Kitabı oku: «Sonnenfinsternis», sayfa 4

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Dämonie

Dienstagvormittag, am 24. März 2015, raste M auf seiner ersten rasanten politischen Achterbahnfahrt. Madame und Schatz verbrachten dagegen zunächst eine ruhige Zeit. Sie hatten das Fernsehen nicht eingeschaltet, in dem wie ein mahnender Zeigefinger das eigene Übertragungsprogramm aus dem Plenum läuft. Auch das Radio blieb aus. Deshalb erreichten sie nicht die brandneuen Nachrichten über den Flugzeugabsturz. Erst Stunden später, in der Mittagspause, berührten sie die Schreckensnachrichten in der Kantine, in der sie Thema Nummer eins an allen Tischen waren.

Der Vormittag im Büro war für sie besonders unbeschwert, weil sie keinen Arbeitsdruck verspürten. Die beiden Mitarbeiterinnen von M hatten nach seinem Abgang noch eine Zeit lang zusammen beim Kaffee gesessen. Das kam sehr selten vor. In der Regel lagen gerade in den Morgenstunden so viele Arbeiten an, dass jede auf ihre Weise in hektischer Routine den Berg an Aufgaben am eigenen Arbeitsplatz abzutragen versuchen musste. Die dazu notwendigen Abstimmungen zwischen den beiden Frauen verliefen meistens über Zuruf, blieben im Ton kühl und im Inhalt dienstlich. Sie verspürten keine ausgeprägte Zuneigung füreinander und hatten sich kleine Büronischen eingerichtet, von denen aus sie miteinander kommunizierten. Schatz empfand die jüngere Kollegin als ein wenig zu arrogant, und Madame störte an der älteren Kollegin, wie unpolitisch sie war und wie unterwürfig und wenig emanzipiert sie ihre Arbeit verrichtete. Über das private Leben der anderen wussten die beiden Kolleginnen fast gar nichts. Das störte Schatz mehr als Madame. Deswegen litt sie stärker unter der förmlich korrekten Dienstbeziehung als Madame. Aber es wäre falsch, die Arbeitsbeziehung der beiden Frauen als gegenseitige Belastung zu verstehen. Sie hatten keinen Grund, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen es haben müsste, wenn sie sich irgendwelche Antipathien bekunden würden. Beide folgten der eigenen Erfahrung, die Arbeitszufriedenheit nicht zu belasten, indem man sie mit der unnötigen Frage konfrontiert, wie nahe man zu den Menschen steht, mit denen man im Bundestag auf engem Raum täglich zusammenkommt.

An diesem Vormittag einte sie aber ein langsam in Gang gekommenes Gespräch über ihren gemeinsamen Chef. Sie fanden Gefallen daran, ihre Eindrücke auszutauschen, die sie über M mit sich trugen. Schatz brachte das Eis als Erste zum Tauen, als sie nach einer Weile tastender Bemerkungen mit etwas unsicherem Unterton sagte: „Ich weiß gar nicht, ob ich das vortragen darf, aber ich fände es schön, wenn wir uns im Büro duzen würden.“ Madame hatte sie freundlich angelächelt und den Vorschlag mit „Sehr gerne“ quittiert, worauf Schatz eine weitere Tasse Kaffee eingeschenkt und ihre Schachtel Zigaretten auf den Tisch gelegt hatte. Beide rauchten, aber nicht im Büro, weil das von M nicht gerne gesehen wurde und auch von der Verwaltung dem Katalog der weichen Verbote zugordnet war.

Madame schaltete in einen anderen Modus, entspannte sich ein wenig und taute sichtlich auf in dem Vergnügen, über M zu tratschen und sich dabei ein wenig aus den Zwängen der politischen Korrektheit zu lösen, die sie im Grundsatz als unabdingbar für ihre Arbeit einschätzte. „Mit dieser Schnapsidee eines Untersuchungsausschusses hat sich M keinen Gefallen getan. Der rutscht damit auf dem Glatteis aus. M ist sicher ein fleißiger Abgeordneter und er behandelt uns besser als viele anderen. Aber er gehört nicht zu den Großen und Starken in der Politik. Er hat nicht die Anlagen für eine glanzvolle Karriere. Er ist, lass es mich mal vorsichtig so sagen, konservativ und versteht den Lauf der Zeit nicht. Es fällt mir zunehmend schwer, ihn politisch zu verstehen, um nachvollziehen zu können, was ihn antreibt.“

