Kitabı oku: «Sonnenfinsternis», sayfa 2

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M war aufgewacht, ohne wirkliche Erinnerungen an das Gespräch mit der Wahrsagerin. Aber er hatte ein starkes Gefühl mitgenommen, das ihm anzeigte, es würde bald Einiges geschehen, das sofort die Brücken zu seinem Unterbewusstsein finden würde. Er musste sich eine Zeitlang neu sortieren. Er rief sich zur Ordnung, seinen Pflichten als Bundestagsabgeordneter nachzukommen. Er wollte daran glauben, dass es einen Zusammenhang zwischen den Andeutungen seiner Wahrsagerin und seiner politischen Rolle geben müsse. Jetzt war er gefragt.

In der Woche nach der Sonnenfinsternis ist eine weitere Sitzungswoche des Deutschen Bundestages angesetzt. M nimmt an ihr teil, unauffällig, aber korrekt den Erwartungen folgend, die ihm von seiner Fraktion entgegengebracht werden. Als er die Wahrsagerin verlassen hatte und darüber grübelte, was sie ihm denn offenbart hatte, fand er nur drei Buchstaben in seiner Erinnerung: DWB. Er konnte mit ihnen nichts verbinden, und auch das Googeln half ihm nicht weiter. Er rief im Bundeskriminalamt – BKA – an. Auch dort hatte er keinen Erfolg. Obgleich er dreimal durchgereicht wurde, konnte er keine Spur von diesen Buchstaben im Amt ermitteln. Man verwies ihn an die örtliche Polizei. Dort wurde er fündig. Am 3. November 2014 hatte es einen Anschlag vor dem Reichstag gegeben. Personenschaden war nicht zu beklagen und der Sachschaden war unerheblich. Allerdings fand die Polizei im Papierkorb einen Stapel Flugblätter, die eine Putzfrau am Montagmorgen dorthin befördert hatte. Diese Flugblätter hatten tatsächlich den Absender „Deutsche Widerstandsbewegung“ – DWB –.

Der Abgeordnete M, im Innenausschuss des Bundestages für Innere Sicherheit zuständig, fühlt sich herausgefordert. Das Wochenende zwischen der Sonnenfinsternis und der Sitzungswoche des Parlaments nutzt er hektisch für Recherchearbeiten. Er beginnt für seine privaten Aufzeichnungen eine neue Kladde, die er mit dem Titel überschreibt: „Im Jahr der Sonnenfinsternis“.

Solche Kladden begleiten seinen Aufstieg aus der kommunalen Politik in die gehobenen Kreise der Politik in Berlin. M schreibt in sie regelmäßig, oft in der Form eines Tagebuches, aber auch in der Form von Visionen und Konzepten, für die er sich eine führende Rolle reserviert. Beide bisherigen Kladden hatten die gleiche Überschrift „Wenn ich Kanzler wäre I“ und „Wenn ich Kanzler wäre II“. Für M hatten die Kladden eine große Bedeutung. Nicht so sehr die einzelnen Inhalte waren es, die ihm ans Herz gewachsen waren. Wichtiger war ihm eine andere Erfahrung: Sammelte er sich und schrieb in die Kladde seine Sätze, fühlte er sich in seiner Rolle als Politiker aufgewertet, spürte die Potenziale in sich, mit Macht umgehen zu können. Dann hatte er ein kaum beschreibbares Gefühl, was es bedeutet, ein Politiker zu sein. Oft wurde er mit der Frage konfrontiert, welche Macht er als Abgeordneter habe. Er wusste die Frage anderen Menschen gegenüber nur mit stereotypen Wörtern zu umschreiben wie Verantwortung, Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten, Mitwirkung am politischen Regierungskonzept, Arbeit an guten Gesetzen. Wenn er vor seiner Kladde saß und schrieb, war das ganz anders. Dann sah er die Welt ohne sich als etwas Unförmiges, als eine zerklüftete Landschaft aus Lug und Betrug, in der Menschen wie er mit der Kraft ihres Wissens und ihres Daseins Schlimmeres verhüten. Schrieb er an sich selbst, war er ein Mann, den er sehr achtete, der ihm aber auch unheimlich war. Es entstanden dann Gefühle, nach denen er süchtig war. M widersetzte sich seinen Gefühlen nicht. In seiner Kladde lebte er seine Sucht aus, rührte an tieferen Schichten seines Inneren, die im Alltag völlig zugedeckt waren.

