Kitabı oku: «Blindgänger», sayfa 4

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Das Telefon in der Hosentasche piepst kurz, SMS von Nadine, französischtest sosolala. wann kommst du zurück.

Er ist augenblicklich empört, was soll das. Jahrelan­ge Vatererfahrung ermöglicht ihm, sosolala sofort mit ungenügend zu übersetzen. Es ist hart, eigentlich kaum zu ertragen, dass die Tochter des Französischlehrers ei­ne Niete in Französisch ist. Er starrt auf das Telefon in seiner Hand, der Ärger verdrängt augenblicklich die Gedanken, die tausend Kilometer zwischen ihnen nützen nichts. Das Gymnasium ist eine permanente Streitquelle zwischen Vater und Tochter, sein langjähriger Arbeitsort und für ein paar Jahre die Schule von Nadine. Vielleicht, sie schlingert ständig knapp an der Grenze zur Nichtbeförderung in die nächste Klasse. Am meisten wurmt JP das heuchlerische Verständnis der Lehrerkollegen.

Tief durchatmen, ruhig bleiben, Urlaub ist auch Waf­fenruhe, kein Kommentar zum Französischtest. Er tippt ungelenk, bleibe 3 monate, das weißt du doch! du kommst mit mama mitte juli hier nach r, sommerferien.

Ihre Antwort kommt postwendend: r??

Ruhig bleiben, aufregen lohnt sich nicht, die Tochter hört immer erst zu, wenn ihr die Folgen nicht passen. royan, westküste frankreich, antwortet er kurz.

Diesmal dauert es einige Minuten mit ihrer Antwort: weiß noch nicht ob ich mitkomme.

Jetzt ist er stocksauer, die Ferienpläne haben sie ausführlich diskutiert und familiendemokratisch festgelegt. Er schaltet das Telefon aus.

Und jetzt wohin? Das kurze Intermezzo mit der Tochter hat ihm die Stimmung zerstört, die häuslichen Spannungen sprühen Funken in seinen Gedanken. Der stehengebliebene JP ist ein Hindernis im Passantenstrom und wird ständig angerempelt. Schon wieder schubst ihn jemand, zieht ihn am Arm. Lachend steht Gracia hinter ihm, die Kollegin aus Valencia, neben ihr hat er heute Morgen im Kurs gesessen, sie ist die temperamentvollste der kleinen Gruppe. Er strahlt, welch reizender Zufall, er ist hocherfreut über die Ablenkung. Sie setzen sich in ein Café an der frischen Luft zwischen den beiden Gebäudehälften des Front de Mer.

Was sie davon halte? Er macht eine ausholende Geste, die alles um sie herum einschließt, natürlich sprechen sie Französisch. Aufregend, Gracia ist beeindruckt von der riesigen Anlage, ihre Begeisterung erstaunt ihn, ihm kommt typisch schweizerisch nur Kritik in den Sinn. Er blättert in ihrem Führer und findet tatsächlich alte Fotos des Front de Mer kurz nach der Fertigstellung Ende der Fünfzigerjahre, damals eine elegante offene Galerienpromenade. Und heute alle Arkaden verschandelt mit Vorbauten und billigem Touristenkommerz.

Gracia sieht ihn verständnislos an, das Gewimmel störe sie nicht, im Gegenteil, alles wunderbar. Zu gern lässt er sich von ihrem Enthusiasmus anstecken. Man plaudert über die jeweiligen Unterkünfte. Gracia mietet ein Zimmer bei einem älteren, charmanten Ehepaar, ganz in der Nähe, ein ruhiges Quartier hinter der Kirche, mit Frühstück und wenn sie wolle, pension complète, aber zwei warme Mahlzeiten am Tag schaffe sie nicht, wieder lacht sie hell, sie wäre noch vor Ende des Kurses kugelrund.

Ein leichter Wind vom Meer schiebt regelmäßig Wolken vor die Sonne, wenn sie sich zeigt, brennt sie sofort, die Sonnenbrille ist in Gegenwart von Gracia angebracht, bei der Spanierin ist sie ohnehin fester Körperbestandteil, wenn nicht auf der Nase, dann im Haar. Gracia wedelt sich mit der Getränkekarte Luft über die erhitzten Wangen, bei uns haben sie angekündigt, dass 2003 ein Jahrhundertsommer werde. Selbst sie als Spanierin stöhnt, jetzt schon Hochsommerhitze, wie wird das bloß im Juli. Er hat seinen Stuhl längst unter den Sonnenschirm gezogen, keine Chance, mit der Südländerin in der brütenden Sonne mitzuhalten.

