Kitabı oku: «Sonnenfinsternis», sayfa 5

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Der Airbus A320 der Germanwings war kurz nach 10:00 Uhr in Barcelona zu seinem Flug nach Düsseldorf gestartet. Es gab keinerlei Hinweise, dass irgendetwas mit der Maschine nicht in Ordnung sein könnte. Der Funkverkehr lief die ersten 45 Minuten völlig normal. Die übliche Flughöhe von 38.000 Fuß war schnell erreicht worden. Um 10:44 Uhr hatte es ein Signal gegeben, wonach die Maschine diese Höhe verlassen habe. Um 10:52 Uhr war der Funkkontakt in einer Höhe von nur noch knapp über 6.000 Fuß abgerissen, so Germanwings-Chef Winkelmann. Da befand sich die Maschine bereits in der Nähe von Barcelonnette im Département Alpes-de-Haute-Provence, rund 100 Kilometer nordwestlich von Nizza. Das Bergmassiv Les Trois Évêchés ist hoch, steil und zerklüftet. Dort prallte die Maschine um 10:53 Uhr gegen die Bergwand und zerschellte. Die Teile liegen meilenweit auseinandergeschleudert in dem nur schwer zugänglichen Gebiet verteilt.

Madame zieht aus ihrem dicken Papierstapel noch eine Notiz heraus: „Es gibt da eine Webseite, die heißt Flightradar24. Sie verfolgt Flugrouten und bildet sie im Netz grafisch ab, auch unseren Flug. Danach sei die Maschine am Ende etwa 900 bis 1.200 Meter pro Minute gesunken. Das sei vergleichbar mit dem Standard bei Landeanflügen.“

Diese Meldung verfolgt M mit intensiver Aufmerksamkeit. Er holt sich seine Kladde und zeichnet den Verlauf der Kurve, die die Maschine im Sinkflug in den letzten acht bis neun Minuten geflogen war. Dieser Linie legt er eine Horizontale unter, auf der er die Minuten markiert, um auf diese Weise die gleichmäßige Sinkkurve zu dokumentieren. „Das Wetter war gut, klarer Himmel. Im Cockpit war also den Piloten klar, was passieren musste. Kein Notruf, kein Alarm.“ Schatz und Madame sitzen erschrocken vor seiner Zeichnung.

Madame holt noch ein anderes Blatt aus den vielen Nachrichten: „Am Nachmittag wurde der Stimmenrekorder unter den Trümmern gefunden. Aber es gibt noch keinen Hinweis, was die Audio-Dateien an Informationen bergen.“

M bewertete diese Lagebesprechung als gut gelaufen und brach sie schnell ab. Er wollte pünktlich im Plenum sein. Auf seinem Platz verfolgte er aufmerksam die Meldungen, die er über sein Smartphone bekam, eine bei vielen Kollegen beobachtete Praxis, während der Sitzungsreden, die er zutiefst verabscheute. Immer wieder betrachtete er seine Zeichnung über die Flugbewegung der Maschine in ihren letzten Minuten. Er fertigte von ihr auf der leeren Folgeseite seiner Kladde eine Reinzeichnung an, für die er eine Broschüre aus seinen Unterlagen als Lineal benutzte. Daneben schrieb er die einschlägig bekannten Daten des Flugzeuges und seines Absturzes.

In der Mittagspause lief er fast beiläufig seinem Fraktionsvorsitzenden über den Weg. Der kam ihm entgegen, schüttelte die Hand und meinte warmherzig: „Mein Freund, Sie wissen sicher auch noch nicht mehr als ich.“ M lächelte ein wenig verlegen, zog seine Zeichnung aus der Tasche, zeigte sie dem Fraktionsvorsitzenden und sagte: „Alles weiß ich noch nicht. Aber schauen Sie, diese Fluglinie geht dem Aufprall voraus. Sie deutet auf keinen technischen Defekt der Maschine hin, auf keine Explosion und auch auf keine Turbulenzen bei den Passagieren. Die Fluglinie wäre auch nicht logisch, wenn der Pilot plötzlich kollabiert oder nicht mehr Herr der Situation gewesen wäre. Sie sieht so aus, als sei die Maschine absichtlich auf diesen Kurs gesteuert worden.“

Der Fraktionsvorsitzende verliert sichtbar Farbe im Gesicht. „Um Gottes Willen, was wollen Sie damit andeuten? Das kann doch gar nicht sein.“ Kurz schweigen beide und er fährt fort: „Haben Sie Kontakt zum Bundeskanzleramt aufgenommen? Die Kanzlerin ist wahrscheinlich schon unterwegs zur Unglücksstelle.“

