Kitabı oku: «Wie frei wir sind, ist unsere Sache», sayfa 5

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2. Unverfügbarkeit

Die Unmöglichkeit, vor eigenem Entscheiden, Handeln und natürlich auch vor der Ausbildung des zugehörigen Wollens das Gefüge der dabei kausal relevanten Faktoren zu überschauen, passt zu einer Erscheinung, die oft vernachlässigt wird: Wir können manchmal eigenes Entscheiden und das Sich-Geltendmachen entsprechenden Wollens im unmittelbaren Nachhinein erinnern als etwas, das auch für uns selbst überraschend eintrat. So ist es Hermann Weyl ergangen: Er fuhr zum Telegraphenamt in der Absicht, ein Telegramm mit der Annahme des Rufes aufzugeben. Stattdessen telegraphierte er eine Ablehnung, und zwar nicht aus Versehen, sondern aus eigener Initiative. Er hat uns nicht überliefert, wie kurz die Zeit war, die zwischen der Ausbildung des neuen Wollens und dem Niederschreiben der entsprechenden Worte auf dem Telegrammformular vergangen ist. Es könnte sein, dass er sich noch, während er schon beim Schreiben war, für ihn selbst überraschend um-entschied, weg vom Annehmen des Rufes und hin zum Ablehnen.

Handlungsrelevante kausale Verhältnisse stellen sich im Bewusstsein nur höchst unverlässlich dar, oder gar nicht. Das gilt vor allem für die Faktoren, die zu Wollen bzw. Entscheiden nur verdeckt beitragen, d. h. sich der suchenden Aufmerksamkeit nicht offen darbieten. Weyl hat sich in unabtretbarer Wahl gegen Göttingen entschieden; unversehens fand er sich als einen, der im Modus eigener Aktivität Göttingen ablehnte und Zürich bevorzugte. Aber wie dies alles zustande kam, kann er nicht im Einzelnen sagen. Trotzdem spricht er von der Entscheidung als seiner eigenen, er war es, der eine Ablehnung telegraphierte. Auch den äußeren Faktor des Treibens auf dem See erwähnt er als etwas, das es ihm angetan haben müsse.

Gewiss konnte Weyl das Sich-Ausbilden seines Wollens bzw. Entscheidens im fraglichen Zeitraum nicht von einer höheren Warte aus überschauen und lenken. Unser Wollen formiert sich, unser Denken, Fühlen, Wahrnehmen und vieles andere trägt dazu bei, aber wir übersehen diesen Gesamtprozess nicht wie höhere, dies alles kontrollierende Ingenieure. Und vor allem steuern wir das Sich-Bilden unseres Wollens nicht wie solche Ingenieure. Wir stehen, während sich unser Wollen formiert, nicht an einem über unserem Bewusstseinsleben angebrachten Regelpult und organisieren von dort das komplexe Zusammenwirken aller relevanten Zustandsgrößen. Wir können auch in das Sich-Ausbilden unseres Wollens nicht von einem solchen höheren Standpunkt her nach Maßgabe eines ebenfalls höheren eigenen Wollens gezielt und mit Ergebnis-Sicherheit eingreifen.

Zwar können wir unser Entscheiden und Tun im Prinzip nachträglich analysieren und oft daraus wichtige Einsichten gewinnen. Für die Analyse von Vergangenem bestehen nicht die gleichen, letztlich unlösbaren Erkenntnisprobleme, die für die Voraussage künftiger eigener Handlungen aus der Perspektive des tätigen Selbst bestehen. Jedoch sind wir von einer vollständigen kausalen Analyse vergangener Wollensbildung und vergangenen Entscheidens extrem weit entfernt. Wenn wir eine Entscheidung gut vorbereitet haben, können wir oft eine schlüssige Begründung dafür liefern, und diese Begründung mag auch unsere wirklichen Gründe darstellen, soweit uns bekannt. Wir können sogar oft etwas benennen, das bei einer Entscheidung nach unserer Meinung »den Ausschlag gab«. Dies ist schon sehr viel, aber gewiss nicht alles. Auch im Nachhinein ist uns eine vollständige Übersicht über die Gesamtkonstellation kausal beteiligter Faktoren nicht zugänglich.1

