Tom ein Doppelleben zu. So spät, wie er manchmal nach Hause kommt, befürchte ich, dass er sich den Sex, den ich ihm schon seit fast einem Dreivierteljahr entziehe, woanders sucht.« Sich diese Tatsache einzugestehen, musste Lydia nicht leicht gefallen sein. Sie betrachtete ihre schlafende Tochter. Ohne den Kopf zu heben, sagte sie: »Wenn Tom mich wirklich betrügt, dann werde ich …«
Lydia kämpfte wieder mit den Tränen. »Zum Wohle unserer Tochter würde ich ihn nicht verlassen. Ich liebe Tom. Lea braucht einen Vater.«
Rebecca rückte näher an ihre Freundin heran und protestierte energisch: »Lydia, nein! Das kannst du dir nicht ernsthaft auferlegen wollen! Deine Tochter braucht einen Vater, der ehrlich mit dir ist und keinen, der ein Doppelleben führt. Du kannst doch nicht den Rest deiner Tage unglücklich sein wollen!«
Gequält presste sie hervor: »Und was wird aus dem Leben, das wir uns aufgebaut haben? Was wird aus dem Haus? Wir bezahlen es beide ab, und das noch auf viele Jahre.« Genau wie sie und Paul!
Rebecca hatte gehofft, Lydia von ihren eigenen chaotischen Gefühlen erzählen zu können. Aber das brachte sie nicht übers Herz. Ihre naiven Emotionen kamen ihr unbedeutend und geradezu lächerlich vor gegenüber der sich anbahnenden Ehekrise ihrer Freunde.
»Lydia?« Tom stand unten im Hausflur und rief nach seiner Frau. Seine Stimme kam Rebecca mit einem Schlag viel kälter vor. Sie beschloss, Paul diskret zu befragen und ihre Freundin nicht weiter zu belasten. »Lydia? Wo seid ihr denn?«, ertönte es erneut. »Ich dachte, wir wollten noch einen Wein zusammen trinken?«
»Gleich!«, rief Lydia zurück.
Sie wischte sich mit dem weiten Pulloverärmel die Tränen aus dem Gesicht. »Ich sehe verheult aus, richtig?« Rebecca nickte. »Geh runter und sage Tom, dass die Kleine nicht einschlafen will. Ich komme nach, sobald ich mich beruhigt habe.« Rebecca nahm Lydia fest in den Arm und drückte sie an ihre Brust, bevor sie nach unten ging.
Tom stand noch immer am Treppenaufgang. »Wo ist Lydia?«, fragte er beinah herrisch, als Rebecca das Hausflur erreichte.
»Die Kleine schläft nicht ein. Lydia muss noch ein Schlaflied singen.«
Er setzte ein skeptisches Gesicht auf. »Komisch, warum hat Lea nicht geweint? Wenn sie nicht einschlafen kann, weint sie in der Regel.« Er erwartete eine Antwort.
»Sie … war bereits eingeschlafen … und nun ist sie aufgewacht … als du gerufen hast.«
Verwundert zog Tom den Kopf nach hinten und sagte langsam: »Verstehe.« Dann begleitete er Rebecca ins Wohnzimmer, wo Paul lässig auf der grauen Couch saß.
Inzwischen waren die Männer zum Wein übergegangen. Tom setzte sich leger neben seinen Freund, während Rebecca etwas abseits von Paul Platz nahm. Sie beobachtete die beiden beim Reden, während sie selbst an einem Glas Weißwein nippte.
Tom und Paul waren beide Anfang Vierzig. Lydias Mann war etwas schlanker als ihr Freund, dafür hatte Paul mehr Haare auf dem Kopf. Bei Tom konnte sie erste graumelierte Strähnen erkennen. Zusammen mit seinem Dreitagebart ging er als ganz ansehnlicher Mann durch, der sicherlich gut bei jüngeren Damen ankam. Im Anzug, den er für gewöhnlich auf Arbeit tragen musste, machte er bestimmt keine schlechte Figur.
Welche Liebschaften er aber vor Lydia hatte, wusste Rebecca nicht. Ob er einer Affäre mit seiner Sekretärin offen gegenüberstehen würde?
»Ach so, Paul. Und dann hat Denise noch gesagt, dass sie uns gern mal besuchen würde. Sie möchte unbedingt meine Tochter kennenlernen. Sie liebt Kinder.« Paul nickte.