Schatz hatte sich genüsslich eine Zigarette angezündet und mit sanfter Stimme lächelnd geantwortet: „Ich finde ihn eigentlich ganz charmant. Er gehört für mich zu den Männern, mit denen ich zwar nicht zusammenleben möchte, in deren Umgebung ich mich aber als Angestellte wohlfühle, auch weil etwas Geheimnisvolles von ihm ausgeht.“

Die beiden variierten nun ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen. Madame hatte ihre Hände auf den Tisch gelegt, was sie immer machte, wenn sie ein Gespräch zu systematisieren versuchte. Schatz kannte diese Geste sehr genau und fühlte sich in ihrer Beobachtung bestätigt, als Madame sagte: „Zum ersten Mal reden wir über unseren Chef und merken, dass wir zwei ganz unterschiedliche Frauen sind, wenn wir über einen Mann sprechen, um den herum unsere gemeinsame Arbeit kreist. Pass auf, ich habe eine Idee, wir machen ein kleines Spiel.“

Schatz hob neugierig ihren Kopf. Spiel als Gesellschaftsspiel, das war ganz in ihrem Sinne. Einen guten Teil ihres privaten Lebens mit anderen Menschen verbrachte sie mit solchen Spielen. In ihrer Wohnung hatte sie sogar eine Kartenspielrunde gegründet, die jeden Monat einmal tagte. Sie fühlte sich stets wohl beim Spielen mit Menschen. Jetzt mit ihrer Kollegin zusammen im Büro kam ihr dieser Vorschlag wie eine Einladung vor, ein Stück ihres Privatlebens in diese ganz andere Welt des Hohen Hauses der Politik tragen zu dürfen. „Oh ja, sehr gerne“, reagierte sie voller Enthusiasmus und wartete auf die Spielanweisungen.

Madame holte zwei Bogen Papier, zündete sich nun ihrerseits eine Zigarette an und erklärte die Spielregel: „Du beginnst. Du sagst eine Eigenschaft, mit der du M charakterisierst. Die schreibst du auf. Ich überlege mir dazu ein passendes Eigenschaftswort, schreibe es auf mein Blatt Papier, ohne es dir zu sagen. In der zweiten Runde fange ich dann wie beschrieben an, nenne eine Eigenschaft und schreibe sie auf. So geht das hin und her, bis uns nichts mehr einfällt.“

Schatz gefiel das auf Anhieb. Die beiden saßen sich nahe gegenüber und das Spiel begann. „Charmant“, eröffnete Schatz den Reigen. Madame lächelte und notierte „oberflächlich“. Nun gab sie vor „impulsiv“, und Schatz schrieb auf ihr Papier „geht Risiken ein“. Schatz legte dann vor „Überzeugungskraft“ und Madame schrieb schnell „Hochstapler“. So ging es eine Zeit lang hin und her. Die Listen wurden mit weiteren Eigenschaftswörtern gefüllt.

Madame „manipuliert“ – Schatz: „einflussreich“

Schatz „selbstsicher“ – Madame „größenwahnsinnig“

Madame „erdichtet Zusammenhänge“ – Schatz „blickt in die Zukunft“

Schatz „trifft schwierige Entscheidungen“ – Madame „Gefühlsarm“

Madame „ereignisabhängig“ – Schatz: „handlungsorientiert“

Schatz „verantwortungsvoll“ – Madame „kaltherzig“

Madame „egozentrisch“ – Schatz „charismatisch“

Irgendwann waren ihre Blätter voll. Sie legten nun ihre Listen nebeneinander und waren erschrocken, wie weit die Deutungen auseinanderlagen. Sie zündeten sich neue Zigaretten an und versuchten zu verstehen, was für Eigenschaftsreihen sie zusammengestellt hatten. Klar wurde ihnen, dass jede von ihnen eine andere Seite seiner Persönlichkeit in den Vordergrund gerückt hatte. Aber es war ja nur ein Spiel. So lächelten sie über die zwei Seiten Papier an diesem Vormittag und waren wie gute Freundinnen zu Scherzen aufgelegt. Madame bilanzierte ihre Sichtweise: „Du malst ein Bild von einem stinknormalen Mann, der mächtig sein will und sich am liebsten so sieht, wie du ihn beschreibst.“

Schatz war über diese kritische Äußerung nicht böse. Sie lächelte, als sie antwortete: „Meine Güte, was haben wir da für einen Chef! Du malst ja das Bild eines richtigen Psychopathen.“

Sie schauten sich amüsiert in die Augen, und Madame nahm die Papiere, zerknüllte sie und warf sie mit einer gekonnten Bewegung treffsicher in den wenige Meter weit entfernten Papierkorb.