Leider haben gute Gründe, die ich für eine bestimmte Entscheidung sehen mag, auch beileibe nicht die Kraft, diese Entscheidung mit gesetzmäßiger Verlässlichkeit herbeizuführen. Sonst würden wir beim Handeln immer im Einklang mit unseren vorher gefundenen Begründungen bleiben – was nicht der Fall ist. Selbst bei sehr guten Gründen für eine bestimmte Entscheidung kann es geschehen, dass wir uns plötzlich im Modus eigenen Wollens als ganz anders Entscheidende erleben. Unsere Entscheidungen sind uns nicht nur in einem strengen Sinn unvoraussagbar. Sie folgen auch nicht zwangsläufig den Überlegungen, die wir zuvor angestellt haben, sondern behalten auch mit Blick auf unsere eigenen Gründe ein Moment potentieller Überraschung. Es kommt vor, dass sich kurz vor dem Zeitpunkt des Entscheidens fast blitzartig ganz andere Gründe geltend machen als die zuvor erwogenen. Sie können unerwartet eine andere Entscheidung richtig erscheinen lassen als die früher ins Auge gefasste. Diese unerwartete Entscheidung mag auch wohl durchdachten Gründen und langfristigen eigenen Grundsätzen zuwiderlaufen – im relevanten Augenblick hat sie doch neue, besondere Gründe und damit auch ein Überzeugungsmoment für sich.

Der Übergang der ganzen Person vom Zustand der Indifferenz in einen Zustand, in dem sie entschieden auf eine bestimmte Handlung hinstrebt, dieses Tun also aktuell will, geschieht typischer Weise so, dass sie sich dabei als aktiv erlebt. Das eben jetzt spürbare Wollen hat – besonders auffällig bei plötzlichem Eintreten – die vorhin genannte Aktivitätsfärbung, zusammen mit Meinigkeit und Zentralität. Wir erleben unsere Entscheidungen als unsere, nicht als fremde Gewalt, die in unser Leben einbricht.

Wir entscheiden uns und gehen wollend zu unseren Handlungen über im Modus eigenen Aktivseins. Aber wir tun dies ohne vollständige Übersicht über die kausal relevanten Faktoren, durch die wir dahin gelangen, und vor allem ohne die Gesamtheit dieser Faktoren von höherer Ebene her selbst zu steuern. In diesem Sinn sind wir uns selbst bei unserem Entscheiden und dem aktuellen Übergang zur eigenen Handlung trotz Meinigkeit, Aktivitätsfärbung und Zentralität auf typische Weise unverfügbar. Denn wir sind zwar in der Situation unabtretbarer Wahl diejenigen, die entscheiden, wollen, handeln, aber wir verfügen dabei nicht noch einmal über uns von einem höheren Fahrersitz aus.

Die Unverfügbarkeit für direkten Zugriff ist Teil einer umfassenderen Sachlage, die immer wieder übersehen wird: Unser Verhältnis zu den Vorgängen des eigenen inneren Lebens ist radikal anders als unser Verhältnis zu Gegebenheiten der äußeren Welt. Von der Außenwelt erhalten wir vor allem Kenntnis durch Sinneswahrnehmung, und wir können in die uns umgebende Außenwelt eingreifen durch willentliches Handeln. Unsere Kenntnis von Gegebenheiten des eigenen Bewusstseins erfolgt nicht durch innere Sinneswahrnehmung. Wir haben gar kein Sinnes-Organ, mit dem wir auf unser bewusstes Leben gleichsam »blicken« könnten. Wir können auch in dieses eigene Bewusstseinsleben nicht geradewegs handelnd eingreifen, um es als Ganzes Schritt für Schritt zu formen, wie man in der Außenwelt ein Werkstück bearbeitet. Wir stehen unserem Bewusstsein in jedem Augenblick nicht gegenüber wie einem Objekt, sondern wir sind unser bewusstes Leben in unverstandener Einheit mit unserem körperlichen.

