Kitabı oku: «Sonnenfinsternis», sayfa 3

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M hatte akzeptiert, das genaue Funktionieren dieses Mediums nicht verstehen zu können. Die Distanz zwischen ihr und ihm war am spürbarsten, wenn sie in den Sitzungen vollständig in ihre Welt eintauchte, in der er für sie ganz ausgeblendet war. Er war dann eigentlich nur ein gebannter Zuhörer ihrer murmelnden Selbstgespräche, in denen es immer auch wieder Passagen gab, von denen er nichts verstand, die er mit nichts in Verbindung bringen konnte, was in seinem Leben interessierte. Legt sie die Karten und schaut in die Kugel, klingt alles viel harmloser, erscheint ihm wie prosaische Psychologie einer sehr gebildeten Frau. M sieht keinen Grund, an der Seriosität seiner Wahrsagerin zu zweifeln. So gibt es auch keinen Grund, an seiner Methode zu zweifeln, sich ihrer für seine Tätigkeit zu bedienen. Seine Methode vertraut er nur seiner Kladde an und hat sich geschworen, nie mit einem anderen Menschen darüber zu reden.

In der Politik gilt es, keine Spur zu hinterlassen, die dazu führen könnte, ihn der Scharlatanerie zu bezichtigen. Nach außen ist er deshalb der absolut loyale Abgeordnete, der stets den vorgegebenen Spielregeln der parlamentarischen Abläufe folgt und großen Wert darauf legt, als sehr zuverlässig und gewissenhaft zu gelten. Dass er diese Wahrsagerin gefunden hatte, ist für M ein Beweis, dass er, wenn auch nur auf unterster Stufe, einbezogen ist in das kosmische System. Seinen Auftrag versteht er in der ihm eigenen einfachen und prägnanten Art: Signale und Botschaften zu empfangen, sie in politischen Zusammenhängen zu verstehen, Lösungen im Rahmen der Institutionen zu finden, deren Teil er ist. Die Sonnenfinsternis war ein ihn aufwühlendes Ereignis. Die Informationen, die er in ihrem Umfeld von seiner Wahrsagerin erhalten hatte, hatten sich wie ein Mantel um die Ereignisse geschmiegt, die sich in den wenigen Tagen abgespielt hatten. Es liegt nun an ihm, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Mit der Sonnenfinsternis und den für einen Politiker dunklen Wegen, die er ihretwegen in den vergangenen Tagen gegangen ist, verbinden sich für M aktuelle Ereignisse in Zusammenhängen, die andere Politiker offensichtlich nicht sehen können, jedenfalls noch nicht. In Friedrichshain war es in der Nacht nach der Sonnenfinsternis zu einem kurzen großflächigen Stromausfall gekommen. Die Straßenlaternen erloschen, und sofort waren Randalierer zu Stelle. In der düsteren Rigaer Straße brannten schnell errichtete Barrikaden, ein Supermarkt wurde geplündert und Polizisten wurden mit Steinen beworfen. Die Chaoten kamen von einer „Soli-Party“, die nur wenige Häuser von der Wahrsagerin entfernt stattgefunden hatte. Wie ein Schwarm waren die Randalierer durch das Viertel gezogen und hatten zerstört, was auf dem Weg lag oder was sich ihnen entgegenstellte. Autos wurden beschädigt und angezündet, Polizisten verletzt.

M hatte die Meldungen verfolgt, weil sie so genau in das Bild passten, das ihm vorher seine Wahrsagerin gezeichnet hatte. Das war ebenso präzise wie das Bild von dem schießwütigen Mann in der Straße der Pariser Kommune. Der Mob in diesem Viertel, so die Vorstellung von M – ist nicht nur eine ständige Herausforderung des Rechtsstaates, sondern zeigt, wie der Politik die Zügel entglitten waren. Die Bevölkerung wird eingeschüchtert und die Politik findet keine angemessenen Mittel, mit diesen Zerstörungen im Inneren der Gesellschaft fertig zu werden.