Seine schlechte Laune ist weggeblasen. Die Aufmerksamkeit eines attraktiven weiblichen Wesens genügt, und es liegt Übermut in der Luft. Man tratscht über dies und jenes, die Kollegen im Kurs, Lehrererlebnisse von zu Hause, und meint ganz anderes. Er fragt sich, wie lange das Kaffeetrinken schicklicherweise dauern darf. Ihr auf keinen Fall lästig werden. Verstohlen blickt er auf die Uhr, beinahe vier Uhr, der halbe Nachmittag wäre geschafft. Er zögert den Aufbruch hinaus, der Tag ist noch lang, es drohen einige leere Stunden.

Irgendwann kommt der unvermeidliche Moment, Gra­cia hat Besorgungen zu erledigen, er hat ebenfalls noch einiges auf der Liste, zum Beispiel Internetcafé. Ach, es eilt ja nicht mit seinen Recherchen. Gerade ist das Leben licht und heiter. Sie stehen auf, Küsschen auf die Wange links rechts, zwei oder drei oder vier, das ist offensichtlich landesspezifisch, ein kurzer Augenblick neckischer Verwirrung, bereits vertraut und leicht verlegen trennt man sich. Beschwingt schreitet er mit ausholenden Schritten über die Promenade Richtung Meer. Mannomann, seit Jahren nicht mehr so als Kerl gefühlt. Das erhoffte neue Leben beginnt.

Ein Uhr nachts, Fenster weit offen, ein kräftiger warmer Wind rauscht, Tauben gurren verschlafen in den Pinien, wieder dieses Knacken in der Zimmerdecke, woher bloß bei einem Betonbau aus den Fünfzigern. Geräusche voller Magie. Schwerelos, weit, alles ist leicht. Es wird gelingen. Nennt man einen solchen Zustand glücklich? Er weiß es nicht, seit Jahren nicht mehr gespürt.

Erst zwei Tage ist es her, seit er kurz vor Mitternacht, erschöpft von der zwölfstündigen Bahnfahrt, in Royan angekommen ist und erwartungsfreudig die Wohnungstür geöffnet hat, der Schlüssel lag wie vereinbart, und wie hätte es anders sein können, unter der Fußmatte. Die Unterkunft ist günstig, sie befindet sich in einem der typischen zweistöckigen Immeubles aus den Fünfzigern und sie hat ihm, dem ironischen Romantiker, auf Anhieb gefallen.

Die Wohnung könnte glatt als Mustereinrichtung für die Fünfzigerjahre in einem Museum stehen. Die Stube füllen ein Esstisch, wichtigstes Möbelstück in einer französischen Wohnung, und ein mächtig geschwungenes Buffet. In einer Ecke wartet ein Lehnstuhl mit Spitzendeckchen dort, wo der Kopf mit schuppigem Haar an­zulehnen pflegt, ausgerichtet auf den Servierwagen mit dem Fernseher drauf, er zweifelt, ob das Ungetüm bereits Farben kennt. Ein abgewetztes Perserimitat deckt schonend das hübsche alte Parkett aus schmalen Eichenbrettchen. Die Tapeten mit ihrem geometrischen Design in Braunorange und Grün sind vermutlich in den frühen Siebzigern zum letzten Mal erneuert worden.

Sorgfältig über die Wohnung verteilt hängen Kunstdrucke, Monets Seerosenteich, van Goghs Sonnenblumen, Rosenbilder, zwei düstere Stillleben und ein echtes Ölbild mit flammendem Sonnenuntergang hinter schwarzer Kirch­turmsilhouette und schwankenden Schiffsmas­ten davor. Ohne Zweifel Royan, gemalt von einem lokalen Hobbykünstler. Die kleinen Schlafzimmer vollgestopft je mit einem dunklen Eichenschrank voller rustikaler Schnitzereien, die sich an Bettstatt und Nachttischchen wiederholen. Zweifel haben ihn beim Anblick der soge­nannten französischen Betten beschlichen, je eins in je­dem Schlafzimmer und kaum breiter als eins dreißig, unvorstellbar, zu zweit darin zu schlafen.