Die neue Kladde mit den Aufzeichnungen nach der Sonnenfinsternis beginnt mit den Sätzen: „Eine deutsche Widerstandsbewegung hatte es in der Sowjetzone der 50er Jahre gegeben. In ihr waren sicher ehrenhafte Männer. Aber wir kennen sie nicht. Sie verschwand spurlos.“ M war auf der einen Seite stolz, ganz von allein einem Skandal auf die Spur gekommen zu sein, dessen politische Tragweite noch gar nicht abzusehen war. Auf der anderen Seite erregte ihn die Vorstellung, weil er nicht ausschließen konnte, dass sein Besuch bei der Wahrsagerin ihn eigentlich auf die Spur gesetzt hatte, ohne dass er sich genau erinnern konnte, was dort bei dieser Frau mit ihm geschehen war. Der Besuch in Friedrichshain am Nachmittag des Tages der Sonnenfinsternis war ihm in den Knochen stecken geblieben. Er quälte sich, durch intensives Nachempfinden herauszufinden, welche Botschaften die Frau ihm überbracht hatte. Auf dem Weg, das irgendwie haften gebliebene Kürzel DWB zu entwirren und mit Anschlägen gegen seine Republik in Verbindung zu bringen, schwirrten immer wieder Assoziationen und Wortfetzen durch seinen Kopf, von denen er nicht wusste, welchen Ursprung sie hatten. Mit der Zeit jedoch war er sich immer sicherer geworden, dass bei der Verabschiedung von seiner Wahrsagerin noch ein Satz von ihr gesprochen worden war, der zunehmend als Last des Besuchs auf seiner angespannten Seele lag. Als er nämlich die Frau nach dem Tag der Sonnenfinsternis tief in der Nacht verlassen hatte, und sie im matten Schein der Kugel Auge in Auge sehr nahe gegenübersaßen, hatte sie seine beiden Hände fest gedrückt, was bei ihr nie üblich war, und hatte fast ängstlich mit unterdrückter Stimme geflüstert: „Es wird sehr bald etwas Fürchterliches geschehen, das unser ganzes Land in Schrecken versetzen wird. Ich sehe, wie etwas in voller Wucht zerschellt, sehe einen Regen aus Trümmern vom Himmel fallen.“ Ihre Stimme war dann erloschen, und die Wahrsagerin hatte ihn schnell aus der Tür gedrückt und sie hinter ihm laut verschlossen.

M kann sich gut erinnern, wie unsicher seine Schritte auf der Straße waren, obgleich er sich viel Mühe gab, keinerlei Aufsehen zu erregen. Er winkte sich ein Taxi und ließ sich in ein ihm bekanntes Hotel in die Mitte der Stadt fahren. Er hatte nur wenige Sachen in eine Handtasche gesteckt, als er seine Wohnung am Nachmittag des Tages der Sonnenfinsternis verlassen hatte. Unter den wenigen Sachen war auch die neue Kladde. Er blieb von der Nacht bis zum Montag früh im Hotel. Seine einzigen Ausflüge in dieser Zeit führten ihn zur Polizei. Dort hatte er mit dem Kommissar Peter L. einen vortrefflichen Informanten getroffen.

Er hatte herausgefunden, dass es in den letzten Monaten jeweils in der Nacht vom Sonntag auf den Montag vier Anschläge gegeben hatte, deren Handschrift gleich war und auf ein und denselben Täter hinwiesen. Dennoch blieben Hintergründe und Tatabläufe rätselhaft. Brandsätze, die alle ohne großen Schaden anzurichten gezündet waren, wurden gegen den Reichstag, gegen die CDU-Geschäftsstelle im Tiergarten und zweimal gegen das Paul-Löbe-Haus, den langen Gebäudetrakt des Bundestages gegenüber dem Bundeskanzleramt, geworfen. Diese Objekte galten als besonders gut gesichert und mit Videokameras überwacht. Kein einziges Mal hatte es irgendwelche Spuren eines Täters gegeben. Kommissar Peter L. war sicher, dass bei den Ermittlungen die Scham über das Versagen der umfangreichen Überwachungen die Tateinschätzung mit weitem Abstand am stärksten prägte. Die Öffentlichkeit hätte sich mehr über die staatlichen Stellen als über die Taten empört, zu Recht, wie er meinte.