Ein Mann nimmt an einer öffentlichen Versammlung vieler Menschen teil. Er hört einen Redner etwas verkünden, das ihn empört, sein Gerechtigkeitsempfinden bitter verletzt und in ihm die Gewissheit erzeugt: Dagegen muss etwas gesagt werden. Plötzlich meldet sich unser Mann zum Wort oder erhebt plötzlich einfach seine Stimme, in diesem Augenblick nur im Ungefähren wissend, was er sagen soll. Er hat sich keinen Beitrag innerlich vorformuliert, »sieht« höchstens einige Sachpunkte »vor sich«, die er ansprechen muss. Doch ebenso unversehens und unvorbereitet, wie er das Wort ergriffen hat, spricht unser Mann seine Sätze und legt seinen Protest ein, bringt es sogar zu einer energischen, von seiner gerechten Empörung getragenen, kleinen Rede und greift damit erfolgreich in den Gang der Versammlung ein. Nichts dergleichen hat er im Voraus geplant oder vorbereitet, er ist im Nachhinein, zurückdenkend, von sich selbst überrascht. Ehe er sich’s versah, ist er im Modus eigener Aktivität aufgetreten und hat gehandelt – nicht konstruierte er seine Handlung vorausschauend wie ein Projektsteuerer in Kenntnis aller Elemente und Kräfte. Vielmehr trat die Handlung aus ihm hervor im Modus des Unversehens, als seine eigene aktive Tat und gleichwohl, was Zeitpunkt, Einzelheiten, ja auch den unmittelbar aufspringenden Entschluss zu sprechen angeht, mit einer für alles menschliche Wollen charakteristischen Unverfügbarkeit.

Auch, wo wir in einem längeren Prozess des Abwägens von Handlungsgründen zu einer Entscheidung gelangen, zum Beispiel nach einem normierten Verfahren der Entscheidungstheorie, bleibt die Unverfügbarkeit für direkten Zugriff bestehen. Denn erstens sind neben unseren eigenen Gründen in aller Regel auch andere Einflussgrößen beteiligt, die wir im fraglichen Augenblick nicht kennen, und die es möglich machen, dass unser faktisches Entscheiden auch von bestens abgewogenen Gründen abweicht. Und zweitens gehen in jeden Entscheidungsprozess übergeordnete Präferenzen ein, über die wir uns keine restlos begründende Rechenschaft mehr geben können, weil das Begründen sonst ins Unendliche gehen müsste. Vielmehr erleben wir unsere Präferenzen als uns eigen und als Ausgangspunkte unseres Begründens in ähnlicher (wenn auch nicht strukturell gleicher) Unverfügbarkeit für direkten Zugriff wie das schließliche Sich-Ereignen unseres Entscheidens und Wollens.

Unabtretbare Wahl bei eigenen Entscheidungen und Handlungen sowie Unverfügbarkeit des Ganzen einer Person im Augenblick ihres aktuellen Wollens stellen gleichermaßen Grundzüge der menschlichen Handlungsverfassung dar. Die unabtretbare Wahl bringt es mit sich, dass eine Person der Erwartung, sich mit ihrer ganzen Überlegungsfähigkeit und jeder möglichen Anstrengung für das ihr als das Rechte Erkennbare einzusetzen, nicht durch fatalistische Selbsttäuschung entziehen kann. Die antike Einstufung des fatalistischen Betrugs als »faule Vernunft« haben wir kennengelernt. Die Unverfügbarkeit bringt es mit sich, dass die Person, die sich als eine Gesamtheit kausal relevanter Kräfte und Umstände nie völlig kennen kann, im Prinzip auch darauf gefasst sein muss, dass sich temporäre Impulse gegen ihr langfristiges Selbstkonzept durchsetzen. Solche Impulse können im Augenblick sogar mit »guten« Gründen auftreten – Gründen, die die Person in langfristiger, situationsunabhängiger Betrachtung aber missbilligt. Das kann geschehen, obgleich sich die Person in ihrem Entscheiden und Wollen sehr wohl aktiv, aus eigenem Antrieb zur Tat schreitend erlebt. Wir sind Ganzheiten, die in der Erlebnisweise eigener, aktiver Entscheidung für bestimmte Handlungen optieren. Jedoch können wir das Tatsächliche, als das unser Wählen und Wollen im Augenblick seines Auftretens trotz Aktivitätsfärbung, Meinigkeit, Zentralität da ist, uns nicht noch einmal selbst aussuchen, wie wir uns auch als Person ursprünglich nicht selbst aussuchen konnten.