„Nein“, erwidert M. „Wir waren ja so verblieben, dass ich nur Ihnen berichte und auch nur Ihnen meine Schlussfolgerungen mitteile.“

Da hellt sich das Gesicht des Fraktionsvorsitzenden wieder auf, und er klopft M freundlich auf die Schulter. „Sie haben einen scharfen Verstand. Aber verrennen Sie sich nicht. Ich setze weiter auf Sie.“ Spricht - und wendet sich schnell anderen zu, die seine Nähe suchen und ihm bereits auf den Fersen sind.

Nach der Mittagspause zurück in seinem Büro fiel M auf, dass seine beiden Mitarbeiterinnen sich ihm gegenüber sehr höflich und ehrerbietig verhielten. Offensichtlich akzeptierten sie ihn jetzt als Autorität, als einen Politiker mit Instinkten, der sich nicht durch Gefühle beeinflussen lässt, die das Unglück aller Orten ausgelöst hatte. Gleich mit seinem ersten Satz verblüffte er seine beiden Mitarbeiterinnen: „Ich hätte den Angehörigen der Piloten nicht den Rat gegeben, mit den Angehörigen der anderen Opfer ins Unfallgebiet zu fliegen.“

Die Informationslage 27 Stunden nach dem Absturz war immer noch einigermaßen unübersichtlich. Die Ursachen und der genaue Ablauf blieben im Verborgenen. 72 Bundesdeutsche waren an Bord, das wusste man nun. Der Stimmenrekorder wird noch ausgewertet. Auch Deutsche Spezialisten beteiligen sich daran. Das Zentrum im Alpengebiet, in dem die Hilfsmannschaften ihre Basis haben, in dem die Heerscharen der Journalisten einfallen, in dem die Seelsorger und Psychologen campieren, die den Angehörigen helfen sollen, in dem die Turnhalle hergerichtet wird, um die Särge für die Opfer aufzustellen, in dem offizielle Sprecher und Politiker ihr Fenster zur Welt finden, ist nun das Dorf Seyne-les-Alpes mit gerade einmal 1.400 Einwohnern. Die Bundeskanzlerin, der französische Präsident und der spanische Regierungschef zeigen auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, wie betroffen sie sind, wie nahe ihnen diese Katastrophe geht, wie sehr sie an einer schnellen Aufklärung interessiert sind, und dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun wollen, um den Hinterbliebenen der Opfer zu helfen.

Die Kanzlerin nannte das Unglück „das Unfassbare“ und gab ihrer Einschätzung Ausdruck, es werde angesichts der schwierigen Lage der Absturzstelle sicher einige Zeit in Anspruch nehmen, die Unglücksursachen zu klären.

Madame ergänzte die allgemeinen Informationen noch um einen Hinweis auf ein Statement des Bundesinnenministers. Der habe gesagt, es gebe keine „belastbaren Hinweise dafür, dass Dritte den Absturz absichtlich herbeigeführt hätten“.

Die beiden Frauen erschraken innerlich, als M beiläufig kommentierte: „Doch, meine Flugkurve.“

Madame sah etwas ratlos aus, als sie ihre Übersicht der Informationslage mit der Aussage abschloss: „Wir müssen offensichtlich abwarten. Die Experten finden keine heiße Spur.“

Schatz beobachtet ihren Chef. Es läuft ihr kalt über den Rücken, als sie wahrzunehmen glaubt, wie sich ein angedeutetes Lächeln um seine Lippen legt, als Madame ihre ergebnislose Bilanz vorträgt.

„Ich sehe das ein wenig anders“, entgegnet M. „Wir sollten uns ab jetzt auf den französischen Staatsanwalt in Marseille konzentrieren. Der ermittelt offensichtlich anders, als die Medien das tun. Der Staatsanwalt Brice Robin hat festgestellt, die Flugüberwachung habe kurz vor dem Absturz vergeblich versucht, den Kontakt zur Unglücksmaschine zu halten. Das finde ich bemerkenswert. Diese Feststellung erklärt voll und ganz meine Fluglinie. Beobachten Sie diese Quelle so sorgfältig wie möglich. Ich gehe davon aus, dass hier vorsätzlich gehandelt wurde.“

Schatz kann dem nicht folgen. In ihr sind die Bilder mit den herumliegenden Wrackteilen in der unwirtlichen Berglandschaft. Sie sieht vor sich die fassungslosen Menschen, wie sie in dem kleinen Steindorf zusammenkommen. Sie stellt sich vor, dass die Särge für die Angehörigen nicht geöffnet bleiben können, weil keiner den Anblick der Reste der umgekommenen Menschen ertragen kann. Sie möchte an etwas Unabwendbares glauben, ein fatales technisches Versagen, vielleicht sogar an einen Schlaganfall im Cockpit. Aber Absicht? So perfide kann doch kein Mensch sein.