Der Vormittag war mit dem Einverständnis zu Ende gegangen, dass ein wenig Klatsch und Tratsch für das Arbeitsklima im Büro sicher förderlich sein würden. Madame setzte sich wieder an ihren Arbeitsplatz und widmete sich der randvoll gefüllten Schublade ihres Schreibtisches. Schatz räumte in Seelenruhe den Tisch und war sich sicher, künftig mit Madame besser klarzukommen, obgleich sie offensichtlich so unterschiedliche Persönlichkeiten waren. Gemeinsam gingen sie dann zum Mittagessen in die Kantine – auch das eine Premiere – und waren tief erschrocken, als sie von der Flugzeugkatastrophe hörten. Es wurde auch für sie ein finsterer Tag. „Das liegt nun wirklich nicht in unserer Hand“, sagte Schatz zu ihrer neuen Freundin. „Wer will das so genau wissen?“, entgegnete diese mit einer sehr weichen und freundlichen Stimme.

Reisen zu organisieren, gehört zu den Routineaufgaben in einem Büro für Abgeordnete im Bundestag. Das gilt auch für die Mitarbeiterinnen von M. Sie hatten einen halb dienstlichen, halb privaten Auftrag von M vor sich hergeschoben, obgleich er sie immer wieder mal angemahnt hatte. Vielleicht unter dem Eindruck des Flugzeugabsturzes, von dem sie nun die ersten Bilder der zerschmetterten Einzelteile der Maschine in einem unzugänglichen Bergmassiv der französischen Alpen im Fernsehen gesehen hatten, vielleicht aber auch, weil die Zeit wirklich drängte, machten sie sich am Nachmittag an die Arbeit. M wollte am 4. April nach Athen fliegen, dort bis zum 10. April bleiben und dann über die griechische Osterzeit eine Woche irgendwo im Land Urlaub machen, wo es besonders schön ist. Die Rückfahrt sollte dann von Athen aus für den 18. April gebucht werden.

Die Reise sollte eigentlich privat sein. Für die Kosten würde M aufkommen. Aber sie sollte beim Präsidenten des Parlaments angemeldet werden. Denn M verstand seine private Osterreise auch als eine politische Reise. Für sie sollten möglichst hochrangige Kontakte mit griechischen Politikern gesucht werden. Im Reiseetat hatte M einen Posten zwischen 2000 und 2500 Euro für eine gebildete und ortskundige Begleitperson vorgesehen. Sie sollte in Griechenland leben und in die aktuellen Geheimnisse des Landes eingeweiht sein. Obgleich für private Reisen der Bundestag nicht zuständig war, beanspruchte M wegen ihres in Teilen politischen Charakters die vollen Dienstleistungen seines Büros. Vor allem für die Entscheidungen, ihn mit den richtigen Menschen in Verbindung zu bringen, war er auf seine Mitarbeiterinnen vollständig angewiesen. Er war sich auch bei dieser Planung sicher, dass er bei den konkreten Vorbereitungen eher dem Schicksal vertrauen sollte, als etwas selbst in die Hand zu nehmen, von dem er das Ziel noch nicht kannte. Die beiden Mitarbeiterinnen waren bei so etwas einfach besser als er. Die hatten sich die anstehenden Vorbereitungen aufgeteilt. Madame würde sich um die politischen Kontakte in Athen kümmern und die möglichen Fragen aus der Parlamentsverwaltung beantworten. Schatz würde alle organisatorischen Probleme lösen, eine Begleitung bei einem Reiseveranstalter suchen und ein schönes Feriennest im Sonnenland vorbereiten.

Für Schatz war die Arbeit vergleichsweise einfach. Sie fand einen genialen Handlungsrahmen, der mit einfachen Mitteln schnell zu füllen war. Das Glück spielte ihr dabei in die Hände. Sie war als Touristin ein Jahr vorher, ebenfalls in der Frühlingszeit, in Griechenland gewesen. Unterwegs mit einer Studiengruppe war sie von Tobias geführt und begleitet worden, einem wunderbaren jungen und gelehrten Mann, der alles über die lange Geschichte dieses europäischen Kleinods wusste und sie mit den angenehmsten Gefühlen das in sattesten Farben leuchtende Frühlingsland im Mittelmeer erleben ließ. Und Schatz erinnerte sich, dass dieser Tobias, wenn auch ein wenig links angehaucht, über die in Jahren gewachsene Katastrophe des Landes mit ihren Auswirkungen auf das Alltagsleben der Menschen umfassend zu diskutieren verstand.

