Kitabı oku: «Sonnenfinsternis», sayfa 6

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M hörte ihr gebannt zu und konnte kaum glauben, wie gebildet, Wort gewandt und klar diese Frau zu analysieren verstand, die er bisher nur über Kugel und Karten gebeugt und Dämpfe inhalierend erlebt hatte. Sie durcheilt mit wenigen Sätzen die Krisenherde der Welt, aus denen stets nur tropfenweise und grob ein paar Informationen in die politischen Raster aktueller Wahrnehmungen geträufelt werden. Sie bewege sich, so sagt sie, ausschließlich auf der Eklipse jener Zeit der Sonnenfinsternis, die in jedem guten Astrologie-Buch präzise beschrieben sei, und verweist mit der rechten Hand auf das Buch vor ihr. Nun zählt sie auf: Eine Woche, bevor sich der Mond zwischen Sonne und Erde drängt, stürmt eine islamistische Terrororganisation vor dem Parlament in Tunis ein Museum. Bis zu diesem Zeitpunkt war in Tunesien von einer Terrororganisation nichts bekannt. Nun war sie blitzschnell und wie aus heiterem Himmel zur Stelle, um die Haut des Parlaments verletzen zu können. Der Krieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran im Jemen schien schon stillzustehen, ausgestanden. Nun bricht er wieder aus, mit zahlreichen Toten. Ob Boko Haram in Nigeria, Dschihadisten, die IS-Krieger in Syrien und im Irak, die sterbenden Flüchtlinge aus Myanmar oder die rasante Häufung ertrinkender Flüchtlinge im Mittelmeer – „man schaut nicht mehr hin, will nicht wissen, woher so viel Unordnung in der Welt kommt. Lieber wirft man sie alle in einen Topf. Sollen sie sich doch die Köpfe einschlagen, Hauptsache sie tun das nicht bei uns“.

Fast pathetisch und staatsmännisch klingt es, als sie hinzufügt: „Ich erinnere daran, Saturn durchläuft noch bis Ende 2017 das Schütze-Zeichen und prüft dort Religion und Weltanschauung. Armut und Perspektivlosigkeit zu vieler Menschen sind ein fataler Nährboden für die immer heftigeren Kriege im Zeichen von Glauben und Visionen. Wir müssen tiefer in die Hintergründe einsteigen, um zu verstehen. Die Vereinigungen, zu denen auch Sie gehören, die da einfache Antworten anbieten, klingen verlockend, können aber nicht halten, was sie versprechen.“

M muss zur Kenntnis nehmen, dass seine Wahrsagerin sich bestens in den internationalen Entwicklungen auskennt. In Israel schütze Netanjahu die Siedler und weigere sich, einen eigenständigen palästinensischen Staat anzuerkennen. Netanjahu spreche vor dem amerikanischen Repräsentantenhaus, um die inneramerikanischen Querelen zu schüren, mit dem Iran ein Abkommen über das Atomprogramm zu finden. Da sei doch die Tatsache interessant, so die Wahrsagerin, dass am entsprechenden Verhandlungstisch in Lausanne zwei Nationen ihre Teilnahme verweigern: Saudi-Arabien und Israel. Sie könne noch viele Beispiele erwähnen, was den Zeitungen nicht einmal eine Meldung wert sei: Im Schwarzen Meer, das doch ein internationales Gewässer sei, umkreisen sich in Manövern amerikanische und russische Kriegsschiffe wie knurrende Hunde. In Schweden und in den baltischen Ländern wird die Angst vor russischen Bomberflugzeugen immer größer. „Nun stellen Sie sich vor, ein Pilot macht da so etwas wie Ihr Co-Pilot in den Alpen.“ Sie zählt noch mehr auf, um dann ihre Rede mit einem Verweis auf das vor ihr liegende Astrologie-Buch abzuschließen: „Die Wirkung der Sonnenfinsternis erstreckt sich nicht nur auf den unmittelbaren Zeitraum, in dem sie sichtbar ist. Im Falle der Sonnenfinsternis vom 20. März muss man sicher von einem Zeitraum von mindestens drei bis vier Monaten vor und nach ihrem Ereignis ausgehen.“

M sah sich ermutigt, sie nun zu unterbrechen. „Woher haben Sie diese weite Informationsübersicht? Was sind Sie für eine gebildete Frau!“

