Kitabı oku: «Das Haus in den Dünen», sayfa 4

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Draußen heizte die Mittagssonne die Mauern und den Asphalt auf, so dass die Luft vibrierte. Vom reinigenden Gewitter der letzten Nacht war nichts mehr zu spüren.

Im großen Konferenzraum der Wilhelmshavener Kriminalinspektion in der Peterstraße stand die Luft unbeweglich. Neben Kleinschmidt, Beck und Trevisan hatten sich die Mitarbeiter des FK 1 und die zugeordneten Kollegen aus dem dritten Fachkommissariat um den großen Tisch versammelt. An der Tafel prangten die ersten Tatortbilder der vergangenen Nacht.

»Wir müssen von einem gezielten Anschlag auf den Fernfahrer ausgehen«, referierte Trevisan und wies auf die Tafel. »Nach dem festgestellten Spurenbild hat der Täter oder eine Tätergruppe hinter den Containern an der Westseite des Areals auf den LKW-Fahrer gelauert. Wir gehen davon aus, dass der Fahrer seinen LKW gegen 22.41 Uhr dort abstellte, nachdem er von einer Tour aus Spanien zurückgekommen ist. Seine Rückkehrzeit war in der Firma nicht genau bekannt, aber er wurde für den gestrigen Abend erwartet. In der Firma galt Kropp als zuverlässig, wenn auch ein wenig eigenbrötlerisch. Niemand unterhielt einen engeren Kontakt zu ihm und von Bekannten oder Freunden ist keinem in der Firma etwas bekannt. Weiter­hin müssen wir davon ausgehen, dass Kropp Drohbriefe erhielt.«

»Und in die Firma wurde nicht eingebrochen?«, unterbrach Dietmar Petermann Trevisans Vortrag.

»Es gibt dafür nicht die geringsten Anhaltspunkte«, antwortete Kleinschmidt. »Wir haben alles untersucht und fanden keinerlei Spuren. Weder an Fenstern noch an Türen.«

»Gibt es denn etwas Wertvolles in der Firma zu holen?«, fragte Monika Sander.

Trevisan zuckte die Schulter. »Kommt darauf an. In einer Spedition werden zeitweise teure Elektroartikel oder Fernsehapparate gelagert. Kropp transportierte Maschinen nach Spanien und brachte Kunststoffmuffen auf seiner Rückfahrt mit.«

»Wer braucht schon fünfzehn Tonnen Kunststoffmuffen?«, kommentierte Dietmar lächelnd.

Kleinschmidt räusperte sich. »Kollegen, wenn ich euch sage, dass es keine Aufbruchspuren an den Türen gibt, dann ist es so. Und wer bricht in eine Firma ein und trägt ein Gewehr über seinen Schultern? Man wollte Kropp umbringen, davon bin ich überzeugt. Sonst hänge ich morgen meinen Job an den Nagel.«

Monika nickte. »Das glaube ich auch.«

»Was wissen wir über den Toten?«, meldete sich Kriminaloberrat Beck zu Wort.

Trevisan blätterte in seinem Aktenordner. »Hans Kropp, geboren am 14. August 1964 in Werdum. Alleinstehend. Hat eine Stiefschwester in Dornum. Er ist geschieden, seine Frau wohnt in der Gegend um Pasewalk im Osten. Dort arbeitete er von 1995 bis 1998, bis er wieder nach Wilhelmshaven zurückkehrte. Er hat einen Sohn, der bei der Mutter lebt. Offenbar kam es damals in der Ehe zu Handgreiflichkeiten. Zumindest steht das so in seinen Akten. Er ist bereits mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten. Zweimal wegen Körperverletzung, unter anderem hat er seine Exfrau krankenhausreif geschlagen. Auch damals hat er im Osten für eine Spedition gearbeitet und ist Touren nach Polen und in die Tschechei gefahren. Zweimal wurde er wegen gewerbsmäßigem Zigarettenschmuggels angezeigt. Aktuell liegt eine Anzeige wegen Verstoßes gegen die Unterhaltspflicht vor, aber die Ermittlungen liegen auf Eis. Warum auch immer. Er zahlt zwar für seinen Sohn, aber den Unterhalt für die Frau spart er sich.«

Dietmar trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Dann gibt es also Motive genug.«

Trevisan nickte. »Ich denke, wir sollten bei seinen Familien­verhältnissen beginnen. Es soll Schwierigkeiten mit den Brüdern seiner Exfrau gegeben haben, berichten der Mechaniker und der Disponent der Firma. Ich denke, das ist ein guter Ansatzpunkt.«