Auch die temporären Impulse, die uns – z. B. mit vorgeschobenen Gründen – manchmal anders handeln lassen, als wir es langfristig bevorzugen und billigen würden, gehören zu uns, machen uns als die Ganzheit des jeweiligen Augenblicks mit aus. Die von ihnen angeregten Taten sind demnach durchaus unsere eigenen. Dabei mag es sein, dass wir eben diese Handlungen aus situationsunabhängiger, beruhigter Perspektive im Rückblick als nicht zu uns passend und im personeigenen Sinn als unfrei ansehen. Personeigene Freiheit gegenüber unberechenbaren Impulsen und zu den Taten, die die Person situationsunabhängig, in langfristig orientierter Überlegung richtig findet, ist nie ein sicherer Besitz, sondern immer ein gefährdetes Gut.

Aber selbst wenn wir einen eigenen Entschluss im Nachhinein nicht billigen können: Im Moment seines Hervortretens aus der undurchschauten Gesamtheit zugrundeliegender Faktoren erleben wir ihn nur selten als fremd, als uns nicht zugehörig. Das Erscheinungsbild einer Person, die ihre eigenen Entscheidungen und Handlungen im gleichen Augenblick wie ein unbeteiligter Zuschauer erlebt und ihren Verlauf wie einen fremden Prozess verfolgt, tritt unter psychisch Gesunden nicht häufig auf. Auch dann zeigt es sich allenfalls kurzzeitig. Das permanente oder auch nur überwiegende Als-fremd-Erleben eigener Entscheidungen, Taten, ja des ganzen eigenen Körpers gehört in die Symptomatik der Depersonalisation. Es gehört damit in einen Bereich, den die »Normalen« als Zeichen einer »Krankheit« deuten und an die Medizin delegieren. Hingegen können wir »Normalen« es sehr wohl erleben, dass wir eine vergangene Entscheidung und die zugeordnete Tat im Nachhinein als uns fremd einschätzen und das Ganze als Versagen unserer personeigenen Freiheit beurteilen.

Am Wort »Depersonalisation« zeigt sich nebenbei etwas über unser eingebürgertes Personkonzept: Eine Person – nach gewohnter Auffassung und »normalem« Gebrauch des Begriffs – hat ein Bild von sich und ein Erleben ihrer selbst. Dazu gehört, dass sie eine ganze Reihe von Einstellungen, Akten, körperlichen wie seelischen Eigenschaften als ihr aufs Engste zugehörig erfährt. In vorderster Reihe dieser Gesamtmenge von Zugehörigem steht ihr eigener Körper, ihr eigenes Bewusstsein und – besonders intensiv als Eigenes in einer Art Kernbereich erlebt – ihr aktuelles Wollen. Der Gegensatz zwischen Meinigkeit, Aktivitätsfärbung, Zentralität des Wollens einerseits, Unverfügbarkeit eben dieses Wollens für direkten Zugriff andererseits, scheint ein Paradoxon zu sein. Das trägt immer wieder zu großer gedanklicher Spannung beim Deuten menschlicher Selbsterfahrung bei. Die scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen jenen gegenläufigen Eigenschaften erlebten Wollens hat schon früh zu philosophischer Auseinandersetzung herausgefordert. Sie dürfte auch ein Grund dafür sein, dass selbst in Alltagskontexten die Frage, wie wir uns als freie Menschenwesen zu verstehen haben, immer wieder zu einem Thema der Selbstdeutung reflektierter Personen wurde.