Mit welch einer Leidenschaft Tom von seiner Sekretärin sprach! In Anwesenheit seiner Ehefrau hätte er garantiert nicht so inbrünstig von ihr geschwärmt.
Nach einer Viertelstunde erschien Lydia. Sie setzte sich wortlos neben Rebecca und schaute nach unten auf den Teppich. Nach wenigen Minuten sagte sie: »Ich gehe das Geschirr aufräumen«, und verschwand in der Küche.
»Geht es deiner Frau nicht gut?«, fragte Paul, der ja nicht ahnen konnte, was für ein Drama sich im oberen Stockwerk abgespielt hatte.
»Ach was. Ist halt alles stressig mit der Kleinen.« Rebecca aber dachte sich ihren Teil.
Es war weit nach 21 Uhr, als Rebecca und Paul das Haus von Tom und Lydia verließen. Paul war angetrunken, weshalb Rebecca fuhr. Sie beschäftigte noch immer, was ihr ihre Freundin anvertraut hatte. »Sag mal, was hat dir Tom eigentlich über Denise erzählt?«
Nachdem Paul Alkohol getrunken hatte, war er deutlich gesprächiger als sonst. »Nichts weiter. Nur, dass sie irgendwann vorbeikommen will, um seine Tochter zu sehen.«
»Ja, das weiß ich, da war ich dabei«, sagte Rebecca gereizt. »Aber ihr habt doch schon vorher über sie gesprochen, als Lydia und ich oben waren.« Paul überlegte kurz.
»Nicht viel. Sie ist seine neue Sekretärin. Er hat ein wenig über ihr Privatleben erzählt. Wieso fragst du?«
»Du hast sie doch bestimmt schon gesehen, oder? Sieht sie gut aus?«
Wieder zögerte Paul kurz. »Schlecht sieht sie nicht aus. Um die Zwanzig, ziemlich durchtrainiert und mit langen blonden Haaren.«
Rebecca hörte den anerkennenden Unterton in der Stimme ihres Freundes mitschwingen. »Meinst du, Tom steht auf sie?« Paul gab keine Antwort.
Da es zu finster war, konnte Rebecca auch keine Reaktion in seinem Gesicht erkennen. Die Pause dauerte ihr zu lange. »Hat dir Tom irgendwas gesagt? Findet er sie gut, wie versteht er sich mit ihr?« Wieder blieb Paul ihr die Antwort schuldig.
Rebecca atmete schwer aus.
»Worauf willst du denn hinaus, Beccy?«, platzte es aus ihm heraus.
Sie lachte auf. Als ob er das nicht wüsste! »Traust du Tom zu, dass er Lydia betrügt?«
»Tom soll fremdgehen? Das glaube ich nicht«, sagte Paul schnell. Rebecca hörte trotzdem einen seltsamen Unterton in seiner Stimme. »Ich meine … Tom ist ein Mann … Er hat mir erzählt, dass er Denise … Aber er würde Lydia doch nicht … Nein, ich meine …«
Offenbar wusste Paul mehr, als er Rebecca gegenüber eingestehen wollte. Er beendete das Thema, indem er einfach die angefangenen Satzbrocken nicht mehr fortsetzte. Er schwieg, bis sie zu Hause ankamen.
Kapitel 4
Der einzige Lichtblick für Rebecca, nach diesem von schlechtem Sex und Ehekrisen überschatteten Wochenende, bestand darin, Lou wiederzusehen.
Es war ein kalter Dienstagmorgen mit Minus drei Grad Celsius. Rebecca beeilte sich schnell ins Schulgebäude zu kommen. Die Absätze ihrer Stiefel knallten mit schnellen Schlägen über das harte Kopfsteinpflaster.
Im Foyer angekommen, traute sie ihren Augen nicht: Elouan saß auf einer der kargen Bänke. Er trug lediglich einen Pullover, was bedeutete, dass er da seit geraumer Zeit saß, wenn er bei diesen widrigen Temperaturen seine Jacke bereits losgeworden war.