Dann war da noch der Satz seiner Wahrsagerin, der ihm am meisten zu schaffen machte und so viele Energien in den wenigen Tagen freigesetzt hatte: „Es wird sehr bald etwas Fürchterliches geschehen, das unser ganzes Land in Schrecken versetzen wird. Ich sehe es, wie es in voller Wucht zerschellt, sehe einen Regen aus Trümmern vom Himmel fallen.“ M hatte diese Prophezeiung als Umschreibung der Ungeheuerlichkeit verstanden, dass nun selbst die starken Mauern des Parlaments zur Zielscheibe von Anschlägen werden konnten. Er fühlte in sich den Auftrag, die Initiative zu ergreifen, um die politische und öffentliche Aufmerksamkeit auf ein Schauspiel zu lenken, das in höllischer Unverfrorenheit die Stein gewordene Demokratie zu zertrümmern begann. Natürlich waren fürs Erste keine sichtbaren Beschädigungen mit den Anschlägen verbunden, und die Tat an sich mochte marginal erscheinen. M aber sah hinter dieser zu vernachlässigenden Äußerlichkeit einen Anschlag mit unendlichem Zerstörungspotenzial. Nicht nur die Gesellschaft erodierte in ihren Kernen. Nun wurde die Demokratie selbst angegriffen und ihre stärksten Symbole wurden der Lächerlichkeit preisgegeben.

Die Stimmung am Dienstagmorgen im Büro ist spürbar gereizt. M kann seine Nervosität kaum verbergen und schreitet ziellos durch sein Büro. Schatz ist über Gebühr lange mit der Kaffeemaschine beschäftigt. Ihr Lächeln beim Begrüßen ihres Chefs bleibt künstlich. Der Morgen im Büro, das ist sonst ihre große Zeit. Die Bilder früherer Tage, als die drei in freundlicher Konversation mit Kaffee den neuen Arbeitstag begannen, sind ein irritierender Kontrast gegen die unbeholfene Art, wie M und Madame vergeblich den Einstieg in ein Gespräch suchen. Es ist ein grauer Tag, und die Sekretärin hat noch nicht gemerkt, dass sie vergessen hatte, die Jalousien vor den Fenstern hochzuziehen. Es ist lähmend still im Büro, und die Minuten vergehen zäh, in denen alle drei schweigen und jeder mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint.

Schließlich ist es Madame, die den Bann bricht und sich mit festen Schritten in das Zimmer von M begibt. „Darf ich Sie kurz stören?“ Ihre Stimme klingt unsicher. Schatz sieht sie aus dem anderen Zimmer in der Tür stehen und bemerkt, wie verlegen die junge Frau mit den Fingern ihrer rechten Hand durch die Haare fährt. Auch M wittert, dass seine Mitarbeiterin nicht das Selbstvertrauen ausstrahlt, das er sonst von ihr gewöhnt ist. Er zaudert einen Augenblick, steht dann aber sehr gerade und mit seinem Körper ihr zugewandt: „Sie dürfen. – Sie haben sicher zur Kenntnis nehmen müssen, dass ich Ihrem Rat nach langem Nachdenken nicht gefolgt bin.“ Seine Stimme klingt ein wenig gepresst, als müsse er künstlich Haltung gegen seine Emotionen bewahren. Nach kurzer Pause fügt er zu: „Ich weiß Ihre analytischen Fähigkeiten sehr zu schätzen. Aber ich bin Politiker und muss zum richtigen Zeitpunkt tun, was ich für richtig halte. Und diesen Zeitpunkt halte ich jetzt für richtig.“

Madame macht ein paar Schritte in Büro hinein und setzt sich auf die Lehne eines Sessels an der Vorderseite des Besprechungstisches. Ihr Chef steht fast ungeschützt vor seinem Schreibtisch, und sie schaut ihm direkt ins Gesicht. Sie holt tief Luft und merkt, wie sie ruhiger wird, wie ihr die Sätze auf die Zunge kommen, die sie sich vorhin überlegt hatte, als sie zur Kenntnis nehmen musste, dass die Briefe bereits nicht mehr im Büro waren. „Ich hatte Ihnen die Notiz geschrieben, weil ich überzeugt war, es könne der Sache nur guttun, noch einmal eine Nacht über die Absicht zu schlafen, einen Untersuchungsausschuss anzuregen. Ich hoffte, im Gespräch können wir klären, ob wir genügend Indizien und Argumente haben, um für diesen Vorschlag Verständnis und Unterstützung Ihrer Kollegen beanspruchen zu können.“

