Kitabı oku: «Blindgänger», sayfa 2

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Ich klang wohl etwas autoritär, Marty erhob sich, ergriff die Plastiktüte und leerte sie kurzerhand über dem Bett aus, wild flatterten Zettel und Prospekte heraus, landeten auf dem Boden.

Marty hatte während seines Sabbaticals in Royan alles gesammelt, Restaurantrechnungen, Busfahrscheine, Mietvertrag der Wohnung und Quittungen für bezahlte Mieten, unzählige Prospekte über Royan und sehenswer­te Orte der Umgebung, Programme von Aktivitäten, meh­rere gleiche Stadtpläne mit markierten Stel­len, Michelinkarten der Gegend und Region in allen Maßstäben, Ausleihscheine der städtischen Bibliothek. Zahlreiche Ausdrucke von Webseiten und Onlinetexten, alle zu The­men aus dem Zweiten Weltkrieg. Marty blätterte sie flüchtig durch, Leben unter deutscher Besatzung, Bau des Atlantikwalls, Wehrmachtsbordelle, obligatorischer Arbeitsdienst in Deutschland, Befreiung und Epuration, Kollaboration. Sogar ein dickes Bündel gehefteter Fotokopien, es sah aus wie ein komplettes Buch, mit vielen Fotos von Bombardierungen und zerstörten Städten.

Was soll ich damit? Er schob alles achtlos zusammen und legte den Haufen auf die Kommode.

Vielleicht ergebe alles Sinn, wenn er den Inhalt des Laptops kenne.

Er nickte und strich mit der Hand über die grauschimmernde Oberfläche, wie wusste er, wie es zu bedienen war? Gestern habe ihm das Mädchen einen CD-Player und Musik mitgebracht, die der Vater gerne hörte. Musik könne ebenfalls durch Blockaden dringen. Nichts, er habe ihr nicht zu sagen gewagt, dass er mit dieser Art von Musik – Funky-Jazz, hatte sie ihn belehrt – beim besten Willen nichts anfangen konnte. Aber er habe den CD-Player problemlos zum Funktionieren gebracht, vielleicht klappe es auch mit dem Computer. Er öffnete den Laptopdeckel, entnahm der Tasche Netzkabel und Maus, die Frau hatte an alles gedacht. Es sei ihr nicht gelungen, sich einzuloggen, das Passwort stimme nicht mehr, mit diesen Worten habe sie ihm das Laptop übergeben. Die vorwurfsvolle Verärgerung in ihrer Stimme sei unüberhörbar gewesen, der Inhalt des Laptops war also nicht für die Augen der Frau bestimmt, der Besitzer hatte vorgesorgt. Er zögerte, auf den Startknopf zu drücken, etwas Lauerndes gehe vom Laptop aus.

Und wenn ihm nun das Passwort nicht einfalle, wo speichert das Gehirn ein Passwort?

Nicht nachdenken, einfach tun, schärfte ich ihm ein, Routinebewegungen seien direkt mit dem prozeduralen Gedächtnissystem verbunden.

Also steckte er geschäftig, Spiel der Muskeln gegen Leere im Gedächtnis, das Netzkabel ins Laptop und in die Steckdose, hängte die Maus an, drückte auf den Startknopf, starrte auf die herunterlaufenden Programmierzeilen, die Einlogmaske, tippte Namen und Passwort ein, ohne Nachdenken, es glückte, er war erleichtert.

Bloß verunmögliche der Trick, dass er das Passwort jetzt kenne.

Ich schob ihm einen Zettel zu, hatte ihm beim Einloggen über die Schultern gesehen, außergewöhnliche Situationen legitimierten leicht unkorrekte Methoden. Er könne es ja jetzt erneut ändern. Marty grinste dankbar.

Das Desktopbild zeigte eine lang gezogene Meeresbucht mit kargem Strand und mächtiger Düne dahinter. Im Sand lagen verschiedene Ordner verstreut, er entschied sich für ROYAN und klickte den Ordner an. Er bemerkte nicht mehr, wie ich das Zimmer verließ.

Auch das prozedurale Gedächtnissystem konnte ich somit abhaken, funktionierte alles. Obwohl es laut seiner Frau in den letzten Monaten vor dem Sturz keinerlei außergewöhnliche Vorkommnisse gegeben hatte, abgesehen von seinem Weiterbildungsaufenthalt in Frank­reich, war auch ich je länger je mehr von einer psychogenen Ursache von Martys Amnesie überzeugt.