Als er Rebecca am Eingang entdeckte, erhob er sich und lächelte freundlich. »Guten Morgen, Frau Peters.« Sie schenkte ihm ein zartes Lächeln, bevor sie nah an ihm vorbeihuschte und ihr sein vertrauter Duft in die Nase stieg. »Sie sind sehr zeitig da.«
Rebecca drehte sich zu ihrem Schüler um, am Treppengeländer zur ersten Etage wartend. »Das Gleiche könnte ich dich fragen. Was tust du so früh hier?«
Lou lächelte erneut, schaute sie mit leicht schrägem Kopf an und sagte: »Ich habe eine eigene Wohnung in der Neustadt. Konnte nicht mehr schlafen. Hatte Sehnsucht nach …« Wieder grinste er. Während Lou sie verschmitzt von der Seite musterte, fragte sich Rebecca, ob er schamlos mit ihr flirten wollte.
»Hatte Sehnsucht nach der Schule, nach all den wunderbaren Menschen hier …« Rebecca kniff die Augen zusammen und zog die Stirn in Falten. Warum sagte er so seltsame Dinge? Und weshalb betrat er weit vor allen anderen Schülern das Gebäude?
»Lou, was ist los mit dir?« Er antwortete nicht, sondern drehte sich wortlos weg und lief zu seiner Bank zurück.
Baff von dem merkwürdigen Verhalten ging Rebecca die Treppe zum ersten Stock Richtung Lehrerzimmer hinauf, wobei sie permanent an ihren Schüler dachte.
Als sie Elouan zur Deutschstunde wiedersah, stand er nach wie vor neben sich, denn er meldete sich über die Maßen, redete aber von Dingen, die nichts mit dem Unterrichtsthema oder dem Lernstoff zu tun hatten. Mehrfach drehten sich die Mitschüler um, schüttelten mit dem Kopf oder verdrehten die Augen, als er zum Sprechen ansetzte.
Lou machte ungehindert mit seiner Märchenstunde weiter: »Wussten Sie«, begann er, während Rebecca den Mitschülern das Argumentationsschema von Sachtexten begreiflich machte, »dass die meisten Menschen sich nie trauen würden, das zu tun, was ich mache?«
Sie schaute auf, betrachtete Lou streng und sagte unter den Augen seiner Mitschüler scharf: »Was um Himmels willen meinst du und was hat das mit unserem Thema zu tun?«
»Frau Peters, die meisten Menschen ziehen sich nach einer Niederlage in ihr Loch zurück. Sie machen sich Vorwürfe, dass ihr Leben verkorkst ist. Aber ich weiß es besser. Ich war schon ganz unten«, dabei stand er auf und hockte sich hin, »und nun stehe ich ganz oben.« Elouan machte einen euphorischen Sprung in die Luft.
Die Münder der Mitschüler standen offen, manche lachten. Ein fieser Kommentar fiel.
Rebecca wusste nicht, was sie antworten, geschweige denn, wie sie reagieren und auf den Unterrichtsinhalt umlenken sollte.
Sie beschloss, bei Gelegenheit in seiner Schülerakte zu blättern, um mehr über seine Krankheit zu erfahren. Es war das erste Mal, dass sie ihren Schüler in einer derartigen Verfassung erlebte. Als ob er nicht er selbst wäre.
Nach neunzig Minuten ertönte das Klingelzeichen, das die große Pause einläutete. »Lou, warte mal kurz«, sagte Rebecca, als die Mitschüler des Zwanzigjährigen gerade das Zimmer verließen. Alicia warf einen sorgenvollen Blick zu Elouan, der bereits seine Tasche geschultert hatte und am Lehrertisch stand.
In seinen blauen Augen waren Schuldgefühle erkennbar: »Frau Peters, ich weiß, was Sie mir sagen möchten«, kam er Rebecca zuvor.
»So?«, fragte sie und stemmte die Faust in die Taille.
»Ich habe mich falsch verhalten. Habe Dinge gesagt, die meinen Mitschülern und Ihnen seltsam vorgekommen sind.« Zumindest war er in der Lage, sich ehrlich einzuschätzen.