Seit ihrer Reise im vorigen Jahr hatten ihr die Griechen stets leidgetan, und Schatz empfand die Aussagen der Politiker im eigenen Land als nicht angemessen und den Menschen gegenüber als arrogant. Tobias hatte die kleine Gruppe während einer einmalig schönen und ihre Zeit auf der Mani, der mittleren Halbinsel auf der südlichen Peleponnes, begleitet. Für Schatz war das eine der eindrucksvollsten Reisen gewesen, die sie je erlebt hatte. Einen großen Anteil ihrer Begeisterung schrieb sie Tobias zu, der sie damals Tag für Tag in eine faszinierende Welt geführt hatte. Sie ahnte, M könne nichts Besseres geschehen, als diesen Mann für seine Griechenlandreise zu gewinnen.

Schnell fand sie die Kontaktdaten von Tobias und rief ihn an. Er war begeistert von ihrem Angebot. Es passte bestens in sein neues Konzept. Er unternahm gerade alle möglichen Anstrengungen, sich als ein exzellenter Experte im Griechenlandtourismus, der in diesem Jahr gründlich einzubrechen drohte, selbständig zu machen und ganz auf umfassende Betreuungsleistungen für einzelne Reisende zu setzen. Er wollte damit auch ein Zeichen gegen die ständigen Behauptungen über die Griechen setzen, sie seien unfähig zu Reformen, scheuten die Arbeit und verprassten das Geld der anderen europäischen Länder. Solche Behauptungen hatten tiefe Spuren im Pauschaltourismus hinterlassen. Auf der anderen Seite zog es die so oder so Interessierten ins Land, in dem sie dann jedoch allein ohne Hilfe kaum hinter die Kulissen der in der Tat immer grauer werdenden Bilder aus Depressivität und Ratlosigkeit schauen konnten. So individualisiert wie möglich das Land den Gästen näher zu bringen, war Tobias neues Geschäftsmodell. Ein Kunde wie M war für ihn ein Volltreffer.

Schon im ersten Telefongespräch waren Schatz und Tobias handelseinig und klärten alle Einzelheiten. Tobias wurde eine Art Generalbevollmächtigter von Schatz. Sie gab ihm die Personaldaten von M und betonte immer wieder, dass M ein sehr freundlicher, aufgeschlossener und neugieriger Mensch sei. Tobias beteuerte, er habe keine Berührungsängste, wenngleich er der politischen Partei, die M vertrete, nicht nahestehe. Er verpflichtete sich, alle Reisevorbereitungen und Buchungen zu übernehmen und innerhalb von 48 Stunden die entsprechenden Unterlagen und Dokumente an Schatz weiterzuleiten. Mit diesem Volltreffer konnte Schatz nach einer guten halben Stunde ihrer Kollegin berichten, alle Vorbereitungenan bereits abgeschlossen zu haben.

„Hast du es gut. Dann kannst du heute ja früh nach Hause gehen“, meinte Madame. „In meinen Kontaktbörsen sieht es nicht so gut aus. Da stoße ich bisher nur auf schwarze Flecken.“

Schatz bot an, Tobias auch für die Suche nach politischen Kontakten zu beauftragen. Aber das lehnte Madame ab. Ihr war wichtig, dass bei den griechischen Stellen der Deutsche Bundestag als Anfrager und – wie sie es interpretierte – als Anbieter für politische Gespräche deutlich werden müsse. Das sei umso wichtiger, weil sie wusste, wie angespannt die Lage gerade zwischen der Fraktion und der griechischen Regierung wie auch den Abgeordneten im griechischen Parlament geworden war.

Vor allem aber erwies sich der gewünschte Zeitpunkt für Gespräche als schier unüberwindbare Hürde. Eine Woche vor dem griechischen Osterfest verließen die meisten griechischen Politiker, vornan die Parlamentarier, die Stadt. Ostern ist dort noch stärker als Weihnachten hierzulande geprägt von den alten Traditionen in der Familie und in der Heimat. Hinzu kam, was sie erwartet hatte: Keiner in Athen kennt M. Das wird an allen Stellen betont, die Madame aufruft. Wen man nicht kennt, für den interessiert sich in dieser Zeit auch niemand.