Sie lächelte nicht einmal, als sie das Kompliment selbstbewusst entgegennahm. Sie wendete das Gespräch und sagte ihm offen in die Augen: „Sie sind heute zu mir gekommen, um etwas über das Horoskop vom 24. März zu erfahren. Darauf habe ich mich vorbereitet, und Sie sollen meine Ergebnisse kennen.“ Sie schlug ihr Buch auf und legte sich einige Zettel zurecht. M saß ihr aufmerksam gegenüber und sagte keinen Ton. Dann erfuhr er von ihr, dass die Sonne in Konjunktion zum Uranus gestanden habe, woraus unschwer die Liebe von Lubitz zum Fliegen abzuleiten sei. Saturn in Konjunktion zum Schützen erzählt, wie hart er an seiner Liebe zum Fliegen gearbeitet hatte. Ihr sei aufgefallen, dass Mond und Mars im Skorpion stehen und Pluto daneben bleibt. Das heißt, Pluto steigt ab in den Seelenkeller. „Diese Deutung geht zurück bis auf meine Urmütter, die im Orakel des Poseidon vor den Toren der Unterwelt auf der Mani dienten.“ M erschrak, als er von der Frau vor ihm von dem Orakel auf der Mani hörte, eine Landschaft, die er bald besuchen wird. Nur mühsam konnte er eine weitere Frage unterdrücken.

Die Wahrsagerin verwies gegenüber M auf ihre ausgeprägten Kenntnisse in der Psychologie. Ihre Stärke in der analytischen Astrologie liege darin, die Grundkonstellationen des planetarischen Geschehens mit den Entwicklungen der individuellen Psyche von Menschen verbinden zu können. Die nackten Daten der Sterne am 24. März bringen Tempo in die Schwingungen der Psyche. Es sei doch offensichtlich, dass Menschen wie Lubitz in psychische Zustände wie Burnout, Depressionen, Verlustängste getrieben würden. Je enger sich die Schlinge um sie ziehe, desto kraftvoller und explosionsartiger suchen sie dann nach einer Erlösung, koste es auch die fürchterlichsten Verluste. Von außen gesehen mache man es sich mit der Feststellung zu einfach, solche Menschen rächten sich an ihrem Leben. Lubitz hätte gewusst, dass seine innere Krankheit es bald unmöglich machen würde, ihn noch fliegen zu lassen. Die als Depression erlebte Verletzung schlägt um in äußerste Aggressivität, mit der allen sichtbar gemacht werden soll, wie verachtenswert das Leben geworden ist, wenn es vollständig unter die Regeln der Anpassung gedrückt wird. Nicht er fühle sich krank, alle seien krank, die Grund seiner Angst seien, denen er nicht entfliehen könne. Der süße Tod sei ein inszeniertes Fanal, dessen Herr er sei, mit dem er sich und alle Erreichbaren in seine letzte und in seine größte Tat der Erlösung hineinreißt.

Die Wahrsagerin unterbrach sich und fuhr dann undeutlicher artikulierend mit monotoner Stimme fort: „Die Luft habe ich angehalten, als ich das Horoskop von Andreas Lubitz vom 24. März in Verbindung zu den Daten der Sonnenfinsternis am 20. März gebracht habe. Da ist es mir im Magen flau geworden, als ich die Transite genauer untersuchte. Die vom 24. März lassen eigentlich keine extremen Auswirkungen erkennen. Die Sonnenfinsternis bildet aber ein Quadrat von Sonne auf Schütze mit dem Stellatium aus Merkur, Saturn und Uranus. Noch weiter: Die Finsternis berührt seine Mondknotenachse auf Fische. Da bekommt man eine Gänsehaut, wenn man die Transite sieht. Jupiter steht an dem Unglückstag gerade genau auf seiner Lilith.“