Beck nickte. »Das sieht mir eindeutig nach einer Beziehungstat aus. Meiner Meinung nach ist der Fall mit ein paar gezielten Recherchen der Pasewalker Kollegen schnell aufgeklärt, wir dürfen nämlich nicht den Brandstifter vergessen. Der Serientäter hat Vorrang, dass wir uns da klar verstehen.«

Trevisan hob beschwichtigend die Hand. »Wir putzen den Fisch erst, wenn wir ihn im Netz haben. Aber ich denke, Beck hat recht, der Brandstifter ist immer noch da draußen unter­wegs und wir wissen nicht, ob er mittlerweile Gefallen am Tod von Menschen gefunden hat. Ich schlage deswegen vor, dass wir uns aufteilen. Ich kümmere mich mit Tina und Alex um Kropp und ihr sucht weiter nach dem Brandstifter.«

Dietmar räusperte sich. »Wir zahlen aber kein Essen, wenn ihr euren Mörder zuerst gefasst habt«, sagte er scherzend.

Trevisan schaute in die Runde und bemerkte Becks zufriedenen Blick. »Gibt es sonst noch etwas?«

Die Männer und Frauen des FK 1 schüttelten die Köpfe.

»Also dann, ran an die Arbeit!«

*

Der September begann mit einem weiteren heißen Tag. Am Himmel zogen kleine, weiße Wölkchen vor einem leuchtend blauen Himmel ihre Bahn.

Er atmete tief ein.

Sie war wieder zurück. Seit zwei Wochen schon. Zurückgekehrt, nach Hause gekommen, heimgekehrt – gescheitert.

Er war mit ihr aufgewachsen. Sie hatten zusammen gespielt, gelacht und sich manchmal gestritten. Sie gehörten zusammen wie der Wind und die Wolken, damals zumindest, als Jugendliche. Er hatte ihre weiche Haut geliebt, ihren Duft, der ein wenig an eine Blumenwiese erinnerte. Er hatte sich gewünscht, die Zeit würde nie enden. Doch die Tage waren viel zu schnell vergangen.

Einmal, als er ihr von Gott und dem reinigenden Feuer erzählte, hatte sie geantwortet: »Du bist schon ein sonderbarer Kauz. Und zu oft mit dem alten Josef zusammen. Der macht dich mit seinen Geschichten und seinen Sprüchen noch ganz wirr im Kopf.«

Sie hatte gelächelt und er hatte gewusst, er liebte sie. Er hatte ihr von seinem Traum erzählt, von dem gemeinsamen Leben, von Kindern.

»Du glaubst doch nicht, dass ich mein ganzes Leben hier in diesem gottverdammten Nest verbringen will und den lieben langen Tag deine Kinder hüten«, hatte sie geantwortet. »Ich will etwas erleben. Und ich will die Welt sehen, bevor ich hier noch ersticke.«

Sie war zu einer schönen jungen Frau geworden, hatte ihr Abitur gemacht und sich um einen Studienplatz in Hamburg beworben. Er hatte zu Gott gebetet und inständig gehofft, dass sie bleiben würde, doch Gott hatte nicht auf ihn gehört. Als sie damals gegangen war, hatte er geweint.

Er würde nie aufhören, sie zu lieben. Aber sie war nur selten in den Ort zurückgekommen.

»Das Studium ist hart, ich bin den ganzen Tag nur am Lernen«, hatte sie zu ihm gesagt. Sie hatte sich zusammen mit ein paar Freundinnen eine kleine Studentenwohnung in der Nähe von Hamburg gemietet. Er hatte ihr jede Woche geschrieben. Anfänglich hatte sie die Briefe noch beantwortet und manch­mal, wenn sie nach Wochen wieder nach Hause gekommen war, hatten sie sich getroffen und gequatscht. Doch er hatte gemerkt, dass er sie langsam verlor. Dennoch hoffte er, dass irgendwann alles wieder so werden würde wie früher.

Er hatte nicht aufgehört, ihr zu schreiben, bis ihm dieser tragische Unfall widerfuhr. Danach hatten sie sich nur noch ein einziges Mal getroffen.

»Ich bitte dich, schreib mir keine Briefe mehr«, hatte sie gesagt. »Ich habe einen festen Freund. Es ist etwas Ernstes. Ich will nicht, dass er die Sache missversteht.«

Er hatte genickt und seine Tränen zurückgehalten.