M schaut sie nicht an, während sie redet. Seine Augen liegen abgelenkt auf dem dicken Stapel der Unterlagen für die gleich beginnende Sitzung. Er braucht diesen kurzen verbalen Schlagabtausch mit seiner Mitarbeiterin, will ihn aber auch nicht richtig. Am liebsten wäre es ihm jetzt gewesen, der Gong für die Abgeordneten wäre in dieses Gespräch gefallen, das Zeichen, sich nun in den Plenarsaal rufen zu lassen und die Plätze einzunehmen. Er schaut auf seine Uhr und vergewissert sich, dass es bis zum befreienden Gong noch etwas dauern wird. So gewinnt er Zeit und bewegt sich langsam hinter seinen Schreibtisch, setzt sich auf seinen Stuhl und faltet seine Hände auf der Tischplatte. Die innere Ordnung stellt sich bei ihm wieder ein, die Dinge um ihn herum verlieren ihr provozierendes Eigenleben. Es ist wieder klar, wer hier Chef ist. Durch die geöffnete Tür ruft er seiner Sekretärin mit seiner liebenswürdigen Stimme zu: „Schatz, hast du für uns noch einen Kaffee?“ Er wendet sich nun seiner Mitarbeiterin zu, die er mit konzentriert ernster Miene ins Visier nimmt. „In der Politik gibt es Situationen, in denen entschieden werden muss, auch wenn noch nicht alle Fakten und Argumente auf dem Tisch liegen, die gegen diese Entscheidung ins Feld geführt werden können.“ Seine Augen bleiben jetzt fest auf das Gesicht von Madame gerichtet.

M ist über sich selbst verwundert, wie leicht ihm diese tiefsinnige Erkenntnis über das Politische über die Lippen kam. Denn der Satz erscheint ihm nicht nur sehr analytisch zu sein, sondern auch sehr praktisch, weil er den Unterschied zwischen ihm und seiner Mitarbeiterin deutlich macht. M ist ein wenig stolz, wie er Madame gerade mit den Mitteln der Analytik schlagen kann, auf einem Gebiet also, dem sie sich ihm gegenüber überlegen weiß. Und er will ihr ebenso eindrucksvoll deutlich machen, dass er der Entscheider bleibt und seine Mitarbeiterin eine zuarbeitende Rolle einzuhalten hat. Seine Haltung hinter dem Schreibtisch verharrt in einer bei ihm nur selten erkennbaren Festigkeit und Konzentration, welche die Überlegenheit seines Status ebenso signalisieren soll wie die Angespanntheit eines sich selbst reflektierenden Denkers.

Madame schaut ihn entspannt an und lächelt leicht. Sie ist ihm jetzt ferner denn je. Sie fühlt die stickige Luft, in der seine Worte verhallt sind. Innerlich setzt sich in ihr nur ein Wort fest, das sie wie ihren Augapfel hütet: „Phrase“. Einen Augenblick lauscht sie in sich, genießt, wie dieses Wort klingt. Aber freundlich und korrekt antwortet sie ihm: „Selbstverständlich werde ich mit Ihnen den Weg gehen, den Sie eingeschlagen haben. Ich halte den Weg nicht für richtig, aber ich werde meine Aufgabe so gut wie möglich erfüllen, Sie optimal in dem Entscheidungsrahmen zu unterstützen, der von Ihnen gesetzt ist.“

In die kurze Pause, die entsteht, kommt Schatz mit dem Kaffee und den Tassen. Sie stellt die Utensilien eines friedlichen Morgens auf den Besprechungstisch. Sie selbst setzt sich gleich zu Tisch, und auch M erhebt sich nun und nimmt seinen Platz zwischen den beiden Damen ein. Beim Eingießen des Kaffees sagt die Sekretärin zu ihrem Chef: „Der Fraktionsvorsitzende hat anrufen lassen. Er möchte Sie gerne um 11.00 Uhr kurz sprechen. Er wird dann im Plenum anwesend sein und lässt Sie bitten, mit ihm ein paar Schritte gemeinsam auf den Gängen hinter dem Plenarsaal zu machen.“

M zieht die Luft tief in seine Lungen. „Ach, Schatz, öffne doch bitte die Jalousien, es ist ja hier viel zu dunkel.“ Er streckt sich und sagt mit ernstem Gesicht zu den beiden: „Der Wagen rollt. Ich glaube, wir bekommen viel Arbeit.“ Nun ist er auch Madame gegenüber wieder versöhnlich gestimmt. Das Gefühl eines besonders guten Morgens durchrieselt ihn. Madame soll wissen, dass er nicht weiter der böse Vorgesetzte sein möchte. Fast ein wenig zärtlich spricht er sie an: „Ich schätze Ihre Offenheit und Ihre vorsichtigen, abwägenden und kritischen Einstellungen sehr. Ich bin sicher, schon bald werden wir gemeinsam eine gute Gelegenheit haben, effektiv und beachtet von der Öffentlichkeit unsere sicher nicht leichte Arbeit starten zu können. Da setze ich auf Sie. Sammeln Sie doch bitte alle Dokumente, die von der DWB bekannt geworden sind und finden Sie jemanden, der sich mit Sprachanalysen auskennt.“