Diese einfache Schlussfolgerung bewahrte Madame davor, ihre Bemühungen unnütz allzu weit auszudehnen oder gar in ihren Gesprächen allzu intensiv zu insistieren. Sie konzentrierte sich schließlich auf das Presseamt der Regierung in der naheliegenden Annahme, dass dort Pflichten verankert sind, die durch die Osterzeit nicht außer Kraft gesetzt werden können. Im Werben für einen Gesprächstermin bewegte sie sich auf einer Grenzlinie. Sie behauptete, M komme in der Mission, die Wogen zu glätten, die inzwischen aus der großen Parteifraktion im Norden so hoch gegen die steilen Felsen im Süden schlugen. Tatsächlich konnte sie einen Treffer landen. Innerhalb weniger Minuten bekam sie per Mail die Bestätigung eines Termins. Sofort stellte sie alle weiteren Bemühungen ein mit der Gewissheit, mehr erreicht zu haben, als zu erwarten war. Das fasste sie auch in breiter Darlegung in ihrer Notiz für M zusammen. Darin stand dann als triumphaler Satz: „Trotzdem dürfen Sie sich glücklich schätzen. Am Donnerstag, dem 9. April, werden Sie um 10.00 Uhr einen halbstündigen Gesprächstermin beim Regierungssprecher Gavrill Sakellaridis im Presseamt der griechischen Regierung haben.“

M war am Dienstag nur noch kurze Zeit im Büro. Er verbreitete gute Laune, obwohl nur noch Madame anwesend war. Von ihr erfuhr er, dass die Reisevorbereitungen für die Griechenlandfahrt bestens liefen. Er würde einen hervorragenden Begleiter finden und für einen Spitzenkontakt in Athen sei auch gesorgt. „Für die Ferienwoche haben wir die Mani ausgesucht.“ Madame konnte nicht sehen, dass M ein wenig zusammenzuckte und ihm die Röte ins Gesicht schoss, als er das Wort Mani hörte. Gibt es da etwa eine fatale Verbindung zu seiner Wahrsagerin, fragte er sich, verwarf aber gleich den Gedanken, weil so eine Möglichkeit schlichtweg ausgeschlossen war. Ein wenig gespielt gab er zurück: „Wo liegt denn die Mani?“

„Das ist eine wildschöne Halbinsel auf der südlichen Peleponnes“, erwiderte Madame, unsicher, warum ihr Chef an diesem fürchterlichen Tag des Flugzeugabsturzes so gute Laune hatte.

Das klärte sich schnell auf. Ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, dass die Arbeitsaufträge für die Vorbereitung eines neuen Sicherheitsausschusses ab sofort als eingestellt zu gelten haben, umriss M auf die Schnelle das neue Arbeitsprogramm. „Sie haben erfahren, was sich heute in den französischen Alpen abgespielt hat. Fürchterlich, was wir alles miterleben müssen. Der Fraktionsvorsitzende hat mich beauftragt, alle Informationsquellen über die Aufklärung dieses Absturzes sorgfältig auszuwerten. Wir haben herauszufinden, ob da irgendetwas ist, das politisch relevant sein könnte. Ich habe einstweilen nur ihm zu berichten. Deshalb ist alles topsecret, kein Wort nach draußen, auch nicht über irgendwelche Kanäle hier im Hause. Ich erwarte von Ihnen eine lückenlose Beobachtung aller Reaktionen und diskrete Recherchen, wenn Sie irgendwelche für unsere Bewertung interessanten Spuren finden.“

Madame war über diese vollständige Wende ihrer Aufgabenzuweisung nicht unglücklich. Eine abschließende Bemerkung über seine irritierende Vorstellungswelt, die sie gerne noch am Morgen untergebracht hätte, lag ihr auf der Zunge. Sie verkniff sich aber, nach dem abgesagten Sicherheitsausschuss nachzufragen und eine unnötige Diskussion vom Zaun zu brechen. Stattdessen sagte sie: „Da haben wir sicher einige Tage lang gut zu tun. Ich nehme mal an, nach einiger Zeit schnell hoch schwappender Spekulationen werden wir zunehmend Fakten kennen, mit denen wir ein recht klares Bild der Vorgänge und ihrer Ursachen zeichnen können. Das war ja immer schon so nach schweren Unfällen in dieser Größenordnung.“