An jedem der Tatorte wurden Flugblätter der DWB gefunden, sehr amateurhaft gemacht, mit inhaltlich unauffälligen Aneinanderreihungen allgemein bekannter Sätze gegen Flüchtlinge und Migranten. Über die Deutsche Widerstandsbewegung wussten die Geheimdienste eigentlich nichts. Das war der politische Skandal, wie M sofort erkannte. Auch M interessierte sich nicht besonders für die Inhalte der Pamphlete. Er las da den üblichen rechtsradikalen Unsinn, wie er zurzeit zuhauf verbreitet wurde. M empörte es, dass eine bisher unbekannte Gruppe, ohne aufzufallen, zentrale Gebäude der Demokratie attackieren konnte. Das darf sich eine wehrhafte Demokratie nicht gefallen lassen. Mit vergleichsweise beschränkten Mitteln können ein paar Verrückte alle aufwändigen und teuren Sicherheitssysteme überlisten und Anschläge im Allerheiligsten der Macht verüben, und keiner weiß etwas Genaues. M fühlt sich im Herzen getroffen.

M fühlt aber in der Empörung und Verwirrung auch einen anderen Zugang zu der skandalösen Sache. Offensichtlich ist er der erste Politiker, der dieser Spur nachgeht. Auf ihn kommt es jetzt an. M sieht in sich seine Bedeutung als Politiker wachsen. Ab nun wird seine Stimme Gewicht bekommen. Er wird gefragt sein. Er wird ruhig und selbstbewusst Antworten vortragen, in seinem Ausschuss berichten, vor der Presse sein Gesicht zeigen. Dieses Wochenende wird der Ausgangspunkt für einen Sprung in seiner Karriere sein. Mit Peter L. hat er ins Schwarze getroffen. Auf ihn wird er sich berufen können, ohne ihn als Informationsquelle zu nennen und ihn in seinem dienstlichen Umfeld beruflich zu gefährden. Natürlich wird er mit keiner Silbe erwähnen, wie ihn seine Wahrsagerin auf die Spur gesetzt hatte. Für sie empfindet er jetzt dankbare Zuneigung.

Ganz so ahnungslos waren die staatlichen Einrichtungen allerdings nicht, wie M zunächst annahm. M hatte nicht ganz genau hingehört, was ihm bereits Peter L. zu berichten wusste. Diese Passage der Unterhaltung war zu sehr überlagert durch die Versicherungen und Rückversicherungen für einen unbedingten Informantenschutz, die mit einer Art Schwur durch M abgeschlossen wurden, dass sich M dafür verbürge, nie dieses Treffen zu erwähnen und nie den Namen des Informanten oder seine Dienststelle ins Gespräch zu bringen. Peter L. zur Folge hatte der Generalbundesanwalt bereits nach dem zweiten Anschlag wegen des Inhalts der Flugblätter einen „Beobachtungsvorgang“ für die Akten anlegen lassen und darüber in der Sitzung des „Gemeinsamen Extremismus und Terrorismus Abwehrzentrum“ informiert. M hatte sich lediglich das Stichwort Generalbundesanwalt notiert, das Zentrum hatte er nicht weiter beachtet. Ihm gehörten auch das Bundeskriminalamt und das Landeskriminalamt Berlin an. Das waren Informationen, die M nicht sorgfältig genug registriert hatte. So war ihm entgangen, dass das LKA bereits die Berliner Staatsanwaltschaft informiert hatte, die in Sachen Brandstiftung wegen der rätselhaften Nachtanschläge ermittelte. Aber richtig liegt M mit der Einschätzung, dass es keine Aufklärung gegeben hatte, dass die ganze Sache der Öffentlichkeit vorenthalten war.

In seinem Hotel grübelt M über seine nächsten Schritte. Vor seinen Augen entsteht die Dramaturgie für die Einrichtung eines neuen Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages, möglichst unter seiner Leitung. Seine Handlungsstrategie ist aus seiner Sicht konsequent und politisch zwingend. Das kriminelle Delikt der Anschläge muss in die politische Sprache des Schutzes von Staat und Gesellschaft übersetzt werden. Die Inhalte der Flugblätter sieht er nicht als die eigentliche Gefahrenquelle. Sie sind für ihn die intellektuelle Form rechtsradikaler Parolen, nicht gerade anregend, aber leider nun mal Bestandteil der laufenden Auseinandersetzungen in der Bevölkerung, Ausdruck der Angst vor den Flüchtlingen, die ins Land kommen, Abneigung gegen die vielen Menschen aus anderen Ländern, die sich in Deutschland breitgemacht haben. Doch die Anschläge als Tat verweisen auf einen anderen Zuschnitt der Täter als jene Menschen, die Vorstellungen haben, wie sie in den Flugblättern aufgeschrieben sind, und die in großer Zahl politisch zu umwerben, M nicht als Problem seiner politischen Grundeinstellungen empfindet. Die Täter, so baut M seine Hypothese auf, stammen aus dem aktionistischen Milieu der Stadt, das als Folge der sozialen und kulturellen Verwahrlosung immer größer wird und das er an vielen Stellen der Stadt immer anschaulicher besichtigen kann. Die Tat selbst läuft stets nach dem gleichen Muster ab. Das stärkt den zweiten Teil seiner Hypothese, dass es sich um einen Einzeltäter handeln wird, der für eine Kerngruppe austestet, wie die Sicherheitsvorkehrungen gerade dort zu überlisten sind, wo sie ihren höchsten Standard erreicht haben.