Im Plenum sieht man M pünktlich auf seinem Platz. Sein Gesicht ist entspannt. Gewissenhaft hört er zu, was vom Rednerpult aus vorgetragen wird. Gefühle, wie sie sich im Applaudieren oder auch in Zwischenrufen mitteilen, berührten ihn nicht. Die Vorträge und Redebeiträge erscheinen ihm an diesem Dienstagmorgen nicht besonders wichtig. Er blättert hin und wieder in seinen Unterlagen. Er hat registriert, dass auch sein Fraktionsvorsitzender pünktlich vorne auf seinem Platz saß

Dieser Tag im Deutschen Bundestag ist für M alles andere als ein normaler Routinetag in einer Sitzungswoche des Hohen Hauses. Er erlebt ihn angespannt als einen Schlüsseltag in seiner Parlamentskarriere. Hinter der ruhigen Gelassenheit, mit der er äußerlich seine Pflichten als Abgeordneter zu Protokoll gibt, flackert innerlich Unruhe und Tatendrang. Der 24. März soll um 11 Uhr ein politisches Kapitel aufschlagen, in dessen Mittelpunkt notwendigerweise seine Person rücken muss. Ab 10.30 Uhr schaut er des Öfteren auf seine Uhr und spürt eine knisternde Erregung, die in der Luft zu liegen scheint. Kurz vor 11 Uhr bemerkt M, wie seine Hände ein wenig zittern, als er seine Papiere auf dem Pult sortiert zusammenlegt. Er ruft sich zur Ordnung und reißt sich zusammen. Innere Unruhe will er nicht zulassen. Selbstbewusstsein und Souveränität sind jetzt gefragt.

Er konzentriert sich nun vollständig auf seinen Fraktionsvorsitzenden und wartet, dass sich dieser von seinem Platz erhebt. Denn M hat sich vorgenommen, ihm im angemessenen Abstand nach draußen zu folgen, sobald der Vorsitzende nicht weit von ihm den Saal verlässt. Nun nimmt M wahr, wie auf einmal ein Saaldiener auf den Fraktionschef zugeht und diesem einen Zettel übergibt. Der Fraktionsvorsitzende überfliegt ihn schnell und M glaubt erkennen zu können, wie Fassungslosigkeit, Erschrecken und Erstarrung von seinem Freund Besitz ergreifen. „Nur keine Ablenkung, kein Zwischenfall“, schießt es M durch den Kopf. „An meiner Mission geht kein Weg vorbei“, sagt er sich und registriert, wie ihn diese Bilanz beruhigt. Doch irgendetwas muss geschehen sein. Denn der Fraktionsvorsitzende ist jetzt in Bewegung. Eine kleine Traube ratloser und betroffen ausschauender Kolleginnen und Kollegen aus den ersten Reihen stehen da mit gleicher Fassungslosigkeit in den Gesichtern, die er bereits bei seinem Chef erkannt hatte. Im Plenum entstehen jetzt überall die kleinen Veränderungen im Verhalten der Abgeordneten. Die Ordnung im Parlament ist aus den Fugen.

Um 11.10 Uhr unterbricht der Präsident des Bundestages die Sitzung. Er läutet mit seinem Glöckchen und wartet, bis in den gut gefüllten Reihen des Hauses Ruhe eingetreten ist. Auch in seinem Gesicht ist das schreckliche Ereignis geschrieben, das er gleich verkünden wird. „Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen eine sehr traurige Nachricht überbringen. Soeben ist bekannt geworden, dass vor wenigen Minuten ein Flugzeug in den Bergen der südlichen Alpen etwa 100 Kilometer nördlich von Nizza abgestürzt ist. Es handelt sich um einen Airbus A 320 der Germanwings, einer Tochter der Deutschen Lufthansa, mit der Flugnummer 4U9525 auf ihrem Flug von Barcelona nach Düsseldorf. An Bord waren 150 Personen, 144 Passagiere, zwei Piloten und vier Flugbegleiterinnen. Wir müssen davon ausgehen, dass alle ihr Leben verloren haben. 70 Personen unter den Opfern sollen deutsche Staatsbürger gewesen sein.“