Ich kann mittlerweile auf über zwanzig Jahre ärztliche Tätigkeit in der renommierten Privatklinik Rychen­egg zurückblicken, davon die letzten zehn Jahre als Chefarzt der psychiatrischen Abteilung, eine Position, die ich, daran ist kaum zu zweifeln, meiner Expertise für alle Formen von Störungen des Erinnerungsvermögens verdanke. Seit meiner ersten Begegnung noch als Oberassistent mit einer Amnesiepatientin faszinieren mich die Kapriolen des Gehirns. Als Psychiater und Psychotherapeut begegne ich dem menschlichen Gehirn mit größtem Respekt, und als Amnesiespezialist unterschätze ich in keiner Weise dessen Fähigkeiten, bei Bedarf passende Realitäten zu erschaffen oder störende Wirklichkeiten auszuschalten. Auch mein Psychiatergehirn verdrängt erfolgreich, wie anmaßend es doch ist, mit dem eigenen Denkwerkzeug das Funktionieren dieses Werkzeugs bei andern beurteilen zu wollen. Welch Größenwahn des menschlichen Gehirns, sich selbst verstehen zu wollen.

Meine intensive Beschäftigung mit den Manipulationen der Gedächtnisfunktionen durch das, was wir Bewusstsein nennen, trug mir in der Folge zahlreiche, von Kollegen in Kantonsspitälern überwiesene Amnesiefälle zu. Die im Laufe der Jahre entwickelte Spezialisierung fand ihren Niederschlag auch in meinen stark beachteten Fachartikeln zum Thema. Die Klinik Rychen­egg gilt nicht zuletzt dank meines Renommees in Fachkreisen, ich darf dies in aller Bescheidenheit anmerken, landesweit als erste Adresse für komplexe Fälle jeglicher Art von funktionellen Gedächtnisstörungen. Zum großen Bedauern der Klinikleitung leider kein lukrativer Geschäftszweig.

Rychenegg erlebte in den vergangenen Jahren eine starke Expansion. Das Klinikmanagement hatte, gemäss Eigeneinschätzung, dank weitsichtiger Marketingstrategie auf dem boomenden Markt psychosomatischer Er­krankungen und Stresssyndrome, man denke an Burn-out, rechtzeitig in ein Image von Exzellenz ­investiert. Oder um es mit den Worten der in unserer Institution ein- und ausgehenden Consultants auszu­drü­cken: Als Privatklinik ohne öffentlichen Leis­tungs­auftrag fokussieren wir ärztliche Dienstleistungen auf psy­chische Störungen mit hoher Renditeerwartung. Die Behandlung meiner unrentablen, aber medizinisch interessanten Amnesiefälle rechtfertige ich gegenüber dem Direktor durch Querfinanzierung mit einträglicheren Therapien. Und auch diese gut zahlende Klinikgäste sind schließlich Patienten, so jedenfalls bringe ich meine idealistische Bedenken jeweils erfolgreich zum Schweigen.

Die zweite Sitzung, an der ich mich zu meinem ziemlich ungewöhnlichen Therapievorschlag hatte hinreißen lassen, fand eine Woche später wiederum in meinem Büro und wiederum um zehn Uhr statt.

Marty brachte ein Notizheft in der Art von Schülerheften mit. Hausaufgaben erledigt dank intensiver Gespräche mit der Frau und dem Mädchen, ob ich zuerst die Fakten oder die gesammelten Bemerkungen zur Persönlichkeit von Jean-Pierre Marty hören wolle.

Die Fakten.

Er blätterte kurz im Heft und schob es mir mit der betreffenden Seite geöffnet zu.

Ob er es bitte laut lesen würde? Ich wollte auf feinste Veränderungen in Stimme und Intonation achten.

Marty überflog seine Notizen, obwohl er sie bestimmt auswendig kannte, und räusperte sich so gründlich, dass das anfänglich verhalten kratzende Geräusch sich bald zu einem veritablen Husten auswuchs. Er las mit reichlich belegter Stimme.

– Jean-Pierre Marty, geboren angeblich am

31. März 1945, tatsächlicher Geburtstag und -ort

unbekannt, franzö­sisches Kriegswaisenkind, ­adoptiert von Hanspeter und Elisabeth Marty

– erfuhr erst als Dreißigjähriger durch Zufall, dass adoptiert

Er blickte auf, die Frau habe ihn irgendwie lauernd beobachtet, als sie das erzählte, als habe sie einen Erin­nerungsdurchbruch erwartet, natürlich vergeblich.

Ich bat ihn fortzufahren.