Am Montag, dem 23. März, steht M sehr früh auf, frühstückt einigermaßen entspannt im Hotel und genießt seit Tagen zum ersten Mal wieder seinen Kaffee. Er möchte pünktlich in seinem Büro sein. Vor ihm liegt nicht nur eine anstrengende Sitzungswoche. Er hat darüber hinaus politische Verantwortung durch Eigeninitiative umzusetzen, die ihm sein neues Wissen auferlegt hat. Schatz und Madame werden eine Menge zu tun bekommen. Wie es seine Gewohnheit ist, überfliegt er am Morgen in seinem Smartphone die lange Liste der News, die ihm von seiner Partei zur Verfügung gestellt werden. So macht er es auch heute Morgen in der Hotellounge. Keine der Überschriften fesselt ihn sonderlich oder regt zum Weiterlesen an. Er ist bereits in der Nachhut der Nachrichten angekommen, beim Vermischten und Sex and Crime des Tages sozusagen. Diese weniger wichtigen Meldungen scrollt M normalerweise im Schnelldurchgang. Aber da! Wie elektrisiert liest er: „Brandsätze gegen das Paul-Löbe-Haus“.

Als Sturm rasen die Zeilen durch seinen Kopf, die er da liest. Die gerade eben zurecht gelegten Sätze über den DWB wirbeln durcheinander. Seine kaum wieder etwas ins Gleichgewicht gependelte Gemütsverfassung bricht im Beben erschüttert zusammen. „Zerschellen“ fällt als erste Wortassoziation in sein Bewusstsein. Und ein schwaches Erinnerungsbild meint er aus seinem tiefen Inneren auferstehen zu sehen, als er zu lesen beginnt: „Gegen das Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages ist in der Nacht zum Montag gegen 2.00 Uhr ein Brandschlag verübt worden. Sachbeschädigungen sind nicht entstanden. Der Brandsatz hat nicht gezündet. Vom Täter fehlt noch jede Spur. Am Tatort wurden Flugblätter der als rechtsextrem eingestuften Deutschen Widerstandsbewegung gefunden. In ihnen wird gegen Multikulti gehetzt und vor einer Überfremdung des deutschen Volkes gewarnt. Die Flugblätter sind überschrieben: Der Ausgangspunkt der Gewalt ist die Ignoranz der Herrschenden.“

M steht abrupt auf, lässt seinen Kaffee stehen, packt in seinem Zimmer die wenigen Sachen in die Tasche und lässt ein Taxi rufen, mit dem er die kurze Entfernung zum Parlament zurücklegt. Er lässt sich vor dem Osteingang des Reichstags absetzen, hält dem Sicherheitspersonal seinen Hausausweis hin und eilt in festen langen Schritten kurz nach oben zum Plenarsaal, wo er sich in die Anwesenheitsliste für die Abgeordneten seiner Fraktion einträgt. Sein Name steht weit oben auf der Liste, was ihn mit innerer Zufriedenheit erfüllt. Dann eilt er mit hastigen Schritten durch die labyrinthischen Gänge der Katakomben unter der Spree hinauf in sein Büro. Schatz ist schon da, an der er kurz und freundlich grüßend vorbei in sein Zimmer eilt. Er setzt sich an seinen Schreibtisch, fühlt sich außer Atem. Seinen Kopf hat er zwischen beiden Händen eingekeilt und die Augen in eine imaginäre Ferne gerichtet.