Wie nicht anders zu erwarten, hat er dann auch miserabel geschlafen, die müden Sprungfedern im Bettrost gaben unter seinem Gewicht nach und ließen ihn in ei­ner tiefen Kuhle liegen, jede Spirale unter der dünnen Matratze drückte wahlweise in den Rücken oder in die Rippen. Aber er verfügt ja über Auswahl. Gestern Nacht hat er das zweite Bett getestet und sich, da leicht weniger gerädert heute Morgen, in diesem Zimmer häuslich eingerichtet. Er hat bis Mitte Juli Zeit, das Bettproblem zu lösen, dann kommen Frau und Tochter.

Mager, was er bisher unternommen hat. Heute Abend erstmals im Cybercafé, wie sich das Internetcafé hier nennt, erst vor kurzem eröffnet. Alles voll, er hat eine Ewigkeit auf einen freien Computer gewartet, dann hat er Glück angesichts der knappen Zeit, um Mitternacht schließen die das Café. Er will für die Resultate der Recherchen eigene Dateien anlegen, je eine Datei zu den vier Anhaltspunkten. Raus damit aus dem persönlichen Journal. Man weiß nie.

Datei «Monogramm», 8. Mai 2003, unverändert übernommen

Webseite gefunden, irgendwas mit Genealogie, mit häufigsten Familiennamen nach Departementen. Monogramm GQ, Fami­liennamen mit Q zum Glück selten, in der Charente gibt es:

Quichaud (der häufigste von allen Q-Namen, weiterverfolgen?)

Quatravaux

Quemerais

Quenton

Queraux

Quet

Quintard

Querrec (bretonische Endung, nicht verfolgen)

Quilhac (typische Endung Namen aus Südwesten, eher nicht).

Gestickte Monogramme auf Wäsche gehörten zur Aussteuer der Frauen, also Familie meiner Mutter? Und wenn jemand das gerettete Baby während der Flucht in eine irgendwo gefundene Kissenhülle gesteckt hatte, eine Art Schlafsack? Das Monogramm ein völliger Zufall? Damit wäre das einzige konkrete Indiz weg …

So geht das nicht. Wenn ich bei jedem Ergebnis den Zufall ins Spiel bringe, ist das Vorhaben sinnlos und die Probabilität gleich null. Ab jetzt gilt die Devise: allfällige Funde sind Schicksal und keineswegs Zufall. Also immer mit der Variante weiterfahren, mit der es eine Chance gibt, weiteres zu finden, egal wie plausibel. Aus Sicht Logik, Rationalität, Wissenschaftlichkeit vermutlich eine absurde Strategie (wie der Mann, der seinen verlorenen Hausschlüssel unter der Straßenlaterne sucht, weil er nur dort etwas sieht). Aber die einzige, die mir bleibt. Statistisch gibt es eine errechenbare Wahrscheinlichkeit, dass der Schlüssel im Lichtschein der Laterne liegt. Also: unwahrscheinlich ist ab jetzt tabu.

Royan, Sonntag, 11. Mai 2003

Ein erstes komplettes Wochenende in Royan hat JP ei­nigermaßen überstanden, trotz Unvorhergesehenem, Zeit für Bilanz. Warum schreibt er all dieses Zeug eigent­lich auf? Um später, zu Hause, diese Einmaligkeit der «ersten Male» wieder nachzuvollziehen. Sie sind anfänglich intensiv und verschwinden mit der Gewöhnung in die Nichtmehrwahrnehmbarkeit. Wie dicht die Zeit ist, wenn alles ungewohnt ist. Die Erinnerung festigen mit Schreiben. Sie willentlich formen. Selber entscheiden, wie und woran er sich erinnert, er überlässt das nicht der Willkür, um nicht zu sagen der Unzuverlässigkeit des Ge­dächtnisses.