– Kindheit in Murten, Vater Direktor der örtlichen Kantonalbank, Mutter Hausfrau, aufgewachsen mit vier Jahre älterem Stiefbruder Daniel Marty, leiblicher Sohn von Hanspeter und Elisabeth Marty

– Vater 1993 gestorben

– 1965–73 Studium, Romanistik und Geschichte

an der Universität Bern, Abschluss mit Doktorat, erste Stellen als Hilfslehrer an Gymnasien in Bern und in Biel, 1980 Wahl zum Hauptlehrer für Französisch und Italienisch an der Alten Kantonsschule Aarau. Tätig dort als Gymnasiallehrer bis heute

– Verheiratet seit 1983 mit Annet Uttenberg, geb. 25.11.1953 (verbürgt!) in Hamburg, hat Betriebswirtschaft studiert, leitet das Marketingteam

bei einer mittelgroßen Softwarefirma in Aarau, kennengelernt im September 1979 bei der ­Weinlese in Südfrankreich, Frau zog 1982 in die Schweiz

– 19. Oktober 1986 Geburt von Nadine, einziges Kind (warum keine weiteren?)

– Familie wohnt seit Sommer 1987 in Einfamilienhaus, alternative Wohnsiedlung, in ehemaligem Bauerndorf, heute zersiedelter Vorort, enge, zuverlässige (??) Nachbarschaft

– wichtig die letzten Monate: drei Monate Weiterbildungsurlaub von Mai bis Anfang August in Royan, französische Atlantikküste, Auszeit, wollte über den Atlantikwall und die deutsche Besatzungszeit in Frankreich recherchieren. Besuch der Frau ab Mitte Juli und gemeinsame Heimreise. Verbrachte die Tage bis Beginn des neuen Schuljahres mit Unterrichtsvorbereitungen

– Sturz am Freitag, 15. August (letzter Ferientag, Mon­tag, 18. August Schulbeginn – Zusammenhang?)

Nach dem anfänglichen Husten vermochte ich keine Regung mehr aus seiner Stimme herauszuhören, Marty las die Angaben zu seinem Leben unbeteiligt, beinahe gelangweilt.

Ein fades Leben, er frage sich, ob es sich lohne, die Erinnerungen dieses Langweilers zu finden, ob es überhaupt etwas zu finden gebe. Das einzig Bemerkenswerte vielleicht die unbekannte Herkunft, ein ziemlich auffälliges Detail in dieser banalen Biografie.

Ich ging nicht darauf ein. Wie das Gespräch mit seiner Frau denn verlaufen sei?

Während er vom letzten Besuch seiner Frau erzählte, spielten seine Hände unaufhörlich mit dem Notizheft, rollten es ein, ließen es dank sperrigem Material wieder aufspringen, drehten den Zylinder wieder enger, er schob die Rolle von der linken in die rechte Hand und zurück, unaufhörlich.

Sie hätten ins Städtchen spazieren können, er war schließlich nicht in einer geschlossenen Anstalt. Jedoch die Vorstellung von Menschenmengen sei ihm nach wie vor unerträglich. Jegliche Situation draußen im Leben sei eine mögliche Ursache für Panik, er wisse nie, ob er intuitiv richtig reagieren würde. Sie seien also im Klinik­park spazieren gegangen, schlenderten langsam über die Kieswege, auch der Park hielt am frühen Nachmittag Siesta, weder Angestellte, die jetzt ihre übliche lange Mit­tagspause hielten, waren zu sehen noch andere Gäste, er halte sich an die offizielle Namensregelung, die hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Die Wege gehörten ihnen.

Er habe bei jedem Schritt sorgfältig darauf geachtet, einen ausreichenden Abstand zu seiner Begleiterin einzuhalten, um auch eine unbeabsichtigte Berührung ihrer unbekleideten Arme zu verhindern. Es war spätsommermild, er trug die Wildlederjacke an einem Finger über die Schulter geworfen. Die Distanz war so austariert, dass sie als zusammengehörend wirkten, aber für eine Berüh­rung hätte einer von ihnen den Arm ausstrecken müssen. Die Faktenlage war nicht zu diskutieren, er war Jean-Pierre Marty und die Frau, die ebenfalls nicht sehr locker neben ihm herschritt, somit seine Ehefrau.

Er blickte sie verstohlen an, manchmal auch unverhohlen. Bald fünfzig wurde sie also, wirkte aber eindeutig jünger. Ihr sportlicher Stil, auch das fahlblonde Haar, mittellang und gerade geschnitten, gefiel ihm. Was sie beruflich machte und ihre gemeinsamen Lebensfakten kannte er bereits, sie schien mit beiden Beinen im Leben zu stehen.