„Kannst du bitte ein Diktat aufnehmen, Schatz? Es ist wichtig.“ Seine Sekretärin kommt sofort mit Block und Bleistift in sein Zimmer. Sie ist eine der wenigen Sekretärinnen im Bundestag, die noch die Stenografie beherrscht. Gerne hätte sie jetzt erst einmal bei einer Tasse Kaffee ein kleines Schwätzchen mit M gehalten und mit ihm vor allem über seine Gesundheit geplaudert. Sie mag ihren Chef rein persönlich zwar nicht besonders, aber die kleinen Gespräche in gemütlicher Atmosphäre mit etwas Klatsch und Tratsch waren immer willkommene Abschnitte ihrer dienstlichen Tagesordnung. Auf der anderen Seite ist ihr die hektische Betriebsamkeit der Abgeordneten vor allem am Morgen vor den Plenarsitzungen in ihren Büros nicht fremd. So stöhnt sie nur leicht auf, setzt sich M gegenüber und ist bereit zum Diktat.

„Schatz, es ist wirklich sehr wichtig, und ich möchte, dass die Dokumente nicht per Mail gesendet werden, sondern dass du sie in Umschlägen verschließt und über die Hauspost verschickst.“ M sitzt aufrecht vor seinem Schreibtisch und sieht übermüdet aus. Seine Sekretärin lächelt ihm dennoch freundlich entgegen, wohl ein wenig aus Mitleid. Es wäre ihm noch ein wenig Zeit für eine Rekonvaleszenz zu gönnen, der Arme, denkt sie. Aber sie weiß aus Erfahrung, die Arbeit eines Abgeordneten ist ein Knochenjob. Das sagt sie auch immer wieder in ihrem Bekanntenkreis.

M diktiert ihr einen Brief an den Vorsitzenden seiner Fraktion sowie auch an den Vorsitzenden des Innenausschusses. Er berichtet kurz über die Kette der Anschläge auf die CDU-Zentrale und den Bundestag, die „Herzkammer unserer Demokratie“. Er deutet sein Hintergrundwissen an, das er aus einer „sehr gut unterrichteten Quelle“ erworben habe. Vollständig bedeckt hält er sich noch mit seiner Vermutung, dass er hinter den Anschlägen Täter aus der linken Szene vermutet, die eine falsche Fährte gelegt haben, indem sie sich hinter den Stereotypen der Rechtsradikalen tarnen. Stattdessen folgt der Schlussabsatz seines Schreibens:

„Es steht mir als einzelnem Abgeordneten nicht zu, unserer gemeinsamen Verantwortung durch eigene Ermittlungen und mit eigenen Bewertungen nachzukommen. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass wir uns nach den NSU-Skandalen als wehrhafte Demokratie nicht noch einmal zu spät beweisen dürfen. Deshalb möchte ich in Erwägung bringen, ob es angesichts auch der hohen Symbolkraft dieser Anschläge nicht angemessen ist, dass unsere Fraktion einen Untersuchungsausschuss beantragt, der aufzuklären hat, wie es geschehen kann, dass der Deutsche Bundestag zur Zielscheibe von Anschlägen von Extremisten oder gar Terroristen werden kann. Selbstverständlich würde ich einem solchen Ausschuss gerne angehören.“

Nach dem Diktat sichtlich entspannt lächelt M nun seinerseits seine Sekretärin an und erkundigt sich mit der ihm eigenen Freundlichkeit nach ihrem Befinden.

„Ist es wirklich so gefährlich um uns bestellt?“ Die Sekretärin sucht nach einer Überleitung, um ihm zu erzählen, wie schlimm die vergangene Woche gewesen sei, in der sie dreimal zur Zahnbehandlung unterwegs sein musste. Doch sie kommt nicht sehr weit, weil gerade Madame ins Büro hinein gerauscht kommt und den beiden ziemlich mürrisch ihr „Guten Morgen!“ entrichtet.

Sofort fällt M wieder in hektische Betriebsamkeit. Private Anteilnahmen bei einer Tasse Kaffee scheinen ihm heute fehl am Platz. „Madame, auf uns kommt reichlich Arbeit zu“, begrüßt er seine Mitarbeiterin.

Madame schaut von Schatz zu M und wieder zurück. Irgendetwas ist ungewohnt und irritiert sie. Die Unterlagen für die Sitzungswoche hat sie wie immer professionell zusammengestellt und übersichtlich entsprechend der Tagesordnung in Mappen abgelegt. Sie liegen unberührt auf dem Schreibtisch von M. Der Block auf dem Schoss der Sekretärin muss etwas enthalten, was sie bisher nicht kennt. Das gefällt ihr ganz und gar nicht. Sie ist pünktlich ins Büro gekommen, doch die beiden waren noch früher da und haben bereits etwas zu Papier gebracht. Hoffentlich ist es etwas Privates, beruhigt sie sich. Wahrscheinlich hat er ihr einen Brief diktiert, der mit seiner Krankheit zusammenhängt, die ihn vergangene Woche daran gehindert hatte, an den Sitzungen im Plenum teilzunehmen.