Der Präsident ringt mit seinen Gefühlen, die Stimme klingt fast gebrochen. Gedankenverloren schaut er einen Augenblick lang auf das vor ihm liegende Papier und fährt dann in die vollständige Stille des Saales fort: „Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich von Ihren Sitzen zu erheben.“ Stehend und schwer nach den richtigen Worten suchend deklariert er: „Der Deutsche Bundestag verneigt sich voller Schmerz vor den Opfern. Unsere Trauer und unser Mitgefühl gelten ganz besonders den vielen Familienangehörigen und Freunden, die jetzt von dieser schrecklichen Katastrophe erfahren müssen. Das ist ein schwarzer Tag für die Luftfahrt und ein schwarzer Tag für unser Land. Das schreckliche Ereignis zeigt uns die Grenzen unseres Mitleid in der Politik ebenso auf, wie es uns an unsere tiefsten Gefühle zum Mitleiden als Menschen ermahnt, an unsere Mitmenschlichkeit. Ich bitte Sie, mit mir ein Minute zu schweigen, um unsere Trauer zu bekunden.“

Natürlich ist auch M aufgestanden. Wie bei allen anderen im Saal zeigt sein Gesicht ernsthafte Sammlung. Er steht sehr gerade, hat seine Hände vor dem Körper ineinander gelegt, hält abwechselnd den Präsidenten und den Fraktionsvorsitzenden im Blick. In die Schweigeminute hinein merkt er, wie er die Nachricht ohne jede Gefühlsregung aufgenommen hat. Ob sich seine Gedanken auf den Flugabsturz oder auf seine politische Mission beziehen, ist ihm in dieser Minute nicht klar. In seinem Kopf gibt es eine Schublade für Ereignisse, vor allem solche, die man mit dem Begriff Katastrophe bezeichnet, gegen die man nichts machen kann, die nach einer anderen Logik geschehen, wie sie dem politischen Handeln zugrunde liegt. In diese Schublade rutscht gerade die Nachricht vom Flugzeugabsturz. Hingegen drängt sich ihm sehr deutlich ein Imperativ auf: „Jetzt keine Fehler machen!“

Die Sitzung wird für eine halbe Stunde unterbrochen. Im Saal bilden sich viele Grüppchen und man sieht nur betretene Gesichter. Keiner will mit der Nachricht allein sein. Viele drängt es, zusammen mit Kolleginnen und Kollegen den Saal zu verlassen. M aber bleibt allein, sitzt vor seinem Pult und gibt sich Mühe, die Haltung eines ratlos Grübelnden und tief Betroffenen einzunehmen. Den Kopf hat er in seinen Händen abgestützt. In Wirklichkeit beobachtet er angestrengt die Gruppe vorne um seinen Fraktionsvorsitzenden. Dieser steht, nicht sehr groß aber mit imposanter Gestalt mitten unter den anderen, die immer wieder den Kopf schütteln oder sich mit kurzen Sätzen aneinander wenden. Der Fraktionsvorsitzende redet fast gar nicht. Er sieht sehr blass aus, und seine rechte Hand hebt sich öfter hoch zur Brille, als es sonst bei ihm üblich ist. M merkt, wie dem Fraktionschef die Nachricht offensichtlich in die Knochen gefahren ist. Er kennt ihn als einen Menschen, der zu starken Gefühlen neigt.

Nach wenigen Minuten löst sich der Fraktionschef aus dem Pulk der Abgeordneten, die sich um ihn herum versammelt haben. Er verlässt sie und schreitet schnell den Gang nach oben dem Ausgang entgegen. Er sieht nicht nach rechts und nicht nach links und bemerkt auch nicht M nur wenige Meter entfernt, der so allein auf seinem Platz sitzen geblieben ist und der jetzt aufsteht, da der Vorsitzende so dicht an ihm vorbeieilt. M bleibt noch kurz an seinem Platz stehen. Die Reihen im Plenarsaal haben sich weitgehend gelichtet. Nur auf den Zuschauerrängen, die gut besucht sind, mag es Augen geben, die auf ihn gerichtet sind. Langsam setzt sich M in Bewegung Richtung Ausgang. Auch draußen, nun wieder mit einigem Betrieb auf dem Gang, bleibt er allein. Links den langen und breiten Gang hinunter erkennt er seinen Fraktionsvorsitzenden im Gespräch mit einem Kollegen. M weiß, die beiden schätzen sich nicht besonders. Langsam schlendert M an den miteinander im Gespräch vertieften Abgeordneten vorbei, dem Vorsitzenden entgegen.