M sortierte noch ein wenig seine Unterlagen aus dem Plenum. Die meisten waren ungelesen, und sie schienen ihm für seine Arbeit ohne größere Bedeutung. Also landeten sie in der Ablage für Schatz, denn mit Madame hatte er jetzt Wichtigeres zu tun. Er richtete sich eine neue Mappe ein, auf die er nur die Initialen FV schrieb. In diese Mappe würden nur prägnante Arbeitsergebnisse für den Fraktionsvorsitzenden eingefügt werden, die er seinem Idol persönlich vortragen würde. Er nahm sich vor, diese Mappe ab jetzt immer mit sich zu tragen. Die einzelnen Papiere sollten mit „Streng vertraulich“ gekennzeichnet werden.

M machte sich schnell bereit, das Büro zu verlassen. Er hatte bereits eine Hand auf der Türklinke, als er noch zu Madame sagte: „Es ist nur so ein Gefühl. Ich glaube eher nicht an ein technisches Versagen. Achten Sie besonders darauf, was wir über die beiden Piloten erfahren. Sie sind zwar auch tot. Aber ich glaube, sie haben eine Geschichte mit ins Grab genommen, über die wir mehr erfahren müssen.“

Zu Hause angekommen, machte sich der Sonderbeauftragte des Fraktionsvorsitzenden gleich an die Arbeit. Schnell überflog er die Flut an Infos, Statements und Expertisen, die sich nun in breiten Strömen ohne Unterbrechung über die Öffentlichkeit ergossen. Sie deckten alles zu, was sonst noch in der Welt geschah. Es waren vor allem ans Herz gehende Schilderungen, wie es den Menschen zum Zeitpunkt des Unfalls wohl ergangen sein mochte. Und die Familien und Freundeskreise der Getöteten, allen voran aus dem kleinen Städtchen Haltern am See, aus dem eine Schulklasse mit ihren Lehrern in den Tod gerissen worden waren, gerieten in den Fokus der Journalisten. Das alles prallte an M ab, weil seine Suche anders programmiert war. M hatte starke Bilder im Kopf, die sich nicht vertreiben ließen. Am Abend, als die Fernsehnachrichten mit Brennpunkt und Specials gelaufen waren, holte er sich eine Flasche Wein und seine Kladde, in der er sich heute nach längerer Zeit wieder Aufzeichnungen machte:

„Am 11. September 2001 flogen zwei Flugzeuge in einem lang gestreckten Sinkflug auf New York zu, um gezielt gegen die Zwillingstürme des World-Trade-Centers zu prallen und an ihnen in einem riesigen Feuerinferno zu zerschellen. Sie lösten die größte Flugkatastrophe aus, die die Welt je erlebt hat. Die politischen Folgen sind noch heute der Stoff, aus dem Zeitgeschichte geschrieben wird. Die Bilder von damals sind in mir eingebrannt. Sie haben mich auf den Weg in die Politik getrieben. Diese Bilder haben sich seit heute Morgen krass über die Informationen gelegt, die ich vom Airbus-Absturz in den südfranzösischen Alpen erhielt. Sie sind in mir so stark, dass sie sich wie ein Filter, wie eine zweite Bilderstrecke über die Filme legen, die ich soeben im Fernsehen von der Absturzstelle sehen musste.