Nun musste M die Wahrsagerin doch unterbrechen. Er hatte zwar eine ungefähre Ahnung, was Lilith für die Astrologie bedeutet, wollte es aber in diesem konkreten Fall genauer wissen. Die Wahrsagerin löste sich aus ihrer inneren Versenkung, richtete sich auf und erklärte es ihm wie eine Lehrerin: „Zunächst einmal ist der Hinweis wichtig, dass Lilith kein eigenständiges Gestirn im Horoskop ist. Er ist gewissermaßen ein mathematischer Punkt der kosmischen Kraftkonzentration, die sich rechnerisch aus der Erdbahn und der Mondbahn ergibt, wenn man die Daten für den jeweiligen Menschen eingibt.“ Es gehe um das Prinzip Lilith, diese missratene Urform des Weiblichen in der Schöpfung Gottes, ein Klumpen Lehm, den die Spucke des Teufels traf. Der Lilith-Punkt, so die Wahrsagerin weiter, gibt Auskunft über Leidenschaften sowohl als intensive Annahme wie auch als intensive Ablehnung. Lilith bedeute: „So sehe ich das und Punkt, Schluss.“ Je stärker Lilith in das individuelle Leben hineinwirke, desto faszinierender erscheine die entschiedene Stärke, die ein Mensch in einem Augenblick erlangen könne. Die Einwirkungen einer Lilith-Konstellation könnten so stark sein, dass ein Mensch vollständig aus der Kontrolle seiner Vernunft unter den Druck gerate, etwas Endliches endgültig zum Ende zu bringen. „Mit Jupiter direkt über Lilith ist diese seltene und vollständige Einwirkung bei ihm offensichtlich erreicht worden.“ Da saß die Wahrsagerin majestätisch vor ihrem Tisch, hatte bravourös die Kurve der Astrologie zur Psychologie geschlagen und war sichtbar mit sich zufrieden. M fröstelte. Er ahnte, die Wahrsagerin zielte mit ihrer Lilith-Deutung, unter Jupiter zu liegen, auf ihn.

Sie legte das große Buch beiseite. M war sich nicht sicher, ob er alles verstanden hatte. Aber die vorgetragenen Informationen wertete er als eine Beschreibung seines Bildes von dem Piloten. Er war mit sich zufrieden. Vor allem beeindruckte ihn seine Methode, Quellen für das Verstehen der Tat zu erschließen und in den Vordergrund zu rücken, die vollständig außerhalb des Denkens in Routinen liegen, in denen Politiker Zusammenhänge zu setzen pflegen. Er musste sich nur noch fragen, was die Darlegungen seiner Wahrsagerin mit seiner augenblicklichen Arbeit zu tun hatten. Diese Frage, verbunden mit der hohen Anerkennung für ihre Arbeit, reichte er an sie weiter.

„Die Schlüsse werden Sie selbst ziehen müssen. Sie werden vor allem überlegen müssen, wie Sie Ihr Dossier aufbauen, damit auch die Menschen damit etwas anfangen können, die von Lilith oder von den Konjunktionen der Sterne keine Ahnung haben.“ Die Wahrsagerin war an M geschäftlich interessiert und überschritt deshalb eine innere Grenze, indem sie sich zu weit mit ihrer Interpretation hinauswagte. Sie rechtfertigte das in der Meinung, ein paar ganz praktische Schlüsse müsse sie M für das Geld schon anbieten: „In den nächsten Tagen werden wir viele Informationen über Ärztebesuche und Krankengeschichten von Andreas Lubitz erhalten. Wir werden einen dicken Streit darüber erleben, ob er flugtauglich oder fluguntauglich war.“

„Er war wohl vollständig fluguntauglich“, warf M ein.

„Nein“, antwortete sie, „er war bis zur letzten Sekunde vollständig flugtauglich, aber er hätte ab dem 20. März nicht mehr fliegen sollen.“

„Und warum ist er noch am 24. März ins Flugzeug gestiegen?“

„Weil ihn keiner beobachtet und erkannt hatte. Er wollte die Sache zu Ende bringen.“

„Die Sache?“

„Mit seiner Flugtauglichkeit diejenigen vorzuführen, die es zugelassen hatten, dass er mit seiner Verletzung nur noch in einen Abgrund schauen konnte.“

Im Zimmer brannte nur die Birne in einer kalten Deckenlampe. Es brannte keine Kerze und das Gesicht der Wahrsagerin war kühl. Die harten Linien durch die Schminke und der bewegungslose schwere Körper der Frau in den bunten Kleidern ließen am Ende das Gespräch erstarren. M stand auf, zahlte das Honorar und verließ seine Wahrsagerin mit dem Bekenntnis, sie sei der einzige Mensch, der ihm für seine Arbeit den Boden unter den Füßen bereiten würde. Er sei ihr für ihre Arbeit außerordentlich dankbar.