Auch Madame bleibt skeptisch. Sie bewundert zwar, wie früh und konsequent sich M auf eine Hypothese eingeschossen hat und findet, diese beansprucht durchaus Beachtung. Aber sie sagt sich, dass zu vieles gegen sie sprechen müsse. Andernfalls würde es nicht die Statements von höchster Regierungsebene und die Spekulationen vieler Experten geben, die ebenfalls über die Fakten verfügten, aus denen M seine Schlüsse zieht. „OK“, sagt sie, „wir werden die französischen Staatsanwälte besonders im Auge behalten. Aber es ist sicher ebenso wichtig, dass wir alle Einschätzungen und Möglichkeiten genauso vorurteilslos registrieren, die gegen die These sprechen, der Absturz sei absichtlich herbeigeführt worden.“

Schatz ging es sehr schlecht. Sie fühlte sich völlig ermattet. Sie bat M, das Büro vorzeitig verlassen zu dürfen. M gab ihrer Bitte ohne Zögern nach und wünschte ihr schnelle Genesung. Madame zog sich an ihren Computer zurück und M verließ das Büro, um wieder in den Plenarsaal zu eilen. Dort saß er dann mit seinem Handy und der FV-Mappe auf dem Pult. In sie trug er ein: „Der Sinkflug gegen die Bergwand wurde absichtlich eingeleitet und konsequent zu Ende geführt. Das machen wahrscheinlich nicht zwei Piloten gemeinsam (Pflichtbesetzung). Es muss sich also im Cockpit eine Tragödie ereignet haben, an deren Ende nur ein Pilot handlungsfähig blieb (muss aufgeklärt werden). Die absichtliche Tat ist dann – unabhängig aus welchem Zustand entstanden – ein Attentat, dem neben dem Piloten 149 Menschen zum Opfer fielen. Ich nenne das terroristisch. Das Attentat offenbart dann in letzter Konsequenz eine neue Form des Terrorismus.“

Am Abend speist M nach langer Zeit wieder in der Parlamentarischen Gesellschaft. Die Bedienung im Kaisersaal ist ebenso vorzüglich wie das Essen und der Wein erlesen. M sitzt mit Freunden an einem Tisch. Sie kommen aus unterschiedlichen Fraktionen. Ihre Konversation kreist um Griechenland, die Ukraine und um den „unsäglichen Islamischen Staat“ in Syrien und im Irak. Sie diskutieren nicht kontrovers. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz in der Parlamentarischen Gesellschaft, bei den Gesprächen an den fein gedeckten Tischen parteipolitische Zuspitzungen zu meiden. Sind Nuancen in der Bewertung der neuen Syriza-Regierung in Griechenland und in der Analyse der Anteile Russlands und der Ukraine am neuen Ost-West-Konflikt durchaus zu erkennen, ist die Ratlosigkeit gegenüber dem islamistischen Sturm des neuen Kalifats Abu Bakr al-Baghdadi allen gemeinsam unverkennbar. Verlässlich haben sich nur die kurdischen Kämpfer der Peschmerga und der kurdischen Verteidiger von Kobane erwiesen. Aber allein mit ihnen am Boden ist der internationale Krieg gegen den IS nicht zu gewinnen. Undurchsichtig, feindlich gar, erscheint in diesem Nahostkrieg vor allem auch die Türkei mit ihrem offiziellen Hass auf die Kurden, wo immer sie leben.

Nach dem Essen stiegen die Freunde noch in Ossis Bar in den Keller des prachtvollen Gebäudes. Dort war es voll, und sie fanden gerade noch einen freien Stehtisch, auf dem sie ihre gut gezapften Gläser Bier drapierten. Trotz der Fülle war es in diesem Bierkeller nicht laut. Auch hier, wo die Etikette der kleinen Parlamentsrepublik am lockersten ist, bleiben die Parlamentarier halb politisch, halb privat, ungeachtet der unterschiedlichen Mengen des Biers und des Weins, die sie konsumieren, ein ruhiges Völkchen, das lieber flüstert, als mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Auch unter Freunden ist es hier üblich, das Gesicht zu wahren, ständig und ernsthaft über die vielen Probleme dieser Welt zu räsonieren.