Bevor sie selbst nachfragen kann, ist das Wort schon wieder bei M. „Madame, ich bitte Sie, in der nächsten Zeit alles liegenzulassen und Ihre volle Aufmerksamkeit und Ihr ganzes Können ausschließlich auf Folgendes zu lenken: Was können wir über die drei Buchstaben DWB wissen? Wie müssen wir die Flugblätter interpretieren, die letzte Nacht nach dem Anschlag auf das Löbe-Haus gefunden wurden? Dabei achten Sie aber besonders auf die sprachlichen Eigenschaften des Pamphlets. Und – das ist heikel, ich weiß – aber versuchen Sie es trotzdem: Gibt es vielleicht Zusammenhänge zwischen den Anschlägen auf unser Parlament und der kürzlich in Friedrichshain registrierten Schießerei in der Straße der Pariser Kommune, bei der ein neunjähriger Junge schwer verletzt wurde?“

Für einen Augenblick genoss M die Verwirrung, die er bei den beiden Frauen feststellte. Madame reagierte völlig ungeschützt. Sie hatte nichts verstanden, zumal sie von dem angeblichen Anschlag bisher nichts erfahren hatte. Etwas trotzig sagte sie M offen, sie habe im Augenblick wirklich keine Ahnung, wovon ihr Chef spreche, werde sich aber selbstverständlich sachkundig machen. M steht nun auf, schaut auf seinen Schreibtisch, lächelt dann seine beiden Mitarbeiterinnen an und meint: „Ihr macht das schon. Lest mal gründlich die Zeitungen von heute. Dann wisst ihr, wovon ich rede und was jetzt politisch geboten ist. Ich verlasse mich auf euch.“ Er nimmt sich seine Sitzungsunterlagen für den Plenarsaal unter den Arm und verlässt mit aufrechtem Gang sein Büro. In dreißig Minuten werden die Klingeln und roten Lämpchen die Abgeordneten in den großen Saal rufen. M wird pünktlich auf seinem Platz sitzen.

Gewissenhaft erfüllt er seine Verpflichtungen an diesem Montag. Zuverlässig hebt er bei den Abstimmungen seine Hand, obgleich er selten bei der Sache ist. Die Tagesordnung kommt ihm an diesem Tag entgegen. Um 17.00 Uhr ist er ein letztes Mal gefragt. Danach kann er den Plenarsaal verlassen, denn nun folgen nur noch Berichte und unstrittige Überweisungen an die Ausschüsse. Die Kollegengespräche auf den Fluren sind an solchen Tagen nur oberflächlich, Routinen bestimmen den Sitzungsalltag. Dennoch hat es ihn ein wenig geärgert, dass keiner seiner politischen Freunde danach gefragt hatte, wie es ihm gesundheitlich gehe. Schließlich war er einige Tage lang nicht unter ihnen gewesen. Es mühte ihn, das Wort „Hinterbänkler“ nicht in seinen Gemütszustand hinein zu lassen.

Eiligen Schrittes zog M aus dem Reichstagsgebäude über die langen Flure in sein Büro. Schatz und Madame hatten es bereits verlassen. Auf seinem Schreibtisch war es wie immer aufgeräumt. Die Unterschriftenmappe lag in der Mitte auf ihrem Platz. Seine Unterlagen aus dem Plenum waren chronologisch geordnet. Was erledigt war, kam in die Abteilung „Ablage Madame“. Die legte er auf den Schreibtisch seiner Mitarbeiterin. Den Rest, eine dickere Mappe, behielt er in seinem Zimmer in seiner Obhut für den nächsten Tag. In ihr waren die Unterlagen entsprechend der Tagesordnung zusammengestellt, die für ihn ab 9.15 Uhr des folgenden Dienstags galt. Im Verwalten seiner Laufmappe war er sehr sorgfältig. Diese Mappe legte er griffbereit auf den kleinen Tisch in der Besprechungsecke.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete die Unterschriftenmappe. Vorne lagen die beiden Briefe, die er Schatz diktiert hatte. Er las sie noch einmal konzentriert durch und hatte dabei das Gefühl, für die Politik wirklich wichtig zu sein. Aus einer Schublade holte er einen kostbaren Füllfederhalter mit einer goldenen Feder. Der war ein Geschenk eines Unternehmers aus seinem Wahlkreis, der ihm freundschaftlich verbunden war. M sitzt staatsmännisch mit aufrechtem Rücken vor seinem Schreibtisch, öffnet seinen Füller, neigt den Kopf leicht nach rechts, führt die Feder zu der vorbestimmten Stelle am Ende des Textes und unterschreibt mit seiner markanten Signatur, innerlich mit gefühlter Würde, ein wichtiges Dokument nun auf den Weg zu bringen.