In die Politik bin ich damals gegangen, weil ich Teil eines Machtsystems sein möchte, das angesichts der Situation der Menschheit auf dieser Erde eher gestärkt als geschwächt werden muss. Es gibt einen Krieg, ausgelöst durch die Folgen aus unberechenbaren Taten Einzelner, unterhalb der Ebene klassischer Kriege zwischen aufgerüsteten Armeen dieser Welt. Religiöser Eifer und Fanatismus erzeugen diese neuen Formen der asymmetrischen Kriege, in denen Terrorismus und die Kriminalität des Tötens immer neue Verbindungen eingehen. Ich weiß sehr wohl, dass mich mit der Macht keine herausragenden Fähigkeiten meiner analytischen Kenntnisse und auch keine Sicherheit in schnellen Entscheidungen und entschiedenen Handlungen verbinden. Unter dem Gesichtspunkt der konventionellen Machtpolitik bleibe ich ein wenig beachteter Hinterbänkler. Da sind andere besser und effektiver als ich. Was mich mit Macht verbindet, mich notwendigerweise in ihr verankert, ist anders begründet, hat keine Diskursbasis, bleibt jedem verborgen, bestimmt meinen einsamen Weg. Manche glauben, meine Zeit sei ein Spielball des Schicksals. Ich dagegen behaupte, sie ist eingebettet in ein universales Kraftfeld. Es sind meine Instinkte, aus Kraftfeldern, die nicht sichtbar sind, die nicht diskutiert werden können, Zusammenhänge zu finden, die den anderen verschlossen bleiben, vor denen sie angstvoll zurückwichen, müssten sie ihre Existenz anerkennen. Ich gebe zu, diese Kraftfelder allein nicht deuten zu können, aber ich weiß seit meiner Geburt, dass es kein Ereignis gibt, das uns Menschen heimsucht, zu irritieren versteht oder bis zu Kriegen polarisiert, das keine Entsprechung in der Zeichensprache des Himmels hat. Ich bin an einem Tag der Sonnenfinsternis am 12. Oktober 1958 geboren. Erst vor wenigen Tagen gab es in diesem Jahr wieder eine Sonnenfinsternis. Ich bin wohl der Einzige im politischen Berlin, der ihre Auswirkungen im aktuellen Geschehen bis in das politische hinein ernst nimmt.

Mein Freund Tony Bonin begleitet mich dabei nun schon über so viele Jahre. Ohne ihn wäre ich nie den Weg in die Politik bis in den Deutschen Bundestag gegangen. Tony ist das Genie, das die Zeichensprache am Himmel lesen kann, die ich in mir lediglich spüre. Ich habe ihn immer gebraucht und werde ihn weiter brauchen. Er hat mich auch zu meiner derzeitigen Wahrsagerin geführt, die mir so wichtig geworden ist. Ich bin von seiner Begabung überzeugt, weil ich ohne ihn keine Sicherheit hätte, in der Klasse derer zu bestehen, die im Hexenkessel der Macht überleben. Tony liest die Horoskope nicht wie die Jahrmarktgestalten oder die Dauerlieferanten für irgendwelche Illustrierte. Er kann die auf- und absteigenden Planetenknoten berechnen und die Ergebnisse als Transformationen im kosmischen Geschehen interpretieren. Er ist den Korrelationen zwischen kosmischen Ereignissen und dem Geschehen auf der Erde auf der Spur. Deshalb bleibe ich auf ihn angewiesen, wenn ich meinen Instinkten folge. Tony hat das Attentat am 11. September 2001 in New York vollständig erklärbar gemacht. Er wird mir auch jetzt wichtige Informationen geben. Denn ich bin sicher, wir müssen die Spur aufnehmen, die uns neue Formen des Terrorismus auffinden hilft. Der Absturz enthält eine Botschaft, die als eine neue Variante der asymmetrischen Kriegsführung zu verstehen sein könnte. Die Zeichen müssen gedeutet werden wie damals in New York. Diese Deutung ist mein Auftrag. Mit ihr werde ich Macht gewinnen.

Um 8.46 Uhr New Yorker Ortszeit rammt ein Flugzeug den nördlichen Turm des World-Trade-Centers in New York. In die dadurch ausgelöste Panik hinein schießt um 9.04 ein zweites Flugzeug in den südlichen, 414 Meter hohen Turm. Brände und Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes zeigen eine wahrhafte Hölle in der Stadt. Über 30.000 Beschäftigte in den Gebäuden sitzen in der Feuerfalle. Die meisten können sich irgendwie retten, rennen wie Geister aus den Ausgängen in die nächsten Straßenschluchten. Die Brände in den beiden Türmen werden immer stärker, Brandwolken wälzen sich an den Fassaden entlang. Tausende sind eingeschlossen und werden mit den Gebäudemassen verglühen. Schnell ist klar, es handelt sich um gezielte Attentate. Um 9.59 Uhr stürzt der Südturm ein. Um 10.25 Uhr sinkt der Nordturm in sich zusammen. Wir alle haben damals live im Fernsehen zuschauen können, sprachlos. Das damals höchste Gebäude der Welt, Wahrzeichen von New York und Stolz der unverletzlichen USA, versinkt zertrümmert in Feuer und Staub.