»Ja, du hast dich heute sehr merkwürdig verhalten. Das kenne ich so nicht von dir. Ich meine …« Sie geriet ins Stocken, da sie nicht wusste, wie offen sie mit ihm sprechen durfte. »Du bist ein netter, liebenswürdiger junger Mann. Du arbeitest schön mit, gibst kluge Antworten. Man kann guten Unterricht mit dir machen. Heute aber nicht.«
Elouan sah beschämt auf seine Schuhe und wippte mit den Fußsohlen auf und ab. »Ich …« Seine Lippen formten Wortbrocken, während er den Kopf gesenkt hielt. »Ich weiß nicht …« Auch diesen Satz brach er ab. Plötzlich, aus heiterem Himmel, schluchzte Lou und dicke Tränen liefen ihm die Wange hinunter.
Er wirkte so zerbrechlich. Rebecca konnte nicht erkennen, welchen Fehler sie gemacht hatte oder was Elouan ernstlich bedrückte. »Lou?« Sie trat nah an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen linken Oberarm, der durch einen schwarzen Pullover verdeckt wurde. Sanft streichelte sie auf und ab, tröstend, aber mit dem Gefühl, ihn umarmen zu müssen. Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, ließ er sich nach vorn in ihre Arme gleiten.
Er weinte, schluchzte heftig, während er seine Hände fest um ihren schlanken Körper legte. Elouan konnte nichts mehr sagen, wurde von seinen Gefühlen übermannt.
Rebecca genoss die Nähe, streichelte fürsorglich über den Rücken des Zwanzigjährigen, der nun mit den Händen an ihren Schulterblättern entlangfuhr und dann sanft zu ihrer Taille und Hüfte nach unten wanderte.
Alicia, die als Letzte aus dem Raum gegangen war, hatte die Tür hinter sich zugeworfen. Kein Lehrer, der zufällig auf dem Gang vorbeikam, konnte erahnen, was sich im Deutschraum abspielte.
Die Zeit schien stehengeblieben zu sein, die Welt stand still. Noch immer ruhte Lou in Rebeccas Armen. Ihre Hände glitten zart über seinen Rücken und Lou berührte sanft ihre schlanke Silhouette. Seine Berührungen waren das Labsal, das sie gebraucht hatte. Sie genoss jede Sekunde, in der er ihr nahe war und sie ihn berühren durfte. Erst, als er an ihrem Po ankam, hörte er, scheinbar erschrocken über die Intimität, die er ihr geschenkt hatte, auf und blickte Rebecca, die ihn am liebsten nicht mehr losgelassen hätte, in ihre braunen Augen.
»Frau Peters«, schluchzte er. »Ich schäme mich so.« Sie schüttelte mitleidvoll den Kopf. »Doch. Ich schäme mich. Die anderen müssen mich für einen absoluten Trottel halten!«
»Quatsch, du hattest einen schlechten Tag«, beruhigte Rebecca.
Nach einer kleinen Pause sagte Lou leise: »Darf ich Sie um etwas bitten?« Sie nickte. »Bitte erzählen Sie niemandem davon, dass ich heute meine Medikamente nicht eingenommen habe. Würden Sie das für mich tun? Erzählen Sie bitte meiner Tutorin nichts davon und auch meinen Eltern nicht, ja?« Welche Medikamente? Wieder konnte Rebecca nur nicken, ohne den tieferen Sinn hinter seinen Worten zu begreifen.
»Warum hast du die Tabletten weggelassen? Darfst du das?«
Er schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Wenn ich sie vergesse, dann erlebe ich ein Gefühlschaos nach dem anderen. Aber heute … Irgendeine innere Stimme hat mir gesagt, dass ich sie weglassen soll und da habe ich …«
»Ist gut«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich verspreche dir, mit niemandem darüber zu reden.«
Ihre Worte mussten eine Erleichterung für ihn gewesen sein, denn wieder umarmte er Rebecca, diesmal weniger zärtlich; vielmehr erfüllt von dem Gedanken, dass da jemand war, der ihm zuhörte und der ihn verstand.
Als er sie losließ, sagte er: »Wenn rauskommt, dass ich die Tabletten nicht nehme, muss ich wieder bei meinen Eltern einziehen und das möchte ich auf gar keinen Fall, verstehen Sie?« Ihr knappes Lächeln reichte ihm. »Ich danke Ihnen Frau Peters. Sie sind ein guter Mensch.«
Obwohl es Rebecca nicht durfte, sagte sie aus dem Bauch heraus: »Geh nach Hause, egal welche Stunden du heute noch hast.«
»Danke«, antwortete er leise, bevor er mit Tränen im Gesicht das Klassenzimmer verließ. Vor dem Rausgehen lächelte er sie noch einmal sanft an.