Schließlich kam die Runde am Stehtisch auch auf das Thema des Flugzeugabsturzes zu sprechen. M gab mit keiner Bemerkung zu erkennen, in welcher Mission er mit diesem Thema auf besondere Weise verbunden ist. Die anderen suchten eher nach Ursachen im technischen Bereich. Das Pannenregister der Airbus-Maschinen hatte immerhin schon einen erschreckenden Umfang. Den Sinkflug interpretierte man eher als einen letzten Versuch eines sehr erfahrenen Piloten, die Maschine irgendwie noch zu einer Landung zu bringen, was aber in dem wilden zerklüfteten Bergmassiv leider aussichtslos gewesen sei. M war der Einzige, der zögerlich zu bedenken gab, dass auch der Faktor Mensch eine Rolle gespielt haben könne. Vorsichtig umschrieb er seine Vermutungen mit „menschlichem Versagen“, um keine Nachfragen zu provozieren, denen er sich an diesem Ort vor diesen Freunden nicht stellen wollte. Kopfschütteln und betroffenes Schweigen beendeten dann auch bald die Diskussion.

M hatte die persönliche Mailadresse seines Fraktionsvorsitzenden. Sie sollte er nutzen, wenn es geboten erschien, die offizielle Anlaufstelle im Bundestag zu umgehen. Insgesamt galt für M die Arbeitsvorgabe, das Internet sehr zurückhaltend einzusetzen, wenn es um politisch brisante Dinge ging. Auf dem Weg von der Parlamentarischen Gesellschaft in seine Wohnung überlegte M, ob er seinem Fraktionsvorsitzenden einen Hinweis über seine Vermutung zukommen lassen sollte. Er war sich darüber im Klaren, dass wahrscheinlich der BND, die NSA oder beide den Mailverkehr registrieren und auswerten würden. Er hatte also abzuwägen, ob er dieses Risiko eingehen müsste. Er kam zu dem Ergebnis, aus aktuellen Gründen seinen Fraktionsvorsitzenden schließlich doch informieren zu müssen. Seine Entscheidung stützte auch die Spekulation, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis auch andere Informationskanäle ihre Argumentation auf der Grundlage seiner Erkenntnisse aufbauen würden.

Unter den Toten ist auch der Co-Pilot. Er kommt aus Montabaur. Dort war er bereits als Jugendlicher aktiv im Verein der Segelflieger. Seine Freunde bestätigen, was für ein fantastischer Flieger und Kamerad er gewesen sei. Sie waren es auch, die gleich nach dem Absturz eine Traueranzeige in die örtliche Zeitung setzten: „Er konnte sich seinen Traum erfüllen, den Traum, den er jetzt so teuer mit seinem Leben bezahlte.“ Der Stadtrat von Montabaur tagt am Mittwochnachmittag. Die Bürgermeisterin eröffnet die Sitzung mit einer Schweigeminute zum Gedenken an den angesehenen Sohn ihrer Stadt.

Am Mittwochabend um 23.15 Uhr mailt M an seinen Fraktionsvorsitzenden: „Ich bin ziemlich sicher, dass einer der beiden Piloten die Maschine absichtlich gegen die Bergwand geflogen hat. Aus welchen Gründen auch immer das geschehen ist, bleibt die Tatsache zu bewerten, dass wir es mit einem Attentat zu tun haben, das in der Kategorie Terrorismus zu verorten ist.“ Danach rief er seine Wahrsagerin an und verabredete mit ihr einen Termin für den nächsten Tag, Donnerstag, den 26. März, um 18.00 Uhr.

Das wird mein Tag. So stieg M in den Donnerstag ein. Ungeheuerliche Informationen über den Flugzeugabsturz strömten bereits am Morgen in die Öffentlichkeit und ließen die Menschen vor Fassungslosigkeit erstarren. Nicht aber M, der in ihnen die Mosaiksteine fand, mit dem er sein Puzzle vervollständigte, das ihm von Anfang an vorgeschwebt hatte. Er wurde sich zunehmend sicher, als Politiker eine Rolle spielen zu können, weil er Karten in der Hand hielt, mit denen er in die Abgründe von Menschen sehen konnte. Er genoss es, wie die Informationen das Abgründige in Fakten gossen, ohne deuten zu können, was sie da an Wahrnehmungswirkungen auslösten.