»Wenn wir unser Studium beendet haben, dann werden Joe und ich zusammen nach Amerika gehen«, hatte sie erzählt. »Computerfachleute werden dort immer gesucht.«

Es war das letzte Mal gewesen, dass sie mit ihm gesprochen hatte. Er hatte sie nicht mehr wiedergesehen, trotzdem stand ihm ihr Bild heute wie damals vor Augen. Das war eine Ewigkeit her.

Als er gestern den Weg entlanggegangen war und das kleine Mädchen im Sand hatte spielen sehen, war ihm der Atem gestockt.

»Swantje«, hatte er gestammelt und das blond gelockte Kind angestarrt.

Später hatte er erfahren, dass Swantje mit ihrer kleinen Tochter nach Hause zurückgekehrt war – seit zwei Wochen war sie wieder hier und er hatte es nicht einmal bemerkt.

Am Abend hatte er den alten Onno getroffen. Der wusste alles, was im Dorf und der Umgebung vor sich ging. Und er wusste auch, warum Swantje wieder zurückgekommen war. Ihr schöner großer Plan, die Welt zu erobern, war gescheitert. Ihr Freund hatte das Studium geschmissen, sich eine andere geangelt und sie verlassen. Sie selbst hatte ihr Studium wegen der Schwangerschaft unterbrochen. Amerika würde warten müssen, Swantje war nach Hause zu ihren Eltern zurückgekehrt.

Er wusste nicht, ob er Mitleid mit ihr haben oder sich freuen sollte. Liebte er sie noch, oder liebte er nur das Bild von ihr, das damals in ihm zurückgeblieben war?

Wenn er an die Vergangenheit dachte, sah er das kleine blond gelockte Kind wieder vor seinen Augen. Es war ein Kind der Sünde.

So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben.

*

Monika Sander warf den Aktenordner wütend zurück auf den Tisch.

»Ich weiß nicht, was ihr die ganze Zeit über gemacht habt, aber saubere Ermittlungsarbeit stelle ich mir anders vor. Die Informationen sind das Papier nicht wert. Ich muss ganz von vorne anfangen.«

Schneider rümpfte beleidigt die Nase. »Jetzt mach aber mal halblang, Monika. Du glaubst wohl, wir ruhen uns den ganzen Tag im Büro auf der faulen Haut aus. Ich habe vier Mann in meinem Dezernat. Sieben Juweliere wurden in den letzten fünf Monaten in der Gegend überfallen, eine Einbrecherbande leert einen Elektromarkt nach dem anderen und immer wieder verschwinden Nobelkarossen von den Parkplätzen. Wir haben eine Bande aus dem ehemaligen Jugoslawien in Verdacht, aber bislang konnten wir ihnen noch nichts nachweisen. Und jetzt kommst du daher und machst Theater, bloß weil wir diesen Spinner nicht dingfest gemacht haben.«

»Er hat bislang elf Brände gelegt«, konterte Monika.

»Er hat elf alte und leer stehende Ruinen angezündet, die früher oder später sowieso abgerissen worden wären«, fiel ihr Schneider ins Wort. »Eigentlich hat er mehr genützt als geschadet.«

»Aber jetzt haben wir einen Toten«, widersprach Monika. »Und alles nur, weil ihr nicht richtig ermittelt habt.«

Schneider fuhr auf. »Wirf mir nicht vor, dass wir nichts unter­nommen hätten!«, schnaubte er. »Wir haben alles versucht, was möglich war. Aber wir sind hier nicht im FK 1 und können aus dem Vollen schöpfen, so wie ihr. Als ihr hinter dem Wangerlandmörder her gewesen seid, mussten einige von uns euer Kommissariat verstärken, wenn du dich noch erinnerst. Uns wird in solchen Fällen kein Zucker in den Hintern geblasen. Wir sind das ganze lange Jahr auf uns alleine gestellt. Und wirf mir nicht vor, dass ich eine Raubserie­ diesem Spinner vorziehe, der alte Hütten in Brand steckt.«

Monika Sander griff nach dem Aktenordner und stürmte aus dem Büro.

»Wenn du nicht weiterkommst, kannst du ja zur Alten gehen und die Einrichtung einer Sonderkommission vorschlagen«, rief ihr Schneider nach. »Ihr Zuckerpüppchen vom 1. FK habt doch bei der einen Stein im Brett oder irre ich mich?«

Lautstark warf Monika die Tür ins Schloss. Auf dem Gang blieb sie stehen und atmete tief durch.

Was bildete sich Schneider nur ein?