Ihre beiden Körper kannten sich also seit einem Vierteljahrhundert, vertraut durch viele Umarmungen, anfänglich bestimmt leidenschaftlich. Und heute? Mochten sich, begehrten sich ihre aneinander gewöhnten Körper noch? Schliefen sie noch zusammen? Er habe seine Begleiterin unbemerkt gemustert, er konnte sie ja nicht unverblümt danach fragen. Wie hatte er sie verführt? Mochte er ihre Brüste? Wie fühlte sich die Haut ihrer Schenkel an? Er versuchte sich seinen Körper verschlungen in ihren vorzustellen. Nichts, keine Fantasien formten sich. Keine Regung, nur sein Rücken wurde steif. Er wäre ziemlich nervös geworden, hätte er nicht mittlerweile die Bestätigung, dass bei ihm physisch alles noch funktionierte.

Unter Männern könne er ja darüber reden, das habe ihn stark beschäftigt, klappte diesbezüglich noch alles bei diesem fremden Körper, in dem er steckte. Nach dem Aufwachen aus dem Koma sei, obwohl er sich körperlich fit fühlte, tagelang alles schlaff geblieben. Es brauchte einige Überwindung, bis er das Thema im Spital anzusprechen gewagt hatte. Der Arzt hatte ihm augenzwinkernd einschlägige Magazine zugesteckt, das buche er unter Therapie ab. Auch Sexualität sei eine Frage der Bilder im Kopf, die ihm eben fehlten. Er habe die Fotos eingehend studiert, Schmollmünder, verkeilte Leiber, Zoom auf erigierte Körperteile und Öffnungen. Dasselbe in der nächsten Bildstrecke und wieder in der nächsten, nur andere Blickwinkel und andere Körper. Nichts zu machen. Fußballbilder aus dem Sportteil der Zeitung erregten ihn fast mehr. Der Arzt riet zur Geduld. Die Angelegenheit beunruhigte ihn jedoch zutiefst.

Bis er hier in der Klinik eines Morgens von einer neuen Pflegerin geweckt worden sei, einer Wochenendvertretung, er hatte sie noch nie zuvor bemerkt. War es die Leichtigkeit ihrer Schritte, die Anmut ihrer Armbewegung, als sie die Vorhänge aufzog, das Maliziöse in ihren Augen oder ihr reizendes Lächeln? Jedenfalls strahlte die Frau, als Person interessierte sie ihn keineswegs, eine Erotik aus, auf die sein Körper in Sekundenschnelle reagierte. Völlig überrumpelt von dieser unbekannten, aber lange erwarteten Empfindung habe er instinktiv die Decke hochgezogen, ihr ziemlich betreten einen guten Morgen gewünscht. Alles in Ordnung, alles bestens.

Aber seine Reglosigkeit jetzt bei der Frau, die seit zwanzig Jahren seine Ehefrau war, bedeutete wohl, dass in der Ehe zwischen den beiden nicht alles in Ordnung war. Dass in dieser Hinsicht nicht mehr viel los war. War es denkbar, eine Ehe ohne jegliche sinnliche Anziehung weiterzuführen? Vielleicht reichten ja im Normalfall langjährige Zuneigung und die Erinnerung an vergangene Leidenschaft. Nur fehlte ihm beides. Also war es schwer denkbar.

Die mittägliche Leere im Park zwang die beiden einzigen Spaziergänger zusammen, gerne wäre er jetzt durch Entgegenkommende abgelenkt worden, wäre mit einem Lächeln ausgewichen. Er dankte seiner Begleiterin höflich, was eher einer Fremden gegenüber angebracht war, dass sie sich den Nachmittag freigenommen und so schnell gekommen war. Er hoffe auf ihre Hilfe, viele der tagebuchartigen Aufzeichnungen von Marty auf dem Laptop seien für ihn unverständlich, beruhe auf Wissen, das er nicht habe.

Sie hielt den Blick konzentriert auf den Weg gerichtet, hob die Schultern, er solle fragen.

Weshalb ihr Mann diesen Weiterbildungsurlaub gemacht habe und warum gerade in Royan?

Schon die erste Frage könne sie nicht beantworten. Ihre Stimme klang leicht bitter. Das Sabbatical nach über zwanzigjähriger Lehrtätigkeit war dein Recht und die Chance auf eine Auszeit. Das Unterrichten befriedigte dich seit einiger Zeit nicht mehr. Dann war irgendein Vorfall in der Schule, darüber wolltest du aber nie sprechen. Wie immer. Ziemlich sicher hast du auch eine ­an­dere Auszeit gesucht, Eheferien, Abstand von mir. Je­denfalls hast du mir nie angeboten mitzukommen, wenigstens für einen Teil der Zeit.