Rebecca fragte sich, wie sie die chaotischen Gefühle in ihrem Inneren verarbeiten sollte – zumal nach dem Gespräch mit Lou heute. Mit Paul konnte sie nicht sprechen, da er jedem ernsthaften Dialog aus dem Weg ging – sogar, wenn es ihre Beziehung betraf. Lydia mit ihren Sorgen behelligen? Das wollte sie nicht. Schließlich hatte ihre Freundin genug mit ihrer Ehe zu tun. Rebecca musste ein besserer Weg einfallen, mit ihren Problemen, die sie beruflich und privat belasteten, umzugehen.
Zu Hause angekommen, sinnierend in ihrem Arbeitszimmer sitzend, holte sie ein vergilbtes Papier aus dem Rollcontainer ihres Schreibtischs heraus und schrieb:
Dienstag, den 8. März
Lieber Paul,
fragst du dich nicht, welchen Sinn unsere Beziehung noch hat? Bist du wirklich so naiv zu glauben, dass wir eine Zukunft haben? Ich habe dich geliebt. Aber das ist schon lange her. Die Liebe erkaltete, als du immer schweigsamer wurdest. Als du dich nur noch um das Haus gekümmert und mich vernachlässigt hast. Ich war und bin dir nicht mehr wichtig. Unsere Beziehung ist eine Farce. Ein Zusammenleben zweier Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben.
Wir streiten uns wenig und ich schlafe mit dir, obwohl es mir von Mal zu Mal weniger Lust bereitet. Ja, ich wünsche mir eine Familie, ein Haus, Liebe. Aber ob ich jemals das in dir sehe, was ich mir erträume, weiß ich nicht. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es richtig ist, das fortzuführen, was wir begonnen haben.
Ich weiß nicht, ob ich noch mit dir zusammen sein möchte, wo ich dich doch im Geiste bereits betrüge: wieder und wieder, und zwar mit einem meiner Schüler. Er heißt Elouan, ist zwanzig Jahre alt und geht in die elfte Klasse. Ich spüre Lust, wenn ich an ihn denke. Ich fühle, dass sich da mehr entwickeln könnte. Die Beziehung ist verboten, ich darf mich ihm nicht nähern und doch ist da etwas zwischen uns, das ich nicht erklären kann.
Ich wünsche mir Sicherheit. Die kannst du mir geben. Was könnte mir ein so junger Mann schon bieten? Ich wünsche mir vor allem Liebe, Paul. Verstehst du? Aber Liebe ist ein Wort, das dir fremd in den Ohren klingt. Du bist dir wichtig, dann kommt lange nichts und irgendwann komme ich.
Ich wünschte, ich könnte offen und ehrlich meine Meinung äußern; wünschte, ich könnte dir ins Gesicht sagen, wie sehr ich mich von dir vernachlässigt fühle, wie unaufmerksam und kalt du bist. Bitte, Paul, wenn du mich nicht verlieren willst, dann zeige mir, dass ich dir etwas wert bin!
Deine Rebecca
PS: Tom hat eine Affäre mit seiner Sekretärin Denise. Woher ich das weiß? Weibliche Intuition.
Die Worte sprudelten in Windeseile aus Rebecca heraus. Aber so, wie sie den Brief zu Ende geschrieben hatte, bereute sie ihn schon.
Gleichzeitig erleichterte es sie, Paul ihre Gefühle gestanden zu haben, so verwirrend, unzusammenhängend, widersprüchlich sie waren. Und dennoch: Nie würde sie den Mut aufbringen, den Brief in dieser Form zu überreichen.
Sie beschloss, das Dokument in das obere Schubfach ihres Rollcontainers, der sich unter dem Schreibtisch befand, einzuschließen. Rebecca kramte nach einem alten Briefumschlag und steckte das Papierstück dort hinein. Danach schob sie das Schubfach des Rollcontainers zu und schloss ihn ab. Gefühle, eingeschlossen in einen Rollcontainer.