Sie mochte ihren Kollegen vom 3. Fachkommissariat nicht. Schneider war überheblich, selbstherrlich und arrogant. Er mochte keine Frauen, vor allem nicht bei der Polizei. Doch was sollte sie tun? Sich über ihn bei der Direktorin oder bei Beck beschweren? Nein, diese Blöße würde sie sich nicht geben.

Tills Stimme hinter ihr riss sie aus den Gedanken. »Wo steckst du nur? Ich habe dich schon überall gesucht!«

Sie wandte sich um. »Was ist los?«

»Ich bin den ganzen Vormittag die Bibelzitate noch einmal durchgegangen. Sie stammen alle aus den fünf Büchern Mose.«

»Und was bedeutet das?«

Till zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es noch nicht. Aber ich denke, es muss eine Bedeutung haben.«

»Unser Brandstifter ist eben ein sehr gläubiger Mensch.«

»Das alleine ist es nicht«, entgegnete Till. »Wenn er einfach nur wahllos etwas über Feuer, Opfergaben und Sühne aus der Bibel abschreiben würde, warum dann nur aus den Büchern Mose? Ich kann nicht glauben, dass es Zufall ist. Es gibt weitaus populärere Sprüche.«

»Beginnt das Alte Testament, beziehungsweise die Bibel, nicht mit den Büchern Mose?«, fragte Monika. »Vielleicht hat er schlichtweg vorn angefangen und geht kapitelweise vor.«

»Das dachte ich zuerst auch«, entgegnete Till. »Und die Zitate haben tatsächlich eine chronologische Reihenfolge. Nach Genesis folgte Exodus, das zweite Buch Mose, und dann Levitikus, Buch Nummer drei. Trotzdem glaube ich, dass er ganz bewusst nur Sprüche aus den Überlieferungen von Moses aussucht. Ich habe nur noch keine Ahnung, welche Bedeutung sich dahinter verbirgt. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass uns die Zitate direkt zu ihm führen werden.«

Monika runzelte die Stirn. »Hast du mit Trevisan schon darüber geredet?«

Till schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo er steckt. Bislang hat ihn noch niemand gesehen.«

Monika nickte und wandte sich um.

»Da ist noch etwas«, hielt Till sie zurück. »Aus Bremen kam die Nachricht, dass Ammann und Schmitt bei den Kollegen aufgelaufen sind, die beiden Penner, die eine Zeitlang mit Baschwitz herumgezogen waren, unserem Brandopfer. Sie haben für die Brandnacht ein hervorragendes Alibi: Sie saßen in Aurich in einer Ausnüchterungszelle, weil sie in der Fußgängerzone total besoffen randaliert hatten. Die Kollegen in Aurich haben mir das telefonisch bestätigt. Die beiden wurden um 17.52 Uhr in Ausnüchterungsgewahrsam genommen und am nächsten Morgen um sieben wieder freigelassen. Du kannst sie von der Liste der Verdächtigen streichen.«

Monika seufzte. »Zurzeit streiche ich nur noch Namen von irgendwelchen Listen, ich habe die Befürchtung, dass am Ende niemand mehr übrig bleibt.«

Till verzog das Gesicht. »Wir kriegen ihn, wir brauchen nur Geduld.«

»Deinen Optimismus möchte ich haben.«

»Im Grunde genommen glauben der Pessimist und der Optimist an das Gleiche, nur ist der Optimist dabei glücklicher«, entgegnete Till lächelnd.

6

Miriam Kleese bewohnte ein kleines Einfamilienhaus am Rande von Dornum, im Schatten der Norderburg. Trevisan hatte seinen Wagen unter einer Reihe von Bäumen geparkt und hoffte, dass es im Innenraum des PKW trotz der dreißig Grad Außentemperatur einigermaßen erträglich bleiben würde, bis er zurückkehrte. Miriam Kleese war über den Tod ihres Halbbruders von der örtlichen Polizei informiert worden. Nach Trevisans Informationen hatte sie die Nachricht ohne sichtliche Bestürzung hingenommen. Im Gegenteil, sie hatte geantwortet, dass man sie in Ruhe lassen solle. Sie habe keinen Kontakt zu ihrem Stiefbruder mehr gehabt.

Den Rest des Weges zum Anwesen von Miriam Kleese ging Trevisan zu Fuß. Trotz der Hitze war er froh, der Enge der Dienststelle entkommen zu sein. Er war noch immer nicht richtig im Alltagstrott angekommen.