Am Abend war er in seiner Wohnung, hatte sich Rotwein ins Glas eingeschenkt und die diversen Informationssendungen und Talks im Fernsehen verfolgt. Um 23.00 Uhr kam eine Mail seines Freundes Tony Bonin aus Bayern. Er hatte schnell geliefert. M öffnete die drei Anhänge der Mail Es waren zwei Rundbildzeichnungen, ein Ereignishoroskop und ein Persönlichkeitshoroskop von Andreas Lubitz. Beide Bilder waren voll mit Punkten und Linien, für ihn nicht zu entziffern. M konnte so gut wie nichts mit ihnen anfangen. Er hatte nie gelernt, die Horoskope zu lesen, denen er vertraute. Schier unmöglich war es für ihn, die an Informationen überbordenden Bilder seines Freundes den wesentlichen Aussagen zuzuordnen. Denn in der dritten Anlage war ein ausführlicher Text, in dem sein Auftragnehmer beschrieb und deutete, was sich aus den Horoskopen für die Vorstellungswelt des Auftraggebers ergab.

Im Anschreiben hatte sein Freund darauf verwiesen, dass die Evidenzen zwischen den beiden Horoskopen, dem Tathergang und der Persönlichkeit von Andreas Lubitz erschreckend groß seien. „Wie du weißt, unterhalte ich in meinem Institut auch ein medizinisches Forschungszentrum. Wir müssen uns also allein schon deshalb intensiv damit beschäftigen, was im Leben dieses jungen Menschen geschehen ist.“ Und dann gab es noch den Satz, den sich M sofort in seine Kladde übertrug: „Von einem normalen Suizid kann man in diesem Fall nicht sprechen.“

Von den langatmigen Exegesen der Horoskope war M ziemlich enttäuscht. Der Text kam ihm über weite Strecken schwammig und wolkig vor. Tony vermied es mit der gewählten Sprache offensichtlich, sich auf klare Aussagen festzulegen. Immerhin nahm M folgende Informationen zur Kenntnis und notierte sie sich kurz in seiner Kladde, die er neben den Computer gelegt hatte: Die dramatischen Evidenzen zwischen den Persönlichkeitsstellungen und den Ereignissen mit dem Flugzeugabsturz bestätigten auch die neuen Dokumente. Die Zusammenhänge mit der Sonnenfinsternis wurden auch in den neuen Berechnungen gesehen. Als Deutung fasste M die Lektüre zusammen, sie lasse „hinterlistige Machenschaften durch Außenseiter und Zukurzgekommene durch Sabotage“ erkennen.

M fand den Hinweis, dass Lubitz den Flug von Barcelona nach Düsseldorf eigentlich gar nicht hätte antreten dürfen, da er krankgeschrieben war. Die Krankschreibung hatte er aber in kleine Stücke zerrissen, die die Fahnder in seiner Wohnung im Papierkorb gefunden hatten. Es sei davon auszugehen, dass Lubitz in den letzten Monaten seines Lebens sehr häufig zu vielen Ärzten gelaufen sei, ständig zu anderen, um nicht mit der Diagnose leben zu müssen, krank und fluguntauglich zu sein. Seine Angst vor der Gefährdung seiner Fliegerkarriere sei größer gewesen als alle Ängste, die er sonst noch hatte und kannte. Angst und ihre Verdrängung sei also der Zustand gewesen, so dachte M, aus dem heraus der Co-Pilot gehandelt habe. Auf den tieferen Grund dieser Grundangst hatten M die horoskopischen Deutungen hingewiesen: Lubitz leide an einer progressiven Einschränkung seines Sehvermögens. Er sei augenkrank. Deshalb habe er alle ärztlichen Erkenntnisse seinem Arbeitgeber gegenüber verschwiegen. Seine Fliegerkarriere habe er als die eigentliche Bestimmung seines Lebens und somit als sein Grundrecht empfunden.

Dann fand M im Gutachten die Hinweise auf einen Artikel in der BILD-Zeitung, in der über Andreas gestörte Liebesbeziehungen mit seiner damaligen Lebensgefährtin spekuliert wurde. Mit ihr lebte er seit vier Jahren zusammen, und sie sei von ihm schwanger. Die Frau erzählte den Reportern von den übertriebenen Kontrollversuchen ihres Lebensgefährten und über seine gelegentlichen Ausbrüche, wenn er sich erregte. Ihr soll er vor nicht allzu langer Zeit gesagt haben: „Eines Tages werde ich etwas tun, was das ganze System verändern wird, und alle werden dann meinen Namen kennen und in Erinnerung behalten.“ Das Gutachten des M-Beraters datiert diese Aussage auf den späten Abend des 20. März.