Wohin mit dem Schlüssel? Auf dem Fensterbrett stand eine kleine Emailledose, auf der zwei ineinander verschlungene Herzen abgebildet waren. Paul hatte sie ihr zum ersten Jahrestag geschenkt. Es erschien Rebecca passend, den Schlüssel dort hineinzuwerfen. Sie wusste, dass er nie auf die Idee kommen würde, in diese kitschige Dose zu schauen.
Rebecca sehnte das Wiedersehen mit Lou am Donnerstag entgegen. Die ersten drei Stunden hatte sie mit dem Kunstunterricht in den unteren Klassenstufen verbracht.
Nun saß sie am Lehrertisch des Deutschraums und sah zu, wie ein Jugendlicher nach dem anderen in den Kursraum geschlurft kam. Nur Lou war nicht darunter. Rebeccas Blick ging Richtung Tür, in der Hoffnung, dass Elouan doch noch auftauchte – er erschien aber nicht mehr.
In einer ruhigen Minute im Unterricht suchte Rebecca das Gespräch mit Alicia: »Weißt du, was mit Lou ist?«, fragte sie, am Tisch der Schülerin stehend.
»Er war gestern auch nicht in der Schule. Wir haben nachmittags telefoniert, da ich ihm die Hausaufgaben vorbeibringe. Da meinte er bloß, dass er sich nicht wohl fühlt.«
Rebecca vermutete, dass seine Mitschülerin nicht ahnte, woran er wirklich litt. Sicherlich standen sein Fehlen und sein Verhalten am Dienstag in einem Zusammenhang. Traute er sich nicht mehr, seinen Mitschülern gegenüberzutreten? Schämte er sich noch immer? Rebecca hätte am liebsten selbst bei ihm angerufen, allerdings wollte sie sich ungern in Dinge einmischen, die sie nichts angingen.
Glücklicherweise traf sie Heidi in der nächsten Pause im Lehrerzimmer. Als Rebecca ihr von Lous Fehlen berichtete, schaute die Tutorin verwirrt drein. Sie wusste nicht, dass ihr Kursschüler seit gestern fehlte. »Okay, ich rufe mal bei ihm an.« Kurzerhand nahm sie ihr Smartphone aus der Tasche und wählte eine darin eingespeicherte Nummer.
Nach wenigen Sekunden hörte Rebecca Lous vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung. »Elouan? Hier ist Frau Enger. Frau Peters steht neben mir. Sie sagt, du fehlst schon seit gestern. Geht es dir gut?« Eine kurze Pause entstand. Lou antwortete etwas, das Rebecca aber nicht verstand. Heidi nickte während des Gesprächs einige Male, dann sagte sie: »Ist gut. Kurier’ dich aus und wir sehen uns dann nächsten Montag wieder, ja?«
Erneut verstrich eine kurze Pause. Dann legte die dicke, ältere Frau auf und wandte sich wieder Rebecca zu. »Elouan ist erkältet. Mach dir keine Sorgen, er ist Montag wieder da.« Seine Lüge zog bei Heidi, denn sie drehte sich unbeeindruckt weg.
Während Rebecca noch überlegte, ob sie ihr die Wahrheit sagen sollte, obwohl sie Lou versprochen hatte, es nicht zu tun, wurde die Tutorin von einem ins Zimmer tretenden Kollegen angesprochen und ihre Aufmerksamkeit auf ein neues Thema gelenkt.
An diesem Tag war etwas anders. Rebecca wollte in der Schule bleiben. Sie wollte erfahren, was mit Lou los war. Sie wollte endlich begreifen, was ihn beschäftigte. Sie wollte seine Krankheit durchdringen. Klarheit haben.
Seine Schülerakte sollte Gewissheit bringen.
Um ihre Neugierde möglichst unauffällig zu befriedigen, ging Rebecca unter dem Vorwand ins Sekretariat, sich über den Bad Boy ihrer Klasse in der Schülerakte belesen zu wollen. Einzig die Sekretärin war im Besitz des Schlüssels für das Archiv, in dem die Ordner mit den Schülerakten lagerten. Frau Schneider übergab ihr den Schlüssel. Aufgeregt strebte sie auf den Raum zu, der sich unweit vom Sekretariat befand.
In den Schränken standen jede Menge Verzeichnisse herum. Vorsichtig zog Rebecca den Ordner der Klassenstufe 11 heraus; gleichzeitig aber auch den für Klasse 8, falls die Sekretärin um die Ecke schaute.