Das Wohngebiet lag im Osten Dornums. Kleine, verklinkerte Häuser erstreckten sich entlang der Straße zum Sportgelände. Trevisan lief den Gehweg entlang und suchte nach dem Haus mit der Nummer acht.

»Ihr glaubt wohl, ich bin auf der Welt, um euch den ganzen lieben langen Tag eure Sachen hinterherzuräumen!«, kreisch­te eine Frauenstimme. Trevisans Blick erfasste die Frau, die im Vorgarten des Anwesens Nummer acht stand und einen Ball in ihren Händen hielt. »Entschuldigung, sind Sie Frau Kleese?«

»Wer will das wissen?«, fragte sie abweisend. Sie mochte etwa an die dreißig Jahre alt sein, trug eine blau gemusterte Schürze und hatte ihre braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der die Strenge in ihrem Gesicht unterstrich.

»Mein Name ist Martin Trevisan, ich bin Kriminalbeamter und möchte mich mit Ihnen über Ihren Stiefbruder unterhalten.«

Die Frau warf den Ball achtlos in die Ecke. Ein kleiner Junge, wohl um die zehn Jahre, lief über den Rasen und krallte sich das runde Leder.

»Wenn er noch mal mitten im Weg liegt, dann hole ich das Beil und hacke ihn auseinander«, drohte Frau Kleese, ehe der Junge um die Hausecke bog. »Als ob man nicht schon genug zu tun hätte«, murmelte sie, ehe sie zur der Gartentür ging.

»Können Sie mir etwas über das Leben Ihres Stiefbruders erzählen?«, hakte Trevisan noch einmal nach.

»Ich sagte doch schon, die Sache geht mich nichts an«, fuhr sie Trevisan an. »Ich habe den Kerl beinahe zwei Jahre nicht mehr gesehen. Und das ist gut so. Er taugte nicht viel.«

»Er wurde ermordet«, erwiderte Trevisan.

»Wahrscheinlich hat er nur gekriegt, was er verdiente«, entgegnete Frau Kleese. »Er war ein Teufel.«

»Er war Ihr Stiefbruder.«

Frau Kleese verzog das Gesicht zu einem bissigen Lächeln. »Nur weil wir einen gemeinsamen Vater hatten, macht ihn das noch lange nicht zu meinem Verwandten. Da gehört mehr dazu. Hans war ein Schwein. Er hat alle ausgenutzt und nur an sich gedacht.«

»Wer könnte ihn umgebracht haben?«, fragte Trevisan.

Frau Kleese lachte laut auf. »Fragen Sie lieber anders herum: Wer mochte ihn überhaupt? Wenn Sie nach Leuten suchen, die Gründe hätten, ihm Gift zu geben, dann schreiben Sie mich ruhig auf Ihre Liste. Aber ich sage es Ihnen gleich, es wird ein langes Stück Papier.«

»Gehen Sie nicht ein wenig zu hart mit ihm ins Gericht?«, fragte Trevisan.

»Sie haben ihn nicht gekannt«, entgegnete Miriam Kleese barsch. »Er hat meine Mutter auf dem Gewissen.«

»Das verstehe ich nicht«, antwortete Trevisan. Eine Schweiß­perle lief über seine Stirn.

Die Frau überlegte. »Na ja, eigentlich habe ich überhaupt keine Zeit, aber wenn Sie jetzt schon mal hier sind und bevor wir noch länger in der Sonne stehen: Kommen Sie herein.«

Sie ging voran und führte Trevisan durch den Flur in die Küche. Die Wohnung war aufgeräumt und ordentlich. Farbenfrohe Kinderzeichnungen von Schiffen und dem Meer hingen an den weißen Türen des Küchenschrankes, liebevoll angeordnet und mit Klebstreifen befestigt. Vielleicht war ihre Strenge nur Fassade.

»Ihr Junge zeichnet anscheinend gerne?« Trevisan setzte sich auf den angebotenen Platz auf der Eckbank.

»Ich habe drei Kinder«, erwiderte die Frau. »Zwei Mädchen, eine sieben, die andere zwölf, und Tommy. Er ist zehn und manchmal ganz schön wild.«

Trevisan zeigte auf die Bilder. »Die Kinder lieben wohl das Meer.«

»Das will ich meinen«, entgegnete die Frau. »Ihr Vater ist Steuermann auf einem Frachter. Wenn er zu Hause ist, nimmt er die Kinder manchmal mit in den Hafen.«

»Ist er denn zu Hause?«, fragte Trevisan trocken.