Nur wenige Meter von seinem Ziel entfernt wird er bereits von seinem Chef erkannt. Der hält seine Hand freundlich, oder auch nicht, um den rechten Oberarm seines Gesprächspartners, dreht sich ein wenig von ihm und löst sich dann von ihm ohne weitere Worte. Er wendet sich M mit einem aufhellenden Gesicht zu, aus dem allerdings das sonst oft jungenhafte Lächeln im Kreis seiner Getreuen gewichen ist. „Mein Freund, wie gut, Sie zu treffen“, kommt er M entgegen.

M lächelt eher verlegen und fixiert den Vorsitzenden mit starrem Blick. „Es gibt entspanntere Situationen, sich zu treffen“, erwidert er die Begrüßung, „wir werden aufpassen müssen, politisch nicht in dieses Unglück hineingezogen zu werden.“

Mit Stolz registriert M die Beachtung, die ihm gerade zuteilwird. Er muss nicht herumschauen, um zu wissen, dass nun viele Blicke auf ihn gerichtet sind mit dem neugierigen Interesse, mit wem der Fraktionsvorsitzende gerade spricht. Der legt vertraut den Arm um Ms Schulter und schlendert mit ihm ein paar Schritte weiter den Gang hinunter bis zur nächsten Sitzecke, wo sich die beiden auf einem schwarzen Sofa nieder lassen. M ist seinem Chef jetzt also wichtig. Der Gong tönt und ruft die Abgeordneten zurück in den Plenarsaal. Für M, der mit dem Fraktionsvorsitzenden auf dem Sofa sitzt, ist dieser Ruf nicht ganz verbindlich gemeint. Er ist jetzt außerordentlich wichtig. Schnell leert sich der Gang. M genießt die Situation, hier sitzen bleiben zu dürfen und nickt nun doch dem einen oder anderen freundlich zu, während der Fraktionsvorsitzende noch mit seinen Gefühlen über das Vorgefallene zu kämpfen scheint.

„Ich bewundere, wie offensichtlich gefasst Sie mit dieser fürchterlichen Nachricht klarkommen. Mir raubt sie noch immer jede Vernunft.“ In der feierlichen Stimmung, die von den alten Wänden des Reichstags ausgeht, klingt der alemannische Zungenschlag des Fraktionsvorsitzenden noch gesungener und breiter. „Sie haben recht“, fährt er fort, als spräche er zu sich selbst, „bei solchen Katastrophen kann man gar nicht achtsam genug sein, alle nur denkbaren Verbindungen zur Politik frühzeitig zu erkennen und im Auge zu behalten.“ Eine kurze Pause fügt sich an, in der sein Fraktionsvorsitzender scharf konzentriert nachzudenken scheint. M schweigt erwartungsvoll, bis sich sein Kollege an ihn wendet, sich sogar auf dem Sofa zu ihm dreht, ihm sehr direkt ins Gesicht schaut und sagt: „Seit Sie in unsere Fraktion gekommen sind, habe ich Sie sehr schätzen gelernt. Sie sind loyal, fleißig und neigen nicht zur Emotionalität, die den Verstand benebelt. Sie sind für unsere Arbeit wichtig. Heute habe ich eine Bitte an Sie. Ich benötige von Ihnen ein Dossier, in dem Sie alle kommenden Informationen über diesen schrecklichen Unfall genau registrieren und vor allem unter dem Gesichtspunkt prüfen, in welcher Weise die Politik, unsere Regierung und unser Parlament in die Sache gezogen werden könnte. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diese Analyse für uns vorbereiten und mir entsprechende Anmerkungen zukommen lassen. Und meiden Sie einstweilen öffentliche Erörterungen Ihrer Arbeit. Ihre Hinweise sollen ausschließlich an mich gehen. Es gibt also keinen weiteren Verteiler.“