Rebecca musste eine Weile suchen, bis sie Lous Akte gefunden hatte. Neben seinen Noten, die er vor mehr als drei Jahren gesammelt hatte, fielen ihr etliche psychologische Gutachten in die Hände. Sie überflog die Schreiben, die in kompliziertem Ärzte-Deutsch Auskunft über seinen Gesundheitszustand gaben. Immer wieder begegneten ihr Wörter wie »manisch«, »depressiv«, »schüchtern« oder auch »von sich selbst überzeugt«. Widersprüche über Widersprüche. Die Mediziner, die sich mit Elouan vor mehr als einem Jahr in einer Spezialklinik für Kinder- und Jugendpsychologie auseinandergesetzt hatten, schienen ihn gut unter die Lupe genommen zu haben.
Offenbar handelte es sich bei Lou tatsächlich um einen geistig gestörten Jugendlichen. Rebecca überflog ein Protokoll, das die Schulleitung nach einem Gespräch mit ihm angelegt hatte: »regelmäßig Tabletten einnehmen«, murmelte sie vor sich hin. Sie sollten seine Launen und Stimmungen im Gleichgewicht halten. Dies stellte die Voraussetzung dafür dar, dass er allein wohnen und die Schule geregelt besuchen konnte.
Rebecca musste schmunzeln, als sie das Datum des Protokolls wiedererkannte: Es war jener Tag, an dem ihr Lou zum ersten Mal im Sekretariat begegnet war. Ihr erschloss sich nun so einiges: Warum er so bedrückt wirkte, als er aus dem Büro des Direktors kam, wieso er geweint hat, als er in ihren Armen lag und weshalb er nicht wollte, dass jemand über die fehlende Tabletteneinnahme Bescheid wusste. Dass er ausgerechnet sie und nicht seine Tutorin in sein Geheimnis eingeweiht hatte, ehrte Rebecca zutiefst.
Sie hatte gesehen, was sie sehen wollte und wusste jetzt, woran sie bei ihrem neuen Schüler war. Sie stellte beide Aktenordner in den Schrank zurück, verschloss ihn sorgfältig und gab den Schlüssel im Sekretariat zurück.
Erschöpft schlurfte sie zu ihrem Auto. Es war ein langer Tag. Auf dem Parkplatz war außer ihrem Wagen noch das Auto ihres Chefs zu sehen. Ihr schneeweißer Audi besetzte eine der vielen Parklücken inmitten gähnender Leere aus Asphalt.
Am Auto angekommen, suchte sie nach dem Schlüssel. Ein Geräusch an der Beifahrertür. Erschrocken schaute sie auf und sah niemand Geringeren als Lou! Er musste die ganze Zeit über trotz der Kälte an der Beifahrertür gehockt haben. Anders konnte sie sich nicht erklären, dass er steif von dort aufstand.
Rebecca schloss auf, stellte ihre Schultasche auf den Rücksitz und stieg vorn ein. Ihr Schüler saß bibbernd auf dem Beifahrersitz. »Was machst du hier, Elouan?«
»Ich komme Montag wieder in die Schule«, sagte er knapp, ohne Emotion in der Stimme.
»Wenn du bis dahin nicht krank bist«, gab sie schmunzelnd zurück, um ihm ein Grinsen zu entlocken. Doch Lous Gesicht blieb versteinert. »Deine Tutorin sagt, du seist erkältet.«
»Das ist gelogen«, gab er freudlos zur Antwort. Er richtete seinen Blick stur auf den leeren Parkplatz. Er schämte sich noch immer für das, was geschehen war. »Sie wissen es besser. Ich bedauere, dass ich Ihnen Dienstag solchen Ärger verursacht habe und dass Sie meinetwegen Ihren Unterricht nicht ordentlich durchziehen konnten. Ich weiß, dass Sie immer alles perfekt machen wollen.« Wie gut er sie schon kannte.
»Ich schäme mich so, Frau Peters.« Er drehte sein Gesicht zu Rebecca herum, sodass seine blauen Augen ungebremst auf die ihrigen trafen.
»Lauerst du mir deswegen bei diesen Temperaturen an meinem Auto auf?«, fragte sie.
»Die Kälte interessiert mich nicht. Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen.«
»Wie lange wartest du schon auf mich?«