Miriam Kleese musterte Trevisan nachdenklich.

»Ha, einmal Polizist, immer Polizist«, antwortete sie. »Aber ich muss Sie leider enttäuschen. Helge dürfte sich gerade irgendwo im Indischen Ozean befinden. Die Ocean Queen läuft in drei Tagen in den Hafen von Hongkong ein. Da müsste er schon zaubern können, wenn er etwas mit dem Tod von Hans zu tun hätte. Obwohl er ebenso viele Gründe hätte wie ich, es diesem Kerl heimzuzahlen. Aber das wissen Sie doch bereits. Sie haben sich ja sicherlich gut auf Ihren Besuch vorbereitet.«

Trevisan schüttelte den Kopf. »Ich kam her, um mir ein Bild vom Ermordeten machen zu können. Ich hatte keine Hintergedanken, das können Sie mir ruhig glauben.«

Miriam Kleese stellte ein Glas Wasser vor Trevisan auf den Tisch, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Dann will ich Ihnen mal meinen Stiefbruder beschreiben, damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben«, antwortete sie schnippisch. »Ich sagte bereits, er war ein Teufel. Meine Mutter heiratete seinen Vater, als Hans gerade mal fünf war. Sein Vater brachte ihn mit in die Ehe. Ich wurde kaum ein Jahr später geboren.«

»Was war mit seiner leiblichen Mutter?«, frage Trevisan.

»Sie ist ins Wasser gegangen, da war er vier«, antwortete Miriam Kleese bissig. »Was soll man mit zwei solchen Halunken zu Hause schon anderes machen. Sein Vater war nämlich keinen Deut besser als er.«

»Lebt sein Vater noch?«

Miriam Kleese lächelte kalt. »Hat sich den Kragen abgesoffen. War kaum zwei Jahre mit meiner Mutter zusammen, da ließ er den Balg zurück und türmte. Verschwand einfach, zahlte nichts und blieb wie vom Erdboden verschluckt. Ich war damals erst ein paar Jahre alt. Wir erfuhren erst durch die Polizei, dass er sich nach Hamburg fortgemacht hatte und dort in einem Wohnheim für Penner gestorben ist. Und da meinten die Behörden noch, meine Mutter sollte für die Beerdigung aufkommen. Denen haben wir was gepfiffen.«

»Und Hans Kropp?«

»Meine Mutter kümmerte sich um ihn, aber es gab nur Probleme«, fuhr Miriam Kleese fort. »Er klaute, rauchte schon als Vierzehnjähriger und soff heimlich. Einmal habe ich ihn beim Biertrinken erwischt, da schlug er mich grün und blau und drohte, mir den Hals umzudrehen, wenn ich ihn bei Mutter verpfeife. Aber sie wurde sowieso nicht mit ihm fertig. Wir wohnten damals in Norden. Mutter schaltete das Jugendamt ein, aber von dort hieß es immer nur, dass sie die Verantwortung für ihn trägt, weil sie sich mit seinem Vater eingelassen hatte.«

»Hatte sie ihn denn adoptiert?«

»Adoptiert, danach hat doch keiner gefragt«, erwiderte Frau Kleese bissig. »Einmal haben die vom Jugendamt ihn auf Bitten meiner Mutter für sechs Wochen zu einer Ferienfreizeit für Schwererziehbare nach Spiekeroog mitgenommen, aber nach kaum vier Wochen schickten sie ihn wieder zurück. Er störe den Ablauf und terrorisiere die anderen Jugendlichen, sagten die Leute vom Jugendamt. Na ja, wenigstens haben sie meiner Mutter dann ein paar Kröten dafür bezahlt, dass sie sich weiter um ihn kümmert.«

Trevisan blickte aus dem Fenster. Eine dunkle Wolke schob sich von Westen über den Himmel voran. Sollten die Wetterfrösche recht behalten und es doch noch Gewitter geben?

»Wir zogen dann nach Dornum. Ich war froh, als er die Schule abgeschlossen hatte und in Norden eine Ausbildung als Kraftfahrzeugmechaniker begann. Zumindest die Woche über war er weg und wohnte in einem kleinen Zimmer bei einer Bekannten von Mutter. Aber für Mutter war es zu spät, sie hatte keine Nerven mehr. Sie starb, als ich zwanzig war. Er war daran schuld.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Trevisan.