Seit er hier in Royan ist, laufen im Kopf zwei Filme ab. Aber die Spulen rollen gegeneinander. Der eine Film nimmt das Neue auf und fließt ins Gedächtnis. Der andere bringt von dort ständig unerwünschte Szenen hoch, Ereignisse der letzten Wochen zu Hause, die hier nichts zu suchen haben. Gallige Blasen, die in Momenten, wo seine Wachsamkeit abgelenkt ist, aus der Brühe steigen und seine Stimmung vergiften. Wie könne er bloß die gut gelaunte Gesellschaft, die Ferienstimmung und herr­li­che Sommersonne am Strand genießen, während sie ne­ben dem Arbeitsstress noch Haus, Garten und die letzten Erziehungsversuche der Tochter am Hals habe. Annets spitze Bemerkungen beim gestrigen Telefonat zeigen wie immer die beabsichtigte Wirkung, sie weiß treffsicher, was sie nur anzudeuten braucht, damit die Mühle seiner Schuldgefühle sich dreht. Auch hier schafft sie es, ihn via schlechtes Gewissen fernzusteuern, eine Marionette ist er.

Sonntagmorgen. Missmutig hockt er auf dem Küchenstuhl, ihm fehlt die Lust auf Filterkaffee, die Baguette von gestern ist ungenießbar, er zerbröselt das ausgetrocknete Stück Brot. Der Rücken fühlt sich wieder ganz steif an, er hat eine miserable Nacht hinter sich. Um vier rumpelte die städtische Müllabfuhr während mindestens einer halben Stunde, so kam es ihm vor, all die Plastikcontai­ner von den Hauseingängen zum Müllwagen und wieder zurück. Nachher lag er hellwach.

Er leidet unter Schlaflosigkeit, seit er sich erinnern kann. Er hat viele Taktiken entwickelt: eine ziemlich erfolgreiche ist, sich nicht zu rühren, sich schlafend stellen. Heute Morgen gelang es beinahe, der Schlaf ließ sich täuschen, kam heran, ganz nahe. Zum Greifen. Dabei war­tete der nur, bis er wieder eine unüberlegte Bewegung machte. Hellwach. Wütend. Das sind die gefährlichen Mo­mente, wo die Giftblasen aufsteigen.

Szenen der Lehrerkonferenz kurz vor seiner Abreise, Ärger und Resignation wirbeln durcheinander, aus diesem Karussell kann man nicht herausspringen. Heute fragt er sich, weshalb er nur hingegangen ist, sein Ur­laub hatte mit den Frühlingsferien begonnen, seine Teilnahme war keineswegs notwendig. Scheißpflichtgefühl. Ist ja bekannt, dass Perfektionisten ihr fehlendes Selbstwertgefühl mit Kontrolle kompensieren. Trotzdem ist er unfähig loszulassen.

Diese provokativen jungen Kollegen mit ihrer penetranten Energie für Verbesserungen, ihrem Glauben an die Veränderbarkeit des Systems. Die Lehrerschaft ist seit Längerem in zwei Lager geteilt, die Jungen gegen die Ge­lassenen, die nicht daran denken, jede behördlich verord­nete Reform gleich umzusetzen, eine inflationäre Menge in den vergangenen Jahren, man kann sie auch aussitzen. Seine Parole. Pech ist, dass seine Schule als sogenanntes Reformgymnasium auserwählt wurde, Testgelände für Schulversuche, bevor sie kantonsweit eingeführt oder stillschweigend abgeblasen werden.

Doch der Sarkasmus einiger ausgebrannter Kollegen stößt ihn ab. Aufpassen muss er, höllisch aufpassen, denn er befindet sich selber schon bedrohlich nahe am Hang der Abgelöschten. Er wankte in den letzten Monaten meist nur noch zwischen Lethargie und Gereiztheit. Jedes Jahr kommt unweigerlich ein August und fängt wieder ein Schuljahr an, mit neuen und immer gleichen Schülern, und nirgendwo Lebendiges in Sicht oder wenigstens ein kleines Erdbeben. Nur diese Auszeit kann dich retten. Doch auch dieses Jahr wird ein August unwei­gerlich den langen Urlaub beenden. Und das Schlimmste wäre, wenn sich nichts geändert hätte.

Er hält es nicht mehr aus im Bett. Wie kann man sein Gehirn leeren, die Gedanken löschen, an nichts denken? Das kann keiner. Auch die heiße Dusche hilft nicht, lange hat er die Wärme über seinen Körper rieseln lassen, doch miese Laune ist wasserdicht.