Die Lobby vor dem Plenarsaal ist inzwischen leer. Die beiden Herren sitzen fast verschworen in einer Ecke. M fühlt sich mit diesem Angebot überrollt, mehr noch aber geehrt und aufgewertet. Exklusivität verbindet ihn mit seinem Vorsitzenden. Aber auch ein Empfinden des Misstrauens steigt in ihm auf. Das Thema behagt ihm eigentlich nicht. Es läuft doch sowieso wieder alles auf eine menschliche Schwäche oder auf irgendeine Schlamperei hinaus. Doch er verehrt seinen Vorsitzenden und hat noch nie so nahe mit ihm zusammengesessen. Nie würde er ihm widersprechen oder ihm einen Rat geben. So nimmt er ihn fest ins Auge und sagt: „Das werde ich sehr gerne für Sie tun. Sie können sich wie immer auf mich verlassen. Zwar bin ich sicher, in dieser Sache ist nichts für uns drin. Aber damit dürfen wir uns nicht vorzeitig zufriedengeben. Und wenn es so ist, dann ist das ja auch ein wichtiges Ergebnis.“

Der Fraktionsvorsitzende zieht die Augen ein wenig zusammen. Auf seiner Stirn bilden sich die kleinen Falten. Sein Gesicht wird kühl und unfreundlich. Er hört einen eigenartigen, schwer zu deutenden Ton in der Stimme seines Kollegen, unangemessen und ohne Empathie für das grausame Geschehen, unter dessen Schatten sie miteinander reden. Die Verstimmung verebbt wie sie aufgeflackert ist. Vielleicht kennt er sein Gegenüber einfach zu wenig. Freunde müssen sie ja nicht sein. Jedenfalls schickt er sich an aufzustehen und der wartenden Arbeit zu widmen. Fast beiläufig sagt er wie zum Abschied: „Ach ja, vielen Dank für Ihren Brief.“

M ist jetzt wie elektrisiert. Sein Kopf ist hellwach. „Die Anschläge gegen unser Haus müssen uns sehr beunruhigen.“ Er sagt das, während sein Blick auf den großen Sandsteinquadern liegt, aus denen die gegenüberliegende Wand errichtet ist. Die historischen Zeichen in dem mächtigen Haus beeindrucken ihn immer wieder. M spricht langsam, und es soll bedacht und verantwortungsvoll klingen, wie er sein Thema der Absicht seines Gesprächspartners entgegenstellt, der gerade im Begriff ist, sich aus der Unterhaltung zu lösen und zu gehen.

Beide stehen sich nun gegenüber. Der Fraktionsvorsitzende schlüpft nun schnell wieder in die Haltung des erfahrenen Politikers, der M signalisiert, dass er keinen langatmigen Dialog führen wird. Er steht da und strahlt die Autorität aus, durch klare Feststellungen und Anweisungen aufkommende Diskussionen schnell zu ihrem Ende zu führen. „Werter Kollege, wir haben im Augenblick Wichtigeres zu tun, als Ihrer Vermutung nachzugehen, ob durch die Anschläge, wie Sie die Verrücktheiten eines Querulanten oder Idioten bezeichnen, das parlamentarische System in Gefahr geraten kann. Vergessen Sie das. Ich hätte Ihnen das gerne ausführlicher dargelegt. Aber angesichts der Katastrophe, unter deren Eindruck wir stehen, müssen wir das auf irgendwann später vertagen. Im Augenblick habe ich viele andere Sorgen. Es eilt ja auch nicht, sollte an Ihren Beobachtungen irgendetwas dran sein. Ich freue mich, dass Sie meinem Wunsch folgen, sich mit den Informationen über die Aufdeckung der Unfallursachen und der Unfallfolgen zu beschäftigen.“

Der Fraktionsvorsitzende steht nun so aufrecht vor M, dass der sich gezwungen sieht, ihm gegenüber demütig ein wenig den Kopf nach unten zu neigen. Sein Gegenüber reicht ihm die Hand. Obgleich er nicht größer ist als M, erscheint er doch mächtiger und selbstbewusster dazustehen. Der Handschlag des Vorsitzenden ist kräftig und fest. Mit unterwürfiger Verbeugung verabschiedet sich M von seinem Idol. Schließlich steht auch M wieder gerade und schaut in ein freundliches Gesicht eines geschäftigen Mannes, der noch einmal aufmunternd nickt und sich dann abwendet. Mit ausholenden Schritten zieht der Fraktionsvorsitzende zur Tür, die ihn wieder in die Arena lässt.