Unter anderem lag in seiner Mappe eine Notiz von Madame: „Ihr Hinweis auf sprachliche Eigentümlichkeiten des Pamphlets der DWB ist interessant. An Ihren Vermutungen könnte etwas dran sein. Tarnung ist ja heute ein weit verbreitetes Mittel in öffentlichen Bekundungen. In der Sache bin ich nicht darüber hinausgekommen, was Ihnen bereits bekannt ist. Anders als Sie sehe ich aber noch keinen parlamentarischen Handlungsbedarf, da eine Verdunklungsgefahr oder ein Versagen der staatlichen Stellen noch nicht zu erkennen ist. Vielleicht sollten Sie mit ihrer Unterschrift unter den Briefen noch etwas warten. Die Angelegenheit scheint mir bei der Staatsanwaltschaft im Augenblick ausreichend gut aufgehoben.“

M ärgert sich über diese Einschätzung. Er überlegt nicht lange, was Madame zu diesen Zeilen bewogen haben könnte. Er hält seine Mitarbeiterin für klug, aber für zögerlich. In seinem Kopf steht fest das Wort: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“ Er holt zwei Briefumschläge, tütet seine Briefe ein, schaut sich noch einmal kurz im Büro um und verlässt schnell die Räume. Die Briefe befördert er in die Hauspost und entfernt sich aus dem Bundestag. Bereits gegen 18.00 Uhr ist er wieder in seiner Charlottenburger Wohnung. Dorthin hat er sich mit dem Fahrdienst des Bundestages befördern lassen. Ausspannen, etwas Abstand gewinnen, früh ins Bett gehen ist sein Programm.

Bilder und Informationen der vergangenen Tage gehen ihm durch den Kopf. Macht, Schicksal, Verantwortung, Irritationen sind ihm Koordinaten, die es ihm schwer machen, seine Identität und sein Persönlichkeitsprofil klar zu erkennen. Kosmische Einflüsse auf das Tagesgeschehen sind stets auf seinen Rechnungen, wenn er über sich nachdenkt. Sie gehören zu seinen privaten Überzeugungen. Er weiß, sie sind kaum mit den intellektuellen Anforderungen an einen Politiker zu vereinbaren. Deshalb spricht er darüber mit keinem und lässt als Bundestagsabgeordneter nicht erkennen, welche Bedeutung sie für ihn haben. Er kann sich die Logik solcher Einflüsse nicht erschließen. Die Wirkungen sind für ihn offensichtlich, aber die Wirkungszusammenhänge kann er nicht erkennen. In seiner Person lagern Schichten, die jenseits der Politik ein üppiges Leben führen und auf ihm nicht bekannte Weise den privaten Menschen M mit dem politischen Menschen M verbinden.

Er glaubt daran, dass es Medien gibt, die kosmische Einflüsse auf seine Persönlichkeit zu lesen und zu vermitteln verstehen. Diese Medien leben versteckt unter den Menschen und sind Personen, die mit Politik nichts zu tun haben. M zieht es zu solchen Personen, die einen Zugang zu dieser anderen Ebene der Gesetze über Leben und Geschehen auf der Erde haben. Es würde ihn auch zu diesen Personen ziehen, wäre er nicht in der Politik. Aber er verspricht sich ein zusätzliches Kraftfeld für seine berufliche Tätigkeit, wenn er die Logik des Irrationalen zulässt. In seinen Aufzeichnungen findet sich der Satz: „Über eine Wahrsagerin als Medium kosmischer Konstellationen für unser Leben gewinne ich Hinweise für meinen politischen Kosmos. Von außen gesehen wird man mich als Politiker mit Machtinstinkten zu begreifen versuchen. In Wirklichkeit sind meine Instinkte das Ergebnis eines Lebenslaufs, dessen Rationalität mir selber verborgen bleibt. Was ich nicht nach außen kommuniziere ist meine Gewissheit und die daraus resultierende politische Praxis, dass neben Religion oder Natur ein kosmisches Regulativ für die Entwicklungen auf der Erde mitbestimmend ist.“ Er glaubt, mit seiner Wahrsagerin einen schicksalshaften Glücksgriff gemacht zu haben, obgleich er sie als Person nicht mag, sie ihm als Frau zuwider ist.