Der erste Donnerschlag lautete: Der Co-Pilot des Fluges mit der Flugnummer 4U9525 hat den ersten, den Hauptpiloten, gekonnt aus dem Cockpit ausgeschlossen. Wie konnte das passieren? Der erste Pilot musste vielleicht auf die Toilette. Oder er hatte die Kabine aus anderen Gründen kurzfristig verlassen. Der Flug lief ja regelmäßig. Da kommt es häufig vor, dass man das Kommando seinem Co-Piloten überlässt. Die Tür zum Cockpit ist elektronisch gesichert. Ein Knopf im Inneren des Cockpits kann sie offenhalten oder aber auch absperren, sodass sie von außen nicht geöffnet werden kann. Dieser Mechanismus macht Sinn, um die Fliegerkabine vor dem Eindringen von Terroristen zu schützen. Von außen kann man über eine Gegensprechanlage Kontakt zum Piloten in der Kabine aufnehmen. Man kann auch einen Türcode über Tasten eingeben. Dann muss der Pilot auf „Unlock“ stellen und die Tür öffnet sich kurz. Sie kann aber auch von innen verriegelt bleiben. Dann dauert es eine halbe Stunde, bis sich die Tür nach Eingabe eines nur den Piloten bekannten Codes automatisch öffnet. Vor dieser Tür begann die Katastrophe. Der Stimmenrekorder verzeichnet einen Wortwechsel des um Einlass bittenden Piloten mit seinem Co-Piloten. Die Tür bleibt verschlossen, der Sinkflug wird eingeleitet. Ab nun gibt es keine Äußerung des Co-Piloten auf dem Rekorder mehr. Die Tür bleibt verschlossen.

Die Flugsicherung beobachtet zu diesem Zeitpunkt bereits besorgt das Verhalten der Flugmaschine. Sie ahnt, dass es Probleme für den Piloten gibt, die Tür zum Cockpit zu öffnen, und sie hört trotz mehrmaliger Aufforderungen nichts vom Co-Piloten, obgleich die Übertragungstechnik funktioniert. Man hört in den letzten Minuten auf dem Stimmenrekorder wild aufgeregte Geräusche von außen und ansonsten nur das Atmen des Co-Piloten. Für die französische Flugsicherung bedeutet dieser Tatbestand Notfallalarm. Sie veranlasst deshalb, was in so einer Situation zu geschehen hat. Ein Kampfjet der französischen Luftwaffe wird gestartet, um dem Airbus entgegenzufliegen. Zu spät. Der Jet wird die Maschine nicht mehr erreichen. Im Airbus saßen auch 16 Schüler und zwei Lehrerinnen des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern am See. Sie waren auf einem Austauschbesuch in Spanien gewesen.

Ab jetzt wird von einer „absichtlichen Tat“ gesprochen. Der französische Staatsanwalt gibt diese Sprachregelung aus und vermeidet es, in diesem Zusammenhang von einem „Suizid“ zu sprechen. M vermerkt diese sprachliche Unterscheidung in seiner Mappe mit einem Ausrufungszeichen. Schnell wird der Name des Co-Piloten bekannt. Es handelt sich um Andreas Lubitz. Ihm gelten jetzt alle Recherchen, und auch für M ist er die Person, die sein größtes Interesse findet. Die ersten Infos über Andreas L. – wie er zunächst in den Medien präsentiert wird – sind wenig aufschlussreich. Er ist 27 Jahre alt und stammt aus der rheinland-pfälzischen Kleinstadt Montabaur. Er wohnt dort bei seinen Eltern, hat aber auch noch eine Wohnung in Düsseldorf. 2008 begann er seine Pilotenausbildung in Bremen, die er allerdings ein paar Monate lang unterbrechen musste. Zunächst als Flugbegleiter tätig, wurde er 2013 Pilot bei Germanwings, einer Lufthansa-Tochter. Bis zum Absturz hatte er 630 Flugstunden absolviert und galt laut Lufthansa als hundertprozentig flugtauglich, „ohne Einschränkungen und Auflagen“.