»Er hat ihr die letzten Nerven geraubt und war durch und durch schlecht. Er wurde schon als schlechter Mensch geboren.«

»Niemand wird als schlechter Mensch geboren«, widersprach Trevisan. »Meist ist es das Umfeld oder widrige Umstände, die jemanden in seiner normalen Entwicklung aus der Bahn werfen.«

»Hört, hört«, witzelte Miriam Kleese. »Kein Wunder, dass es tagtäglich schlimmer wird mit Mord und Totschlag, wenn schon die Ordnungshüter nach Entschuldigungen für diese missratenen Kerle suchen. Aber ich weiß, wovon ich spreche. Der alte Kropp war abgrundtief schlecht und sein Sprössling war keinen Deut besser.«

»Haben Sie ihn in der letzten Zeit mal gesehen?«, unterbrach Trevisan ihren Vortrag über Gut und Böse.

»Ich sagte schon, es ist etwa zwei Jahren her.«

»Wo trafen Sie ihn?«

»Er kam hierher.«

Trevisan spürte, dass die Frau nicht darüber sprechen wollte. Er neigte den Kopf und schaute sie fragend an. »Was ist geschehen?«

Miriam Kleese zögerte.

»Jetzt haben Sie mir bereits den gesamten Lebenslauf Ihres Stiefbruders erzählt, nun können Sie mir ruhig noch den Rest erzählen.«

Miriam Kleese fuhr sich durch die Haare. »Sie werden es ja sowieso erfahren«, seufzte sie. »Nachdem Mutter gestorben war, verschwand er wie sein Vater. Ich hörte nur, dass er irgendwann in den Osten ging und dort geheiratet hat. Die arme Frau, dachte ich mir.«

»Und was war vor zwei Jahren?«

»Er muss irgendwie meine Adresse erfahren haben. Er tauchte kurz vor Anbruch der Dunkelheit auf. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.«

»Was wollte er?«

»Er brauchte Geld, aber ich habe ihn nicht ins Haus gelassen«, sagte Miriam Kleese. Ihre Nervosität war nicht zu übersehen.

»Ist er gegangen?«

Sie starrte durch das Küchenfenster. Draußen verdunkelte sich der Himmel. Eine Träne bahnte sich den Weg über ihre Wange.

»Was hat er getan?«, fragte Trevisan leise.

Eine zweite Träne folgte. Miriam Kleese schlug die Hände vor die Augen. Ein lauter Donnerschlag drang durch das Haus.

»Was?«, fragte Trevisan eindringlich. Dicke Regentropfen prasselten gegen das Fenster.

»Er hat versucht, mich zu vergewaltigen«, flüsterte Miriam Kleese.

Eine Weile schwiegen beide, nur das Gewitter und der Regen füllten die Stille.

»Er hat es versucht?«, fragte Trevisan.

Sie nickte. »Mein Nachbar kam zufällig nach Hause. Er hat wohl gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und kam mir zu Hilfe.«

»Und was geschah dann?«

»Er ist abgehauen. Er hat sich nie mehr blicken lassen.«

»Haben Sie ihn angezeigt?«

Miriam Kleese schüttelte den Kopf.

»Weiß Ihr Mann davon?«

Sie nickte. »Ich habe es ihm erzählt, als er von seiner Tour zurückkam. Helge ist kein Schwächling. Er hat herausgefunden, wo er ihn finden kann. Er hat ihn abgepasst und ordentlich vermöbelt. Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört. Das ist jetzt fast zwei Jahre her.«

Trevisan atmete tief ein. »Hat Ihr Mann ein Gewehr?«

Miriam Kleese trocknete ihre Tränen. »Er hat ihn nicht umgebracht, er ist gar nicht hier.«

»Entschuldigen Sie, aber ich muss Ihnen diese Fragen stellen«, entgegnete Trevisan. »Gibt es ein Gewehr im Haus?«

»Nein«, antwortete Miriam Kleese. »Sie können nachschauen, wenn es Sie interessiert.«

Trevisan wechselte das Thema. »Wissen Sie etwas über seine Ehefrau?«

Ein lauter Donnerschlag ließ das Haus erzittern.

»Ich weiß nichts über ihn, und ich will auch nichts wissen. Ich bin froh, dass er nicht mehr am Leben ist. Endlich ist Ruhe und er hat bekommen, was er schon lange verdient. Irgendwann muss eben jeder seine Zeche bezahlen. Und jetzt gehen Sie bitte, ich will alleine sein.«

Trevisan nickte und erhob sich. Wortlos ging er auf die Tür zu.

»Wie ist er überhaupt gestorben?«, fragte sie, noch immer am Tisch sitzend und aus dem Fenster starrend.