Aus dem Lebenshoroskop des Andreas Lubitz mit der starken Uranus-Einwirkung interessierte M vor allem das Motiv, wie dominant für den jungen Menschen stets das Fliegen gewesen sei. Er notierte sich, was er bereits aus seinem Büro weiß, dass Lubitz schon mit 13 Jahren im örtlichen Luftsportclub Mitglied wurde und dort die Segelfliegerei lernte. Aus dem Gutachten erfuhr er zusätzlich: Schon in seiner Jugendzeit zog es den Segelflieger in die Alpen. Die Uranus Konjunktion Saturn interpretierte der Gutachter: „Er war fasziniert von den Alpen und sogar besessen von ihnen. Nicht nur das Bedürfnis zu fliegen bestimmt Lubitz, sondern auch der Drang, es im schwierigen Gelände zu tun. Wie soll er aus der akuten Falle herausfinden? Die zunehmenden Sehprobleme (Jupiter und Schütze als das Sehen) werfen ihn auf sich zurück. Mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten kommen die Zweifel an sich selbst. Die empfindet er als Zurückweisung und persönliche Verletzung. Der von ihm beschrittene Ausweg ist dann Rache, ist Anklage des Systems, von dem er sich fallen gelassen sieht.“ M war froh, in dem Gutachten keine Hinweise auf die Lage Jupiters zu Lilith zu finden. Tonys Ausführungen haben Lilith ausgespart.

Nach dem Studium des Gutachtens fasst M für sich zusammen und schreibt auf: „Es gibt zwei Perspektiven, den Absturz zu deuten. Die erste Perspektive startet mit der Frage, wie ist das alles aus einer kranken Psyche möglich? Die Antwort muss im Einzigartigen eines kranken Individuums hängen bleiben. Die damit verbundene Frage bleibt gänzlich unbeantwortet oder wird an einen starken Psychiater delegiert: Warum tötet sich dieser Mensch nicht, wie es andere in einer vergleichbaren ausweglosen Situation tun, sondern reißt 149 andere Menschen kaltschnäuzig mit in den Tod? Die Perspektive, die aus dieser Frage resultiert, ist politisch. Sie geht von den Dimensionen der Tat aus. Sie folgt dem Sachverhalt, dass ein Mensch kaltblütig die Macht ergriffen hat, mit 149 Menschen gezielt an einer Bergwand zu zerschellen. Er inszeniert den lebendigen und zu demonstrierenden Beweis, dass Systeme zerschellen können, wenn jemand überzeugt ist, aus ihrem Schoß gestoßen zu werden.“

M wusste, wie wichtig es in der Politik ist, im Wettlauf mit der Zeit aktuellen Ereignissen eine Deutung zu geben. Man muss ein Thema schnell besetzen, indem man es in eine bestimmte Sprache kleidet. Mit einer semantischen Bekleidung begründet man eine Agenda, mit der das Geschehene verbunden wird mit dem Profil einer Partei und des politisch Handelnden. Diese Methode nutzt auch M. Er hatte sie vor Jahren in einer teuren Weiterbildung eingebläut bekommen. Madame hatte er frühzeitig den Auftrag erteilt, am Wochenende einen Entwurf für den Bericht über den Flugzeugabsturz zu verfassen, höchstens vier Seiten lang. Das Arbeitsergebnis solle am Montag früh vorliegen. Er würde diesen Entwurf dann während des Tages bearbeiten. Schatz hatte er gebeten, erst am Montagmittag ins Büro zu kommen. Er brauchte sie für die Reinschrift und für die Beförderung des dann fertigen Berichts in das Büro des Fraktionsvorsitzenden.

M hatte als Schlüsselbegriff für seinen Bericht das Wort Selbstmordattentat gewählt. Das Wort sollte die Assoziationen zu den Selbstmordattentaten der Dschihadisten vom Islamischen Staat auslösen, die als Vorhut bei der Eroberung von Städten in Syrien und im Irak eingesetzt wurden, um Angst, Panik und Chaos zu erzeugen, eine Erstarrung im Unfassbaren, die es dann den Kämpfern erleichterte, den militärischen Widerstand in den zu erobernden Städten schnell zu brechen. Außer in den Kurdengebieten war diese Strategie der Selbstmordattentate mit vielen toten Zivilisten meistens sehr erfolgreich gewesen. Auch im Falle Andreas Lubitz, mit 27 Jahren in einem Alter, das als besonders geeignet für Selbstmordattentäter gilt, war M überzeugt, hinter der Tat müsse eine bislang noch nicht entschlüsselte Strategie stecken. Die Hinweise auf die psychischen Schäden des Täters reichten ihm als Erklärung nicht aus. Psychische Probleme ließen sich sicher auch bei den dschihadistischen Selbstmordattentätern diagnostizieren, würde man nach ihnen suchen. Krankheiten, so die Hypothese von M, treiben einen Menschen vielleicht in einen Selbstmord. Dazu suchen sie sich aber kein Flugzeug, um 149 weitere Menschen zu töten und die große Öffentlichkeit auf sich zu ziehen.