Es habe ihn ziemlich irritiert, so direkt angesprochen und mit unterschwelligen Vorwürfen konfrontiert zu werden, die den Andern betrafen. Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich merklich. Er hakte nach. Und da­r­über habe es zwischen ihnen keine Diskussion gegeben?

Sie zögerte, offensichtlich auf der Hut, sie wusste ja nicht, ob er davon in den Aufzeichnungen gelesen hatte. Im vergangenen Herbst sei er erstmals mit der Idee ge­kommen, einen Weiterbildungsurlaub zu beantragen, habe dabei die Möglichkeit, dass sie mitkommen könnte, mit keinem Wort auch nur angedeutet. Du hast diese Option mit einer Bestimmtheit ausgeschlossen, die nicht einmal zuließ: Es wäre schön gewesen wenn. Die Kränkung brodelte wochenlang wie Gift in mir, nachher war ich zu stolz, selber den Vorschlag zu machen, ich hätte gut vier Wochen unbezahlten Urlaub nehmen und Nadine in dieser Zeit bei ihrer Freundin Lea wohnen können. Es war klar, du hast allein gehen wollen. Nadine und ich sollten im Juli nachkommen und als Abschluss wollten wir alle gemeinsam die Sommerferien dort verbringen. Ich bin gefahren, aber Nadine hat es vorgezogen, den Ur­laub mit Freunden zu verbringen. Du warst sehr aufgebracht.

Er vermied es, sie anzublicken, bereits zum dritten Mal bogen sie nun in den Weg ein, der sich zwischen ausladenden Rhododendrenbüschen windend zur Lichtung mit der Statue führte. Es war unwichtig, welchen Weg man einschlug, irgendwann kam man in diesem Park immer an den Ausgangspunkt zurück. Was sie mit Eheauszeit gemeint habe?

Die Frau war unzufrieden mit ihrer Ehe, er sei immer ausgewichen, seine Absicht, ohne sie zu fahren, hatte sie so gedeutet. Sie hoffte auf einen Neuanfang, das einzig Positive, das sie seinem Urlaub abgewinnen konnte. Wenn schon mehr als zwei Monate allein zu Hause mit der pubertierenden Tochter, mit Arbeit, Haus, Garten, wollte sie herausfinden, ob sie alles alleine schaffe, als Rückversicherung. Dass sie sich nicht aus Angst vor dem Alleinsein an eine Beziehung klammerte, die es nicht mehr wert war. Sie rechnete sehr wohl mit der Möglichkeit, dass die mehr als zehnwöchige Trennung ihre Beziehung nicht wiederbeleben, sondern die Entfremdung besiegeln könnte.

So war das also, er habe endlich begriffen, warum seine Amnesie mehr Ratlosigkeit als Verzweiflung bei der Frau auslöste. War es möglich, dass sie sich bereits getrennt hatten, dass da andere Beziehungen waren, sie, oder er? Was, wenn der Andere eine Affäre hatte, die jetzt irgendwo verzweifelt auf Nachricht wartete? Es ließe sich manch hübsches Melodrama zusammenfantasieren. Aber kann eine Beziehung weitergeführt werden, wenn der eine die Geschichte der Beziehung kennt, der andere nicht? All die Paare, die nur noch von der Geschichte ihrer Liebe leben. Was bleibt nach zwanzig Jahren Ehe, wenn die Erinnerung weg ist und nicht wieder kommt? Nur ein Neuanfang, aber dazu müsste er sich neu in die Frau verlieben. Er war weit weg davon.

Und, wie kam es heraus? Er habe sie direkt gefragt.

Darüber wolle sie nicht sprechen, das finde er bestimmt in aller Ausführlichkeit in seinen eigenen Aufzeichnungen. Sie beschleunigte ihre Schritte, sodass sich der Abstand zwischen ihnen wieder vergrößerte. Der Kiesweg bog um die Büsche und endete vor dem Herrn Kurhoteldirektor. Sie blieb stehen, die Gründerfigur des ehemaligen Kurhotels in Überlebensgröße mit steinernem Gehrock, Stock und Hut in der Hand, ein patriarchalisches Lächeln unter dem majestätischen Bart, mit festem Blick in die erfolgreiche Zukunft. Nase, Stirn und Haar weiß gefleckt, jahrzehntealter Taubendreck, dem auch der Regen nichts mehr anzuhaben vermochte. Der Herr Kurhoteldirektor trug es mit Würde. Kam ohnehin selten einer bis in die hinterste Parkecke. Sie drehten um, nur ein Weg führte weiter, im großen Bogen zurück. Die Baumwipfel rauschten, unten zwischen den Büschen war es angenehm windstill, auch heute keine Fernsicht, in großer Höhe zogen dunkle Wolken über den weißen Himmel.