Bald kommen weitere Informationen. Die Düsseldorfer Wohnung von Lubitz war durchsucht worden. Unterlagen deuten darauf hin, dass der Co-Pilot erhebliche psychische Probleme gehabt haben musste. Auch da macht sich M eine Anmerkung in seine Quelle, kaum dass die ersten Andeutungen über eine solche Krankheit gemacht werden: „Der Attentäter soll in der Vergangenheit und vielleicht auch in der Gegenwart in psychiatrischer Behandlung gewesen sein. Jetzt wird die große Entlastung konstruiert. Psychisch krank – na dann gibt es ja kein Verschulden dieser absichtlichen, terroristischen Tat. Das Schicksal hat zugeschlagen. Dagegen ist keiner gefeit. Jetzt darf man sich entsetzen, ohne über weitere Dimensionen dieser Tat nachdenken zu müssen. Politisch: Mit dem Verkriechen in die Innensicht darf man sich nicht zufriedengeben.“

Wäre M jetzt Bundeskanzler – eine politische Vorstellung, die in seiner vorigen Kladde breiten Raum eingenommen hatte – hätte er andere Worte gewählt, als die so vorsichtig und erfahren regierende Kanzlerin sie benutzte. Sie setzte offensichtlich auf die menschliche Dimension der Tat. „Unfassbar“ war ihre erste Reaktion gewesen. Jetzt setzte sie nach den Informationen über die Tat von Lubitz fort: „So etwas geht über jedes Vorstellungsvermögen hinaus.“ M empfand diese Aussage als Negierung seines politischen Vermögens, das Ereignis in seiner Gefährlichkeit zu erkennen, Die Kanzlerin lag deshalb nach seinem Verständnis falsch. Ebenso falsch empfand er das Statement des Lufthansa-Chefs als eine Beruhigungspille, weil der den bei ihm angestellten Piloten als „tragischen Einzelfall“ bezeichnet hatte. In solchen Aussagen vermutete M die Strategie, Wut in Ohnmacht umzulenken. Er war hingegen überzeugt, dass zur Freiheit die Möglichkeit gehört, Böses zu tun. Er würde sich immer für Freiheit einsetzen, aber er war in die Politik gegangen, um die Zumutungen zu zähmen, die durch das Böse in immer neuen Formen in die Welt getragen werden. Das Wissen, dass ein Pilot in voller Absicht ein Flugzeug gegen eine Bergwand rasen lässt, ist jetzt in der Welt. Es ist Ms Aufgabe wie auch Aufgabe aller Politiker, wie mit diesem Wissen umzugehen ist.

Während seines kurzen Aufenthaltes im Büro tat ihm die Begrüßung durch Madame sehr gut. Sie machte ihm Komplimente, dass nun die Ermittlungen ganz in dem Sinne laufen, dass sie nun seine anfänglichen Vermutungen bestätigen würden. „Sie haben wirklich bemerkenswerte Instinkte und einen schnellen Verstand“, meinte sie. Im Büro arbeitete sie allein, da Schatz noch nicht wieder am Arbeitsplatz erschienen war. Madame erledigte also noch die wichtigsten Korrespondenzen, die sonst im Aufgabenbereich ihrer Kollegin lagen. So legte sie M auch eine Mail vom Fraktionsvorsitzenden vor, die er mit großer Freude und Genugtuung las: „Hervorragende Arbeit, Gratulation. Aber Vorsicht bei den Schlussfolgerungen! Weitere Informationen wie bisher nur an mich.“

Von Madame ließ er sich in Einzelheiten erklären, was es mit den technischen Sicherheitsvorkehrungen für die Tür zum Cockpit auf sich hat, auf welcher politischen und rechtlichen Grundlage sie entwickelt worden waren und welche vergleichbaren Unfälle es in der Luftfahrt der vergangenen Jahre schon gegeben hätte, in denen vielleicht der Verschluss der Tür Piloten zu einem absichtlichen Absturz verleitet haben könnte. Wie er vermutete, war der aktuelle Fall nicht zum ersten Mal geschehen, sondern stand in einer inzwischen beängstigend langen Reihe ähnlich gelagerter Anschläge. Interessant fand er auch eine Beschreibung des Tathergangs in der „New York Times“, die sich auf ein Protokoll aus dem Militär bezog, das offensichtlich dem amerikanischen Geheimdienst vorlag. Danach habe der Co-Pilot gleich nach dem Verlassen des Piloten damit begonnen, den Bordcomputer umzuprogrammieren, um den Sinkflug einleiten zu können. Der entscheidende Augenblick sei dann die Rückkehr des Piloten gewesen: „Der Mann draußen klopft leicht an die Tür, aber es gibt keine Antwort. Dann klopft er stärker an die Tür, und wieder keine Antwort.“ Dann gibt es Geräusche, wie der Pilot gegen die Türe tritt. Die Tür bleibt vorsätzlich verschlossen. Auf dem Stimmenrekorder muss der Kampf um die Tür eine Zeit lang die überragende akustische Botschaft gewesen sein. Danach hört man das gleichmäßige Atmen des Co-Piloten, das den Schluss zulässt, dass er physisch völlig gesund war. Schreie von innen gibt es nur ganz zum Schluss, sie „hören wir erst in den letzten Sekunden auf dem Band“, wie die Ermittler zu Protokoll geben.