M war sich beim Verfassen des Berichts durchaus seiner heiklen Mission bewusst. Die Quellen aus seinem Umfeld ließen darauf schließen, dass Andreas Lubitz das Instrument einer übergeordneten Konstellation gewesen sei. Seine Quellen durfte er aber in seinem Bericht nicht nennen. Deswegen musste er argumentativ einen Umweg einschlagen. Außerdem konnte M die Macht, in deren Korrelationen der Co-Pilot zum Täter geworden war, noch nicht konkret benennen. Aber das Selbstmordattentat ließ, das wollte er andeuten, auf diese Macht schließen. Ihr ordnete er persönlich das Eigenschaftswort dämonisch zu. Auch hier musste er vorsichtig formulieren, denn er konnte ja nicht entlang der Sprache seiner Informanten argumentieren. Der Taktiker M ist gefragt. Sein Bericht muss ein taktisches Meisterstück werden, um seine politische Strategie verwirklichen zu können.

Natürlich kann M nicht berichten, dass er sich eines Astrologen und einer Wahrsagerin bedient, um die Korrelationen aufzudecken, in denen das Selbstmordattentat steht. Er muss seine Politik als parlamentarischer, seiner Fraktion verbundener Einzelgänger betreiben. Die Ergebnisse seiner einzelgängerischen Politik sollen im Machtzirkel seiner Fraktion beeindrucken. Für sich sucht er bei den Großen oben Respekt. Würde er seine Methode tatsächlich offenlegen, wäre er eine Lachnummer. Das muss M unter allen Umständen vermeiden, also bleibt er übereifrig loyal und angepasst.

M weiß das alles und ist sich der Einzigartigkeit seiner politischen Existenz bewusst. Nach außen ist er ein anderer als nach innen. Seine Chance sieht er darin, sich auf einer höheren Ebene mit denen zu treffen, die im digitalen Zeitalter analytisch wie auch praktisch zunehmend Gewicht gewinnen. Da M kein Mensch der Theorie ist, fällt es ihm leicht, in das Kleid der Begriffe zu schlüpfen, die, in anderen Zusammenhängen entstanden, seine Ahnungen und Vorstellungen ausdrücken. Gerne folgt er den Hinweisen über die Beschränkung der Kausalität, die Propheten der digitalen Revolution verbreiten. Was in der Welt geschieht und sich entwickelt, kann nicht auf das Prinzip von Ursache und Wirkung reduziert werden. In den digitalen Netzen finden unzählige Bewegungen der Anpassung und Veränderung statt, für die es keine zentralen Steuerungen gibt. Dennoch entsteht kein Chaos der unendlichen Möglichkeiten. Was Aufmerksamkeit erregt, hat den ersten Schritt auf den Wegen zur Macht geschafft. Macht und Erregung sind Geschwister der digitalen Welt geworden. Man muss nicht Analytiker sein, um das Verhalten von Menschen in den virtuellen Welten zu verstehen.

Madame hatte ihm ihren vierseitigen Entwurf mitsamt vielen Anlagen bereits wenige Tage später am Sonntagabend gemailt. Wie er erwartet hatte, bekam er eine sehr gute, detailreiche und gewissenhaft argumentierende Vorlage mit geschickt gesetzten Pointen. Madame war halt eine außerordentlich qualifizierte Mitarbeiterin. Auf ihre Talente konnte er sich verlassen. Bis weit nach Mitternacht arbeitete M an diesem Schriftstück. Er konnte sich nicht erinnern, je in seinem Leben so intensiv und konzentriert an einer Vorlage gearbeitet zu haben. Da er keinen Satz aus dem Entwurf seiner Mitarbeiterin streichen wollte – alle schienen ihm so ausgewählt und formuliert, als seien sie seinen eigenen Vorstellungen und Schlussfolgerungen entsprungen – vergrößerte sich der Textkörper durch Zusätze und Zuspitzungen, die aus seiner Feder stammten. Aus den vier Seiten wurden auf diese Weise fast acht.