Marty blickte mich leicht verunsichert an, die Notizheftrolle mit beiden Händen umklammert. Sie habe gezögert, ihren Mann zu beschreiben, auf der Hut, in ihren Augen habe er Zweifel an seinem Gedächtnisverlust gelesen. Es scheine viel Misstrauen zwischen ihr und dem Mann gegeben zu haben. Ihm sei klar geworden, dass sie ihm genau das erzählen würde, was er denken solle. Jetzt hatte sie die Gelegenheit, ihrer beider Ehevergangenheit ganz nach ihren Absichten und ohne Protestmöglichkeit seinerseits zu beschreiben. Beim Sprechen habe sie Augenkontakt vermieden. Er habe in ihrer Stimme viel enttäuschte Erwartungen gehört, wenn auch das, was sie über ihren Mann sagte, eher nach Nichts-Schlechtes-über-einen-Toten-sagen als nach ehrlicher Meinung klang.

Sie sei sichtlich verunsichert gewesen, ob sie im Präsens oder in der Vergangenheitsform über ihn reden sollte. Ja, was kann ich dazu sagen, du entzogst, also du entziehst dich erfolgreich allen nachbarschaftlichen An­näherungen und den damit verbundenen Verpflichtungen, die sozialen Kontakte pflege vor allem ich. Auch um die Erziehung der Tochter kümmere ich mich in erster Linie, du bist zwar körperlich anwesend, geistig aber meist anderswo. Eigentlich genau wie jetzt, fügte sie bitter an. Irgendwann habe sie aufgehört zu fragen, was er eigentlich ständig lese und schreibe. Er sei eher nicht so entscheidungsfreudig, um nicht zu sagen konfliktscheu. Geschätzt im Lehrerkollegium, sie habe den Eindruck auch von den Schülern, und äußerst charmant, wenn ihm danach sei. Er könne brillante Diskussionen führen, um ein Gegenüber zu beeindrucken, bei dem es sich lohne, aber auch scharf und sarkastisch sein, wenn ihn ­jemand nerve. Nein, ein Langweiler bist du nicht.

Sie schwieg, ergänzte dann, dass er nach der Zeit in Royan stark verändert gewesen sei, sehr launisch, nur noch Extreme, mal sprühend vor Zuvorkommenheit ihr gegenüber, dann plötzlich kränkend abweisend. Etwas sei in Royan vor­ge­fallen. Eine andere Frau, vielleicht. Vielleicht auch nicht, sie habe nie irgendwelche Hinweise gefunden. Mehr hatte sie nicht sagen wollen und war bei den letzten Worten seinem Blick noch hartnäckiger ausgewichen.

Besser das Thema wechseln. Zweite Frage, ihr Mann – es war ihm einfach nicht möglich, ich zu sagen – habe in Royan einen Weiterbildungskurs für Französischlehrer besucht, weshalb habe er sich denn mit der Besatzungszeit beschäftigt?

Sie nickte. Jeder Teilnehmer hatte ein landeskundliches Thema als persönliches Projekt zu bearbeiten. Du bist ja auch Historiker und hast deshalb als Thema die Besatzungszeit durch die Deutschen gewählt. Royan an der Atlantikküste war nicht nur besetzt, sondern befestigt, Atlantikwall, und wurde kurz vor Kriegsende von den Alliierten bombardiert und dem Erdboden gleichge­macht.

Ja, das hatte er in den Notizen gelesen. Aber ihr Mann erwähne persönliche Recherchen, die er damit verbinden wollte. Etwas, was mit einem Besuch bei seiner Mutter an Ostern in Verbindung stand.

Sie blieb stehen, schaute ihn lange und nachdenklich an. Nein, von persönlichen Recherchen wisse sie nichts, aber eine Ahnung, worum es gehen könnte. Sie blickte sich um, suchte eine Bank, wo sie ungestört sein konnten.

Inzwischen kreuzten sie immer häufiger andere Klinikgäste, die Mittagsruhe war zu Ende. Den einen oder die andere kannte er aus dem Speisesaal, er grüßte und ignorierte ihre neugierigen Blicke auf seine Begleiterin, stellte sie niemandem vor, als was auch.