Personen können sich sehr wohl nach eigenem Entschluss in Richtung auf größere personeigene Freiheit auf den Weg machen und dorthin weiterentwickeln. Dies und die dazu nötigen Einzelhandlungen geschehen jedoch nicht als Ausmerzen der Unverfügbarkeit, die für direkten Zugriff auf eigenes Wollen bestehen bleibt. Vielmehr erweitern wir unsere menschlichen Möglichkeiten z. B. mit Hilfe eigenen Überlegens und eines Handelns, das ihm zu folgen sucht. In diesem Verständnis gibt es auch ein Sich-Entwerfen menschlicher Personen auf eine bestimmte Existenzweise hin. Da perfekte Gewissheit dabei fehlt und lineares, ununterbrochenes Aufsteigen dabei kaum vorkommt, ist es sinnvoll, sich für Erwerb, Erhaltung, Verteidigung jener Existenzweise auf wiederholte Anstrengungen einzustellen. In Kosmos der Lebewesen sind nur Personen – reflektierend auf sich selbst bezogene Wesen – imstande, diese Art von Anstrengung zu leisten. Nur Personen können eigene Handlungsneigungen ausdrücklich zum Thema machen und mit dem Ziel der Selbstveränderung indirekte Arbeit am eigenen Selbst erbringen – denkend wie handelnd.

3. Trotz Unverfügbarkeit der Willensbildung: Wir sind die Instanz, die unser Handeln wählt und ausführt

Wir sind als Personen, vielfach abhängige Wesen, in besonderer Weise daran interessiert, uns in unserem Entscheiden und Tun selbstbestimmt zu wissen. Wir sind interessiert daran, die oft zu hörende These der perfekten Vorausbestimmung all unseres Tuns durch personfremde Instanzen zurückweisen zu können. Wir sind natürlich besonders stark daran interessiert, unsere personeigene Freiheit bewahren und weiter ausdehnen zu können. Dann sehen wir uns auf einem Weg, auf dem wir dem menschlichen Ziel größtmöglicher Selbstgestaltung schrittweise näher kommen.

Eine geläufige Erkenntnis, an die wir uns auch in der Wissenschaft halten, lautet: »Was für unsere kognitiven Systeme unfassbar ist, existiert nicht für uns.«1 Wir richten uns nach dieser Erkenntnis an einer Vielzahl von Punkten, insbesondere da, wo prinzipielle Grenzen des wissenschaftlichen Zugriffs erkennbar sind. Beispiele sind die subatomare Physik und die Kosmologie. In der Physik sprechen wir von einem Indeterminismus da, wo es für uns aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist, deterministische Verhältnisse, sicher zu erkennen. Die Frage, ob es deterministische Verhältnisse in Bereichen, die jenseits unserer Erkenntnismöglichkeiten liegen, nicht trotz allem gibt (wie einige meinen), ist keine wissenschaftlich entscheidbare Frage. Denn sie fragt nach etwas, das für wissenschaftliche Erkenntnis prinzipiell unzugänglich ist. Ähnlich verfahren wir in der Kosmologie: Zu fragen, was »vor« dem Urknall war, ist keine Frage der Wissenschaft, weil die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erfassung, z. B. die zeitliche Ordnungsform, für uns überhaupt erst mit dem Urknall entstanden. »Vor« diesem Ereignis existiert für uns nichts, weil unsere kognitiven Systeme schon dieses »vor« nicht durch erkennenden Zugriff einlösen können.