Ein so langer Bericht würde den Fraktionsvorsitzenden zunächst missmutig stimmen. Missmut ist aber eine negative Energie beim Lesen. Das hatte der Chef des Öfteren bei den Fraktionssitzungen seinen Kolleginnen und Kollegen ins Stammbuch geschrieben. Um dieser negativen Energie entgegenzutreten, fühlte sich M ermutigt, dem Bericht einen Vorspann zuzufügen, der als Seite eins die wichtigsten Aussagen zusammenfasst und das Interesse auf die ausführlicheren Passagen des Berichts lenkt. Der Vorspann soll also die Aufmerksamkeit des Fraktionsvorsitzenden auf M und seinen Bericht lenken. Dieser Vorspann begann: „Andreas Lubitz, der Co-Pilot des Airbus, wusste in dem Augenblick, in dem er die Passagiermaschine mit 150 Menschen an Bord gegen die Bergwand lenkte, sehr genau, was er tat. Er wusste, dass er wegen seiner Krankheiten früher oder später seine Pilotenlizenz verlieren würde. Die Lizenz wäre im August dieses Jahres ausgelaufen. Alles spricht dafür, dass die Fliegerei für ihn das Wichtigste in seinem Leben war. Er wusste, was er in den zehn Minuten zu tun hatte, in denen er allein im Cockpit war. Die entsprechenden Flugeinstellungen hatte er bereits auf dem Hinflug ein paar Stunden vorher eingeübt. Ihm war klar, welche Betroffenheit seine Tat auslösen würde. Er hatte in diesen Minuten die Macht, durch seine Tat vollständige Fassungslosigkeit zu erzeugen. Er nutzte die Maschine und die Menschen in ihr, um ein Fanal zu setzen. Er schrieb mit der Tat eine dämonische Botschaft, die es zu entziffern gilt. Für diese dämonische Botschaft schuf er sich die Macht des Augenblicks. Er inszenierte ein Selbstmordattentat gegen das System, als dessen Opfer er sich verstand.“

Für die dann folgende Aussage wählte M eine Taktik, auf die er besonders stolz ist. Er verweist auf eine Mitarbeiterin im Rathaus des Alpendorfs Seyne-Les-Alpes, in dem die Krisenzentrale nach der Katastrophe eingerichtet worden ist. Dort gibt es eine gewisse Janique, die sich vor allem um die verstörten Kinder kümmert. Mit ihr haben Reporter gesprochen. „Sie muss den Kindern erklären“, schreibt M, „was geschehen ist. Natürlich kann sie ebenso wenig erklären wie alle anderen Menschen und sagt aus Gefühl, aus dunkler Ahnung: Vielleicht war der Co-Pilot ein Terrorist. – Liegt sie so falsch? So vorsätzlich, wie dieses Selbstmordattentat ausgeführt wurde, kann nur ein Terrorist handeln.“ M fügt noch hinzu, dass man keine Anhaltspunkte für Hintermänner habe. Das würde aber nicht die politische Brisanz des Attentats mindern. In den Vordergrund müsse die Frage rücken, wie zerstörerische Korrelationen in anfälligen technischen Systemen erkannt werden können, die Risikofaktoren darstellen. „In diesem Sinne handelt es sich um ein Ereignis, das eine erweiterte Art des prognostischen Sicherheitsdenkens in der Politik notwendig macht.“

Madame hatte in ihrer Vorlage versucht, das „Unfassbare“ mit Informationen herauszuarbeiten, die ihre Recherchen über Andreas Lubitz ergeben hatte. Das „Unfassbare“ redigierte M als Berührung durch das Dämonische. Die Informationskette von Madame ließ er unverändert stehen. Im Monat vor dem Todesflug hatte der Co-Pilot sieben Ärzte konsultiert. Besonders zu schaffen machten ihm Sehstörungen, die er auch seiner Mutter und seiner Lebensgefährtin anvertraut hatte. An zehn Tagen im Monat des Absturzes war er krankgeschrieben. Er hätte am 24. März nicht fliegen dürfen. Die Krankschreibungen fand man zerrissen in seiner Wohnung. Sein Arbeitgeber hat von den Arztbesuchen nichts erfahren. Während der Arbeit, also auch am 24. März, konnte er sich offensichtlich vollständig unauffällig verhalten. Der Pilot hätte anders reagiert, hätte er irgendwelche Ahnungen über den Zustand seines Co-Piloten gehabt. Madame hatte in diesem Zusammenhang geschrieben: „Es tun sich jetzt Blicke in dunkle Abgründe auf.“ M schrieb diesen Satz um: „Die zwei Seiten des Lebens von Andreas Lubitz sind von einem Dämon gesteuert. Uns erscheint Lubitz wie ein dunkler Abgrund. Aber er verweist auf etwas außerhalb des Willens und Handelns eines Individuums.“ Der Bericht erwähnt die angebliche Aussage von Andreas Lubitz gegenüber seiner Lebensgefährtin, die ein Kind von ihm erwartet und in einem nicht spannungsfreien Verhältnis zu ihm stand. Ihre Aussage gegenüber der BILD-Zeitung erscheint auch im Bericht: „Eines Tages werde ich etwas tun, was das ganze System verändern wird, und alle werden dann meinen Namen kennen und in Erinnerung behalten.“