Als sie eine leere Bank gefunden hatten, zögerte sie plötzlich, setzte sich nicht, schaute vielmehr auf die Uhr, sie müsse zurück, sie habe um halb vier noch einen Termin. Er solle besser seine Mutter fragen, sie komme ja am Sonntag. Sie bedaure. Sie wich einem Spaziergänger aus und eilte davon, flüchtig zurückwinkend. Es sah ganz nach Flucht aus.

Also habe er sich alleine auf die Bank gesetzt, die Arme verschränkt und die Beine gestreckt, passender Moment für eine Zwischenbilanz. Mehr als zwei Wochen war er nun hier, er habe die Besuche Revue passieren lassen, die Frau kam heute zum dritten Mal, vor drei Ta­gen war überraschend der Bruder erschienen. Sein Besuch dauerte nur kurz, es gab wenig zu sagen, von seiner Seite ohnehin nichts, aber auch der Bruder blieb merkwürdig wortkarg, die Brüder schienen nicht sehr verbunden zu sein.

Er habe versucht, die verschiedenen Gespräche wieder aus dem Gedächtnis abzurufen, schwierig, Kopfschmerzen kündigten sich sofort an. Er notiere deshalb nach jedem Gespräch sorgfältig, was er als behaltenswert erachte. Er hielt die Hand hoch, in der sich die Heftrolle gerade befand. Sich Neues zu merken erweise sich als äußerst anstrengend. Er könne das Gehörte nicht mit Bildern verknüpfen, auch nicht mit Tönen oder Gerüchen.

Das Mädchen sei gestern zum zweiten Mal gekommen, sie mochte ihren Papa und habe es ihm offen gesagt, vermutlich keine Selbstverständlichkeit bei einer Sechzehnjährigen. Sie hatte ihren schulfreien Nachmittag ge­opfert, kam mit Zug und Bus hierher, nur um ihrem Vater einen Besuch abzustatten, einem Vater, der vermutlich immer stärker mit seinen eigenen Dingen beschäftigt war als mit seiner Tochter. Er habe Nadine an der Bushaltestelle abgeholt, sie verspürte keine Lust auf einen langweiligen Spaziergang, also setzten sie sich auf die Terrasse der Klinikcafeteria und bestellten für sie einen Eisbecher und für ihn ein Bier.

Das Mädchen kicherte, du hast mich noch nie so offiziell auf ein Eis eingeladen. Dann verlegenes Schweigen. Er konnte doch unmöglich fragen, na, wie war denn dein Vater so?, und noch weniger, na, wie war ich denn so als Vater? Er habe sie die ganze Zeit aufmerksam beobachtet, ihre Gesten, die unnachahmliche Weise, wie sie die zu langen Ponysträhnen aus dem Gesicht pustete, bevor der nächste Löffel Eis in den Mund geschoben wurde, wie sehr möchte er die Bilder von früher im Kopf finden. Ein kleines Mädchen, das auf seinem Arm ein Eis am Stiel schleckt, es tropft auf seinen Ärmel. Eine klebrige kleine Hand, die sich vertrauensvoll von der sicheren Vaterhand führen lässt. Nichts. Kein Bild. Kein Gefühl. Sie beugte sich nach vorn und meinte verschwörerisch, er habe ihr ohne Wissen von Mama öfter großzügig etwas zugesteckt, wenn das Taschengeld wieder alle war.

Marty sah mich hilflos an, nicht einmal das habe er richtig einzuordnen gewusst, brauchte sie etwa Geld? Er habe ihr zwanzig Franken über den Tisch geschoben. Sie habe gestrahlt und weitergeplaudert. Als ihr irgendwann auffiel, wie wortkarg er war, habe sie geseufzt, und nun behaupte er, nichts mehr zu wissen, das verstehe sie einfach nicht.

Nachdenklich blickte Marty auf das Heft in seiner Hand, er hoffe sehr, dass ihr Vater stolz auf sie war und es ihr auch gesagt hat. Ihr hilfloser Schmerz beschäftige ihn, er habe ihr den Vater weggenommen, den sie mit sechzehn mehr denn je brauche. Nadine habe schließlich gemeint, eigentlich sei es nicht so schlecht, wenn er von ihren Dummheiten nichts mehr wisse und ihre Streiche vergessen habe, davon erzähle sie ihm bestimmt nichts. So könne sie nun alles richtig machen. Er habe geschwiegen, ihm blieb das Richtigmachen verwehrt, ohne Vorstellung, was ihr Vater früher alles falsch gemacht hatte. Auch keine Vaterschaft lässt sich weiterführen, wenn nur einer die Geschichte kennt.