Solche Informationen lassen M nicht kalt. Aber sie regen seine Fantasie anders an als die Gefühle der meisten Menschen. Er versucht sich in die Lage des Co-Piloten zu versetzen. Andreas Lubitz muss in extrem kurzer Zeit eine Vielzahl von Entscheidungen mit klarem Kopf treffen und logisch aufbauende Handlungen vollziehen. Alles muss sitzen, kleinste Fehler wären für ihn verhängnisvoll. Ab dem Augenblick, in dem der Pilot die Kabine verlässt, ist er der Herr über Flug und Flugzeug. Auf diesen Augenblick hat er gewartet, und er ist in jeder Beziehung für ihn günstig. Die Manipulation des Bordcomputers und die Verriegelung der Tür machen ihn vollständig autark, keiner kann mehr von außen auf das Fluggeschehen einwirken.

Vor sich sieht er in weiter Ferne die aufsteigenden Berge der Alpen mit den schneebedeckten Spitzen in einem klaren, nur kaum bewölkten Himmel. Um die Maschine gegen ihre Wände zu setzen, muss er einen Sinkflug berechnen, der ihn von gut 30.000 Fuß in acht Minuten ans Ziel bringt. Als erfahrener Pilot fallen ihm solche Parameterberechnungen nicht schwer. Er gibt die Zielwerte für den Autopiloten ein. Er ist sicher, dass seine Eingaben vollständig korrekt sind. Die Belästigungen hinter der Tür stören ihn nicht, auch nicht die ständigen Anrufe und Aufrufe aus der Flugsicherungszentrale. Er hatte sie erwartet und beschlossen, sie einfach vollständig zu ignorieren. Er stellt fest, dass die Maschine mit exakter Gleichmäßigkeit den Sinkflug beginnt. Auf diesen Airbus hat er noch nie etwas kommen lassen, er ist für ihn das perfekte Flugzeug.

Die Berge kommen immer näher. Zwischendurch schließt er für wenige Sekunden die Augen. Er malt sich aus, wie in einem kaum messbaren Augenblick alles aus ist, für ihn wie für alle, die in der Maschine in seiner Hand sind. Er ist jetzt der mächtigste Pilot, mächtiger als alle, denen er diese Macht verdankt. Macht gibt es nie auf Ewigkeit, sagt er sich. Je vollkommener sie ist, desto kürzer dauert sie, sie ist die letzte Abstraktion seines Lebens. Er hat den Gipfel der Macht erreicht. Das Panorama vor ihm wird nun immer großartiger. Die Alpen gehen von den großen Gliederungen immer zerklüfteter in kleinteilige Berg-Tal-Schluchten-Massive über. Andreas Lubitz lehnt sich zurück. Die Maschine ist ruhig, nur die Steinriesen fetzen vor seinen Augen vorüber. Vor ihm türmt sich die steinerne Wand, rast ihm entgegen. Er geht noch einmal voll in die Beschleunigung, schließt die Augen. Aus, vorbei. In einem Blitz ist alles erloschen, zerschellt.

Schon mehrere Male hat M diesen Film in seinem Kopf abgespielt. Da gibt es keinen Zufall, der an irgendeiner Stelle des Ablaufs den Gang der Dinge bestimmt. Alles ist präzise vorbereitet. Andreas Lubitz arbeitet wie ein Roboter. Er hat seine Macht mit äußerster Konsequenz gesucht und vollständig genutzt. Die Zusammenhänge sind weiter gespannt, als es die Konzentration auf die arme Psyche eines Mannes erkennen lässt. M hatte sich angewöhnt, Macht als eine Notwendigkeit zu verstehen, Mögliches zu tun. Er konnte nur wenige Texte aus dem Bestand der abendländischen Kultur auswendig. Aber ein paar Zeilen von Johann Wolfgang Goethe begleiteten ihn sein Leben lang, die „Urworte. Orphisch“:

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

Bist alsobald und fort und fort gediehen

Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

So sagten schon Sibyllen, so Propheten;