Noch etwas anderes stärkt M in seiner Annahme, das Selbstmordattentat folge einem terroristischen Muster. Madame hatte bei der französischen Untersuchungsbehörde BEA recherchiert und alarmierende Ergebnisse in ihre Vorlage eingearbeitet. Der BEA waren bereits auf dem Hinflug von Düsseldorf nach Barcelona am Morgen des 24.März unverantwortliche Manöver des Co-Piloten aufgefallen, als dieser für kurze Zeit allein in der Pilotenkanzel saß und das Kommando über die Maschine hatte. Auch auf dem Hinflug hatte der Pilot das Cockpit verlassen. Das war zwischen 8:19 und 8:25 Uhr. Die Maschine flog zu hoch, und das Kontrollzentrum Bordeaux hatte Lubitz aufgefordert, die Flughöhe auf 35.000 Fuß zu senken. Lubitz geht auch in einen sanften Sinkflug, wie ihn Passagiere kaum bemerken. Im Kontrollzentrum fällt aber auch auf, dass die Daten für die Flughöhe im Cockpit manipuliert werden. Offensichtlich wird der Autopilot programmiert, um auch ein tieferes Sinken ohne Stopp auf der vorgegebenen Flughöhe zu erreichen. Die Autopiloteinstellung wird rechtzeitig korrigiert. Denn der Pilot kommt zurück ins Cockpit und übernimmt wieder das Fluggeschehen. Madame zitiert die BEA mit einem Satz über den Co-Piloten: Man könne aus den Daten schließen, „dass er handlungsfähig war und dass alle seine Handlungen den gleichen Zweck hatten, nämlich das Flugzeug auf den Boden stürzen zu lassen.“

M war mit dem Bericht pünktlich fertig geworden. Seine wissenschaftliche Mitarbeiterin hatte er schon am Montagmittag mit starken Komplimenten entlassen. Sie habe hervorragende Arbeit geleistet, und nun stünde ihr redlich ein wenig Freizeit zu. Schatz hatte bereits am frühen Nachmittag die Reinschrift fertig. M verzichtete auf ein persönliches Begleitschreiben. Den Bericht datierte er auf den 30. März 2015, 15.30 Uhr. Schatz brachte den Bericht in einem geschlossenen Briefumschlag in das Büro des Fraktionsvorsitzenden. Auf dem Umschlag stand auch: „Sehr wichtig – eilt!“

Schon eine Stunde später erhielt M auf seinem Mobiltelefon eine SMS: „Wenn möglich, morgen um 10.00 Uhr in meinem Büro.“ M war mit seiner Arbeit zufrieden. Am Abend gönnte er sich einen Besuch der Parlamentarischen Gesellschaft. Da traf er Freunde und hatte gute Laune in einer ihm wohltuenden Geselligkeit.

M war pünktlich. Die Sekretärin des Fraktionsvorsitzenden empfing ihn freundlich und fragte ihn, ob er Kaffee oder Tee bevorzuge. Sie war ganz anders, als über sie geredet wurde: kühl, distanziert, eine kaum zu überwindende Hürde im Reich ihres Herrn. M empfand sie hingegen zuvorkommend und warmherzig. Das sah er als ein gutes Zeichen, das sich verstärkte, als die Tür aufging und der Fraktionsvorsitzende mit einem breiten Lächeln auf ihn zukam und ihn mit einem kräftigen Händedruck herzlich begrüßte. M bemerkte, wie zwischen ihnen beiden ein Zustand der politischen Gleichgewichtung entstand. Diesen Zustand hatte er immer wieder herbeigesehnt, doch nie erreicht. Oft hatte er im Bett gelegen und sich vor dem Einschlafen vorgestellt, wie er als Diplomat mit den Großen seiner Zeit in vertraulichen Gesprächen auf gleicher Augenhöhe verhandelt.

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