Tony hat alle astrologischen Daten miteinander verbunden und die Hauptachsen von Krebs, Waage, Merkur, Saturn und Jupiter in einem Stadthoroskop und in einem Ereignishoroskop zusammengeführt. Natürlich steht in seiner Zeichensprache nicht Bin Laden und die Al-Quaida. Aber die Bilder „Steinwüste“ und „meisterhafter Tod“ sind ebenso klar wie die dann folgende „tiefe saturnische Depression der Stadt“ und der Hinweis auf den Handels- und Finanzschwerpunkt mit der Pluto-Einwirkung. Tonys Transneptune-Netze lassen keine Zweifel zu: Der auf- und dann absteigende Saturnknoten und der auf- und dann absteigende Plutoknoten stehen in enger Konjunktion mit der nicht mehr steigenden Jupiter-Konstellation als Optimierungssymbol. Ereignis und Ziel als Botschaft seiner Daten lassen den Ablauf des Attentats klar erkennen. Die frisch in der Luft aufgetankten Flugzeuge sollten mit den Anschlägen gegen die Gebäude ein optimales höllisches Flammenmeer erzeugen, in dem dann die Türme schmelzen und zusammenbrechen mussten.

Tonys Analyse umfasst außerdem noch einen zweijährigen Sekundärrhythmus für den Ereignistag. Keiner hat sich dafür interessiert. Aber ziemlich genau zwei Jahre nach dem Fiasko, so leitete er aus dem Horoskop der Attentäter ab, sind überaus ungünstige Aspekte für die USA zu erkennen. Und tatsächlich: Am 14. August 2003 gibt es den größten Stromausfall in der amerikanischen Geschichte. Auch in New York gingen die Lichter aus.

Und nun heute diese Katastrophe. Alles nur Zufall, technische Probleme, Schicksal? Daran glaube ich nicht. Ich hätte es ohnehin besser wissen können, die Katastrophe sensibler auf uns zukommen sehen müssen. Meine Wahrsagerin hatte sie mir angekündigt. Sie ist keine gebildete Astrologin wie Tony und sie lallt beim Sprechen. Aber sie fühlt in Kraftfeldern die Zusammenhänge, die Tony in seinen komplizierten Rundbildern wie ein Anwalt Schritt für Schritt erschließt. Ich werde Toni beauftragen, das heutige Ereignis zu analysieren. Und ich werde meine Wahrsagerin besuchen. Es muss schnell gehen, sonst rast mir die Zeit davon.“

M ging mit dem guten Gefühl ins Bett, an diesem Tag alles richtig gemacht zu haben. Eine Mail an Tony Bonin mit der Anfrage und dem mit ihr verbundenen Auftrag waren schon unterwegs. Der Bevollmächtigte des Fraktionsvorsitzenden ging seinen eigenen Weg und hatte seine eigenen Methoden. Vor allem hatte er seinen Experten in der Astrologischen Akademie in Bad Wörishofen. Das aber sollte niemand erfahren, schon gar nicht sein Fraktionsvorsitzender. Die offiziellen Wege zu ihm hatte Madame, seine Mitarbeiterin, mit der ihr eigenen Methode im Umgang mit Informationen zu pflastern.

Der 25. März, der Tag nach dem Flugzeugabsturz, beginnt mit einer kurzen Lagebesprechung im Büro am Besprechungstisch. Schatz hat ihren Stenoblock auf dem Schoss. Madame hat einen Packen Papier, Kopien und Ausdrucke auf dem Tisch ausgelegt. M sitzt ohne Unterlagen am Kopf des Tisches. Er richtet sich an Madame: „Was wissen wir?“

„Wenig“, antwortet sie, „es ist viel geschrieben worden, aber Genaues weiß man noch nicht. Die Bundeskanzlerin wird heute Nachmittag zur Unglücksstelle fahren und sich dort mit dem französischen Präsidenten treffen.“

„Die Luftfahrtgesellschaft? Die Technikexperten?“, fragt M. Bleibt alles unklar. Die Maschine war zwar alt, wurde aber noch einen Tag vor dem Abflug aus Barcelona technisch gewartet. Die Experten sprechen eher über allgemeine Probleme bei den Flugzeugen, tun sich aber schwer, im konkreten Fall eine Erklärung zu finden. Selbst ein Anschlag durch Passagiere wird nicht ausgeschlossen, wenngleich es kein Anzeichen dafür gibt und auch keine Bekennerschreiben aufgetaucht sind. „Also lasst uns rekonstruieren, was wir über den Ablauf bis zum Aufprall wissen. Schatz soll mitschreiben“, kürzt M die Wiedergabe der Informationslage ab.

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