Aber Nadine war rührend, so ein Gedächtnisverlust sei doch eine unglaubliche Chance, nochmals anzufangen. Diesen Satz der Sechzehnjährigen habe er sofort aufgeschrieben, sie habe ihm die Augen geöffnet. Ja, was auch immer diesen Jean-Pierre Marty früher belastet hatte, war nun einfach weggepustet. Er sei zwar ein Heimatloser in seinem eigenen Leben, aber frei.

Ich nickte, das sei ja schon eine ganze Menge. Und zum Schluss, was sich denn nun auf dem Laptop befinde?

Marty nickte, eine umfangreiche Sammlung von tagebuchartigen Dokumenten aus der Zeit in Royan, alle ohne Titel, aber mit Datum, die ersten habe er gelesen, dann einzelne herausgepickt, zudem noch ein ziemlich großes PDF, könnte ein Manuskript sein, er sei ratlos. Eher unwahrscheinlich, dass ihm die stichwortartigen und für ihn oft unverständlichen Aufzeichnungen helfen würden, die Person dieses Jean-Pierre Marty zu ver­stehen. Die Hoffnung, dass sie ihm eine Spur zu seinem verschütteten Gedächtnis öffnen könnten, zerbrösle, je mehr er davon lese. Ihm fehlten zahlreiche Fakten, um Anspielungen einordnen zu können. Denn etwas habe er in seiner anfänglichen Euphorie nicht bedacht. Die persönlichen Notizen seien nicht für das Lesen durch fremde Augen bestimmt gewesen, Marty habe mit wenigen Ausnahmen weder Hintergründe noch Fakten notiert, die kannte er ja, meist nur kryptische Eindrücke, Beobachtungen, Gefühle. Kurz, die Notizen seien für Außenstehende schwer verständlich und erwiesen sich nun für das Wiederlesen durch den Schreiber mit Gedächtnisverlust als unnütz.

Ich schüttelte den Kopf, dessen sei ich mir nicht so sicher. Es war sein letzter Satz, der mich auf die unorthodoxe Therapie brachte. Da war vor einigen Monaten ein Fachartikel zum Thema Sprache und Erinnerung erschienen, die Rolle des Erzählens beim Speichern von Erinnerungen, der mich fasziniert hatte. Ich hatte der Thematik nachgehen wollen, mangels Zeit jedoch die ­Sache ad acta gelegt. Jetzt bot sich unvermutet eine einmalige Gelegenheit. Denn, fuhr ich fort, es gebe durchaus Hoffnung. Die PET/CT-Untersuchungen der Uniklinik zeigten zwar, dass im rechten Schläfenlappen, wo die Steuerung des autobiografischen Gedächtnissystems vermutet wird, der Stoffwechsel praktisch inaktiv sei, obwohl bei ihm keine Gewebeschädigung vorliege. Es gebe verschiedene Gründe, weshalb die biochemischen Austauschprozesse in dieser Gehirnregion gestört sein könnten, zum Beispiel Ausschüttung eines blockierenden Stresshormons. Das sei durchaus beeinflussbar. Ich würde ihm nun eine ungewöhnliche Behandlungsmethode vorschlagen, die ich wissenschaftlich begleiten wolle.

Dazu müsse ich etwas ausholen. Der Mensch kenne mittels eines ordnenden Gedächtnisses seine Vergangenheit, er habe eine mentale Vorstellung, wer er in der Ge­genwart ist, und weil der Mensch auch wisse, dass er unaufhörlich auf seinen Tod zugehe, verhülle das menschliche Bewusstsein dieses unerträgliche Wissen mit Zukunftsplänen. Kurz, der Mensch könne kraft seines Bewusstseins seine eigene Geschichte erzählen, gestalten und planen.

Marty folgte mir stirnrunzelnd.

Ihm sei momentan durch eine Blockade der Zugang zu seiner Vergangenheit verwehrt, damit die Grundlage der gegenwärtigen Identität entzogen und die Imagi­na­tion für Zukunftsplanung verunmöglicht. Auf der andern Seite liege ihm außergewöhnlich viel sprachliches Material in Form von eigenen Tagebuchnotizen vor, die ihm zurzeit fremd und unverständlich erschienen, aber eine einmalige Chance darstellten, zumindest die fehlende Vergangenheit der letzten Monate mittels Sprache wieder Wirklichkeit werden zu lassen.

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