Bevor auch M sich anschickt, wieder in den Plenarsaal auf seinen Platz zu gehen, bleibt er einen Augenblick mit sich allein in der Nische des Wandelgangs, der um den großen Saal der Gemeinschaft der Abgeordneten führt. Er fühlt sich spürbar von den großen Gefühlen seiner Kolleginnen und Kollegen ausgeschlossen, ein Mann, sehr allein mit sich. Seine innere Einsamkeit verbindet sich mit vielen Erfahrungen in seinem Leben, die er mit anderen Menschen gemacht hat. Er denkt an seine Wahrsagerin. Das Zerschellen des Flugzeuges an den schroffen Wänden der Alpenbergwand ist für ihn nun klar mit den Zeichen der Sonnenfinsternis verbunden. Ihm waren diese Zeichen offenbart worden, er hat sie aber nicht zu deuten verstanden. Ihm kommt der Satz seiner Wahrsagerin in den Sinn: „Die Finsternis ist die Gegenmacht des Lichtes und deckt alle Gedanken zu, es könne eine ewige Herrschaft des Hellen gegen das Dunkle geben.“ Der ehrwürdige Raum in diesem Haus gibt ihm keinen Schutz vor der Weltsicht, dessen Zeuge er ist.

Natürlich weiß er nun, dass die Bilder des Zerschellens und der Trümmer, von denen die Wahrsagerin geraunt hatte, in den noch frischen Nachrichten über den Flugzeugabsturz ihre groteske Erfüllung fanden. Mit seiner Deutung lag er falsch, die Sätze der Wahrsagerin auf die stürzenden Mauern des Bundestages bezogen zu haben. Er, der sich noch bis vor wenigen Minuten als eine Lichtgestalt gegen die Finsternis dachte, wurde von der Finsternis höhnend herabgezogen in einen Abgrund seiner politischen Existenz. Die mahlenden Kräfte der Zeit überrollten gnadenlos seine Illusion, dem Bösen rechtzeitig die Stirn zu bieten. Die großen und die kleinen Zeichen, die aus der Sonnenfinsternis zu ihm gesandt worden waren, gerieten ihm gründlich durcheinander.

Dieser Vormittag ist für M eine schwere Niederlage. Dafür macht er nicht den Fraktionsvorsitzenden verantwortlich. Dessen Bereitschaft, mit ihm persönlich zu sprechen, rechnet er ihm hoch an. Er schämt sich jetzt sogar, dessen Aufmerksamkeit mit einer falschen Idee auf sich gelenkt zu haben. Er mutmaßt, dass die unterschiedlichen Gefühlslagen, die das Flugzeugunglück bei ihm und den anderen erzeugte, nicht nur auf unterschiedliche politische Reflexe zurückzuführen sind. M wittert in seiner Persönlichkeit eine ihm rätselhafte Kraft, warum ihn das Unglück mit den 150 Toten so wenig berührt. Ihn rühren keine Gefühle, die nichts nützen und zu nichts führen, wie er schon oft in anderen Zusammenhängen feststellte. Diese Kraft ließ ihn in der politischen Arena auf ein falsches Ziel setzen. Dieses Mal hat er verloren. An dieser Einsicht ging kein Weg vorbei. Dem musste er sich fügen. Diese Einsicht musste er sich eingestehen. Das war ihm klar geworden.

Noch gehört er auf die hintere Bank, wo er wieder Platz nimmt. Da spricht er sich aus der sicheren Deckung Mut zu. Immerhin hat ihn der Fraktionsvorsitzende soeben zum Sonderbeauftragten gemacht – das ist nun das neue Schlüsselwort, das ihm spontan durch den Kopf schießt. Er wird allein gegenüber diesem Fraktionsvorsitzenden Verantwortung für die Deutungen haben, die aus den Informationen zu ermitteln sind, die in großem Umfang nun über den Absturz der Flugzeugmaschine in die Öffentlichkeit gejagt werden. Er muss das in keinem Gremium machen, keiner wird erfahren, woran er arbeitet. Er will diese politische Aufgabe gut erledigen und gleichzeitig den Beweis führen, dass er diplomatisch sein kann, ohne dass ihm jemand auf die Spur kommt, womit er seine parlamentarische Zeit füllt. M verlässt die Stätte seiner politischen Niederlage an diesem Tag nicht ohne Mutlosigkeit. Es ist das erste Mal, dass er im institutionellen Rang der parlamentarischen Dinge gefragt ist, exklusiv.

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