Die in Berlin gefundene Wahrsagerin hält er für ein Medium, über das er nicht wissen will, wie es funktioniert. Sie verfügt, das spürt er, besonders zuverlässig über die Gabe der klaren Sicht des Kosmischen. Sie ist für ihn wie eine Brücke zwischen seinem Alltag als Politiker und den Außeneinwirkungen auf die Dinge, mit denen er sich zu befassen hat. Die Sonnenfinsternis ist nach seiner Überzeugung mehr als ein markantes Großereignis in den ständigen Interdependenzen zwischen dem raumzeitlich Unendlichen und dem raumzeitlich Begrenzten im Hier und Jetzt. Diese Interdependenzen können Politiker – auch das eine Feststellung, die sich in seinen Aufzeichnungen findet – nicht aufheben oder beseitigen. Das sei so unmöglich, „wie ein Erdbeben, einen Vulkanausbruch oder einen Tsunami verhindern zu wollen.“ Für ihn als Politiker sind Zeichen des Himmels, die aus dem Reich des Unendlichen unmittelbar im begrenzt Überschaubaren eingeschrieben sind, wichtige Botschaften, um einem Kompass folgen zu können, was Aufmerksamkeit zu beanspruchen hat. „Wir können keine Katastrophen vermeiden und nicht die Ungerechtigkeit in der Welt beseitigen. Wir können auch nicht das Leben für alle sicher und planbar machen. Aber wir können uns sensibilisieren für Ereignisse und Entwicklungen, die von uns angemessenes Handeln erfordern“, hat sich M an den Anfang seiner Kladde „Im Jahr der Sonnenfinsternis“ geschrieben.

Für seinen Kompass ist seine Wahrsagerin sehr wichtig. M hält sich für einen der wenigen Politiker, der mit diesem Kompass arbeitet. M sagt sich, andere haben ihren Beichtvater oder Erzbischof, ich habe meine Wahrsagerin. Wahrscheinlich ist er der Einzige im Bundestag, der zu einer Wahrsagerin läuft. Instinkte und Intuitionen, da ist er sicher, spielen auch bei vielen seiner Kolleginnen und Kollegen eine Rolle. Anders ist kaum zu erklären, warum die einen in der Politik aufsteigen, die anderen aber scheitern. Für ihn ist es auch ein Wettkampf, nach oben zu kommen. Er registriert durchaus, dass die meisten der Parlamentarier in der Hierarchie bedeutender und höher angesiedelt sind als er. Doch das muss nicht so bleiben, das letzte Wort in seiner Karriere ist noch nicht gesprochen. Den höher angesiedelten Instinktpolitikern unterstellt er eine Logik der Intuition. Sie perfektionieren Mittel, die sie aus Irrationalem schöpfen. Für ihn sind Intuition und Instinkte, die man ja nur von außen beobachten und so bezeichnen kann, Ergebnisse aus Überzeugung und Methode. Er kennt also die Grundlagen und Instrumente für den Aufstieg in der Politik. Sie sind bei ihm besonders ausgeprägt, weshalb M zu der Annahme neigt, in der großen Schar der Abgeordneten einzigartig zu sein und ein Alleinstellungsmerkmal des Politischen in seiner Persönlichkeit zu haben.

Über seine Wahrsagerin weiß er nur sehr wenig. Er hat von ihr erfahren, dass sie seit fünfzehn Jahren in Berlin wohnt und des Öfteren zu einem Familientreffen auf den mittleren Finger der südlichen Peleponnes nach Griechenland fährt. Diese Halbinsel trägt den Namen Mani. Die Wahrsagerin behauptet, ihre Großmutter stamme aus einer uralten manischen Familie, die nicht weit von einer zerklüfteten karstigen Bergkette zu Hause war, an deren Fuß man seit der Antike den Eingang zur Unterwelt, zum Hades verortet hatte. Von dieser Großmutter, eine Zauberin, habe sie viel geerbt. Was sie in den Seancen mit ihrem zweiten Gesicht sehen und erfahren könne, sei wahr, so unzureichend es in ihrer Sprache auch geäußert sein möge. Zu dieser Wahrheit gehöre auch, dass sie nur im Augenblick ihrer Offenbarung Ausdruck finde und von ihr im Nachhinein nicht erinnert werden könne.

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