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

M ist überrascht, als er am Abend die Wohnung seiner Wahrsagerin betrat. Ihm kam eine Frau entgegen, die ganz anders aussah, als er sie kannte. Sie trug einen langen lilafarbigen Rock mit großen Mäandermustern in dunkelblauer Farbe, darüber eine weite Bluse mit einem tiefen Dekolleté über ihrem großen und schweren Busen. Die Bluse war aus grüner Seide, bedruckt mit prallen Blumen in rot-violetten Farbtönen, üppig prachtvoll wie die Blüten von Pfingstrosen. Die Haare waren pechschwarz gefärbt und hinten zusammengebunden. Knallrot waren die Lippen geschminkt, weit über die Linien hinaus, die sie mit der Haut des Gesichts verbinden. Schwer geschwärzt waren die Augenbrauen und die Augenlider. Sie lächelte ihn an, als er die Wohnung betrat, und ihre weißen Zähne glänzten. Ihr Auftreten und ihre Aufmachung beeindruckten M, und er war in seiner Begrüßung auffallend unsicher.

Sie führte ihn in ihr Zimmer, das sauber und aufgeräumt war. Statt der Kugel stand eine Vase mit Narzissen auf dem Tisch. Er sah keine Karten, nur ein dickes Buch der Astrologie mit zahlreichen eingelegten Zetteln. Sie erkundigte sich nach seinem Befinden und freute sich über die starke optimistische Haltung, die aus seiner Stimme klang, als er ihr über seine erheblichen beruflichen Erfolge im Parlament erzählte. „Es sind noch nicht viele Tage vergangen, seit ich am Tag der Sonnenfinsternis bei Ihnen war. Da hatten Sie mir einiges offenbart, was mir sehr geholfen hat. Vor allem haben Sie das Flugzeugunglück gesehen, das uns im Augenblick so sehr beschäftigt. Sie haben vom Zerschellen gesprochen. Leider habe ich das falsch gedeutet, aber jetzt weiß ich, welche großen Gaben Sie haben.“

Die Wahrsagerin hörte sich das mit ernstem Gesicht an und schwieg eine kurze Zeit. Dann beugte sie sich zu ihm hinüber, die Arme auf den Tisch gelegt. M musste jetzt noch näher in das riesige Dekolleté schauen und erschauerte ein wenig, wie fremd ihm dieser massige Körper war. Er roch ihr starkes Parfum, das ihm eher unangenehm war, und lehnte sich weit zurück auf seinem Stuhl.

„Ich kann mich an keinen Satz, an kein Wort erinnern, was ich damals zu Ihnen gesagt habe“, sagte die Wahrsagerin. „Ich war in ein kosmisches Rauschen gefallen, wie immer, wenn ich Dinge klar zu sehen glaube. Aber nichts davon zieht in mein Gedächtnis. Sie hören zu, sind Zeuge, bezahlen mich und gehen Ihre eigenen Wege. Ich verharre noch Stunden wie in einer Starre. Finde ich zurück in die Welt, ist alles wie ausgelöscht.“

„Dann haben Sie gar nicht gewusst, dass vorgestern das Flugzeug in den Alpen zerschellen wird?“

„Ich wusste vorher nicht mehr als Sie, aber ich wusste am Tag der Sonnenfinsternis, dass große Unglücke geschehen werden.“

Dann hielt sie ihm eine kleine Vorlesung, wie sie Astrologie und das Geschehen auf der Erde versteht, und wie sie in Trance die Verbindungszeichen zwischen den kosmischen Konstellationen, großen Ereignissen auf der Erde und den Verknotungen im kleinen Geschehen bis zum Verhalten des einzelnen Menschen erfährt. Das in der Sonnenfinsternis entstandene Uranus-Pluto-Quadrat sei ein sicheres Zeichen gewesen, dass in der Folgezeit einige gewalttätige Erschütterungen die Menschen heimsuchen würden. „Aber“, so fuhr sie fort, „Sie dürfen das nicht zu eng nur für Ihr Gesichtsfeld gelten lassen. In den letzten Tagen ist Vieles geschehen, das in seiner Häufung und der weltweiten Verteilung darauf hindeutet, wie fürchterlich die Sonnenfinsternis gewirkt hat. Die Sonnenfinsternis ist ein Ereignis, das die Notwendigkeit von Verhängnissen aussäht. Dazu gehört der Flugzeugabsturz, über den sie sagen, der Absturz sei eine Folge eines terroristischen Attentats. Dazu gehören aber noch viele andere Unglücke, die wir in dergleichen Zeit zu registrieren haben.“

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