»Er wurde erschossen«, antwortete Trevisan, bevor er das Haus verließ und ihn der warme Gewitterregen empfing.

*

Das kleine Mietshaus lag abseits der Hauptstraße in einem Wohngebiet in Heppens. Efeu rankte sich an der Hauswand in die Höhe und reichte fast schon unter das Dach.

Hans Kropp hatte hier beinahe zwei Jahre eine kleine Einliegerwohnung im Erdgeschoss bewohnt. Sein Vermieter, ein wortkarger Rentner, ließ Alex und Tina ins Haus, nachdem sie sich ausgewiesen hatten.

Er beschrieb Kropp als ruhigen Mieter, der ab und an einen über den Durst getrunken, aber ansonsten eher ruhig und zurückgezogen gelebt hatte. Die Miete hatte er in letzter Zeit pünktlich bezahlt und Besuch hatte er nie empfangen. Nur einmal, vor einem Jahr etwa, hatte es einen Zwischenfall gegeben. Eine Frau war aufgetaucht und mit Hans Kropp in die Wohnung gegangen. Ein paar Stunden darauf hatte es einen heftigen Streit gegeben. Die Frau sei wie eine Furie aus der Wohnung gestürmt und seither nie wieder da gewesen. Alles in allem könne er nicht verstehen, warum man Hans Kropp umgebracht habe.

Er öffnete mit einem Zweitschlüssel bereitwillig die Wohnung des Ermordeten.

Alex blickte sich verwundert darin um. Er hatte eine typisch unordentliche Junggesellenbude erwartet. Aber obwohl die Wohnung nur aus einem großen Zimmer mit einer Schlafcouch, einer Kochnische und einem Badezimmer mit WC bestand, war sie durchaus ordentlich und aufgeräumt.

In einem Vitrinenschrank aus Kiefer waren auf den drei Einlegeböden unzählige kleine Figuren aus Überraschungseiern verteilt. Oben auf dem Schrank lag neben einem Bild von Hans Kropp, das ihn neben seinem Lastwagen zeigte, eine Plastikrose, eine Trophäe aus einer Jahrmarktsschießbude. Das Bett war ordentlich hergerichtet und die Kissen aufgeschüttelt. Auf dem Tisch lagen zwei Fernbedienungen, die zum Fernseher und der kleinen Stereoanlage auf dem Phonowagen neben der Badtür gehörten.

Alex begann, die Schrankschubladen zu öffnen. »Sieht so aus, als ob er Wert auf Ordnung legte«, sagte er und kramte weiter.

Tina durchsuchte in der Kochnische die beiden Schränke, die über der Koch- und Kühlkombination hingen. Selbst das Geschirr war sauber und akkurat eingeordnet. »Wenn wir nicht wüssten, dass er zu Lebzeiten ein ganz schöner Rabauke war, könnte man meinen, wir hätten es mit einem wertvollen Mitglied unser Gesellschaft zu tun«, antwortete sie.

Alex öffnete eine Schranktür und fand fein säuberlich aufgereihte Aktenordner. »Versicherungen, Kaufverträge, Lebenshaltung«, murmelte er. Schließlich stieß er auf einen Packen Briefe, die mit einer Schnur zusammengehalten wurden. Er löste den Knoten und begann zu lesen, während Tina im Badezimmer verschwand.

Alex ließ sich auf einem der beiden Sessel nieder. Nach einer kurzen Weile pfiff er durch die Zähne.

»… wir werden dich finden, egal wo du dich verkriechst. Du kommst uns nicht davon …«, las er laut vor.

Tina kam aus dem Badezimmer und lehnte sich gegen die Wand.

»Auf die Gerichte ist kein Verlass«, fuhr Alex fort, »deshalb werden wir selbst tun, was zu tun ist. Jenny hat das nicht verdient. Du wirst dich an jeden einzelnen Schlag erinnern. Mach dich auf etwas gefasst.«

»Was hast du da?«, fragte Tina.

Alex atmete tief ein. »Ein Sammelsurium an Drohbriefen, alle aus diesem Jahr.«

»Hast du auch den Absender?«

»Sie sind an eine Postfachadresse gerichtet, Empfänger ist Hans Kropp. Der Absender heißt Günter Basedow und wohnt in Stolzenburg, der Postleitzahl nach liegt das im Osten.«

»Ich bin gespannt, was Trevisan davon hält«, sagte Tina.

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Litres'teki yayın tarihi:
25 mayıs 2021
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9783839265048
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