Zwar nicht dasselbe, aber doch etwas entfernt Ähnliches gilt in sehr viel kleinerem Format für persönliche Entscheidungssituationen: Für die kognitiven Systeme der Person vor einer Entscheidung ist das Ergebnis dieser Entscheidung nicht erfassbar, solange die Entscheidung nicht gefallen und die Handlung zu Ende gebracht ist. Hermann Weyl konnte den Ausgang seines Entscheidungsprozesses prinzipiell nicht im Voraus wissen, wenn er auch im Augenblick des Aufspringens auf die Straßenbahn und des Zurufs an seine Frau das geglaubt haben mag. Angenommen, Weyl wäre Determinist gewesen und hätte das Ergebnis des Zusammenwirkens von Faktoren, die seine Entscheidung mutmaßlich »determinierten«, im Voraus wissen wollen: Dann hätte er als Wissenschaftler sich sagen müssen, dieses Ergebnis sei für seine kognitiven Systeme im Voraus prinzipiell unerfassbar. Eine »Determination« seines Entscheidungsprozesses existiere für sein Wissen solange nicht, wie dieser Prozess nicht durch eine fertige Tat (oder ein ebensolches Unterlassen) zu Ende gekommen sei. Jeder Versuch des erkennend-analysierenden Zugriffs auf den Entwicklungsprozess seiner Entscheidung hätte diesen Prozess beeinflussen können. Damit wären vermeintliche Erkenntnisse über seinen Verlauf wie auch schon jede Vermutung darüber unverlässlich geworden.

Daher war Weyl für seine Erkenntnisperspektive im gesamten Verlauf seiner Entscheidungsbemühungen allein selbst die Instanz, aus der die Entscheidung hervorgehen würde. Er stand in der persontypischen Situation unabtretbarer Wahl. Für seine Erkenntnis war seine ganze lebende Person, wie sie auf die Straßenbahn sprang und zum Telegraphenamt fuhr, der Ursprung seiner kommenden Wahl und Handlung.

Zwar erwähnt Weyl selbst äußere Umstände, die zu seiner Willensbildung beigetragen haben könnten, z. B. die freundliche Stimmung am Seeufer. Aber der Beitrag solcher Faktoren ist nur möglich, wenn sie in der Person auf etwas treffen, was durch sie beeinflussbar ist. Sonst bleiben sie irrelevant. Und Faktum sowie Größe eines solchen Beitrags sind im Zeitfenster des Entscheidungsprozesses für die Person selbst ebensowenig verlässlich erkennbar wie Verlauf und Schlusspunkt dieses ganzen Vorgangs. Im Übrigen gibt es in dem Zeitraum, in dem sich eine Entscheidung formiert, immer ungezählt viele äußere Umstände, die da sind, aber ohne Einfluss bleiben. Auch über deren Relevanz oder Irrelevanz kann sich eine Person vor ihrem Tun kein sicheres und vollständiges Bild machen.

Das Sich-Bilden von Weyls Wollen war für seinen direkten Zugriff unverfügbar, das Ergebnis trat für ihn unversehens und unerwartet ein. Trotzdem wurde er nicht von fremden Mächten zu seiner Ablehnung des Göttinger Rufes bestimmt. Vielmehr gingen diese Entscheidung und die unmittelbar folgende Handlung aus einem komplexen Prozess in oder an der ganzen Person Hermann Weyl hervor. Es ist sogar sinnvoll zu sagen, Weyl war in diesem Zeitfenster neben vielem anderen, das zu ihm gehörte, dieser Prozess selbst. Von Verlauf wie Ergebnis dieses Vorgangs konnte Weyl mit allem Recht sagen: »Das war ich. Der Vorgang, in dem sich meine Entscheidung formte, und das Niederschreiben auf dem Formular waren zu dieser Zeit zentrale Züge meines Lebensprozesses. Den kannte ich zwar als Ganzen nicht, wie ich auch mich selbst als ganzes Lebewesen nicht kennen kann. Aber trotz meiner Unkenntnis bin ich dieses Lebewesen und war ich mit allem, was zu mir gehört, selbst die Instanz, aus der mein Entscheiden und Tun hervorging.« Hätte er so gesprochen, dann wäre dies ein passender Ausdruck für die Unabtretbarkeit seiner Wahl gewesen und für seine unausweichliche Urheberschaft beim eigenen Entscheiden und Tun.

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