Wütend knallt er die Baguette von gestern in den Abfallkübel, die Wippe der Öffnung überschlägt sich. Er steht vor der geöffneten Kühlschranktür, auch dort eisige Leere, also nicht nur Kaffee, sondern Frühstück in einem Café.

Als er fünf Minuten später auf dem roten Platz zwischen dem Front de Mer und dem Boulevard Aristide Briand ankommt, bemerkt er erleichtert die belebten Straßen, in der Ferne vor der Markthalle sogar dichte Menschenmengen, Sonntagmorgen ist ja alles geöffnet, das hilft ungemein. Er setzt sich in das gleiche Café, in dem er mit Gracia war. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und sucht die vertrauten Orte. Er könnte ja regel­mäßig hier sein Frühstück einnehmen, das gäbe seinem Alltag einen Rhythmus. Er blickt sich um, ein Fensterplatz wird gerade frei, er bestellt Espresso und Croissants und packt seine Zeitung aus. Da fährt einer tausend Kilometer gegen Westen, um dem Alltagstrott zu entfliehen, und was macht er als erstes, er schafft sofort wieder eine Routine. Sie hilft gegen seine niedergedrückte Stimmung.

Aber er mag nicht lesen, starrt auf die Schlagzeilen. Wie geht es mit Annet weiter, er fühlt sich ratloser denn je. Der Kellner stellt Café und zwei Croissants vor ihn auf das Tischchen. War der Abend vor seiner Abreise eine Versöhnung oder die Besiegelung einer Tatsache, die sie beide noch leugnen? Vorsicht, das wird wieder eine Giftblase. Es lag wohl auf der Hand, dass er vor der langen Trennung mit seiner Frau schlafen wollte, bei ihm staute sich ausreichend körperliches Bedürfnis, seit einer halben Ewigkeit keinerlei Aktivitäten, auch kein Alleingang. Und so ist es geschehen, sie haben sich geliebt oder vielmehr, sie hatten ehelichen Geschlechtsverkehr, und der ist sogar ziemlich gut gewesen. Wenn er mit den rar gewordenen Kontakten davor vergleicht. Annet nachgiebig, beinahe ein Anflug von Leidenschaft, wie er sie sich wünscht, keine Missverständnisse, beide kennen sie die Regeln und die Reaktionen des andern, wissen, wo die Sackgassen liegen. Alles eingeschliffen und über die Jahre geglättet. Das ist auch gut so. Kein Bedürfnis nach neuen Praktiken und Unruhe, nicht mit der Frau.

Der Kellner will wissen, ob er noch was wünsche, er schüttelt unwillig den Kopf, sitzt er etwa schon zu lange hier? Er ist überzeugt, kein schlechter Liebhaber zu sein. Seit physische Entspannung nicht mehr so drängt, ist er aufmerksamer, ob sie auch wirklich will, und gelassener, wenn er ihre Ablehnung spürt. Verloren aber auch die Verführungsenergie. Annets Ausweichen wird zu ihrer beider Gewohnheit, reizt sein Begehren nicht mehr.

JP bestellt doch noch einen Kaffee, jetzt beginnt die Zeit der schonungslosen Ehrlichkeit. Er ist keineswegs unglücklich, von der Frau in dieser Hinsicht nicht mehr gefordert zu werden. Offen gestanden, sogar erleichtert, dass sie ihn in Ruhe lässt. Ist sexuelle Unlust der Anfang vom Ende? JP blickt, er merkt es nicht, einer jungen Frau nach, die zwischen den Tischen Richtung Bar balanciert. Er ist wie so viele seiner männlichen Artgenossen überzeugt, sich gegen Verführungen im Griff zu haben. Nein, die Möglichkeit eines amourösen Abenteuers war bei der Planung des Urlaubs nie ein Hintergedanke, wirklich nie.

Und seine Frau? Vielleicht ist Annet sehr wohl für die Aufmerksamkeit eines fremden Mannes anfällig. Wenn er erst mal aus ihrem Blickfeld ist. Er schluckt, keine Lust, darüber nachzudenken. Gereizt zieht er sein Porte­monnaie aus der Hosentasche, der Kaffee inzwischen kalt, auch die Zeitung heute unglaublich langweilig.

Er legt die Münzen ins Tellerchen mit der Quittung, steht auf und tritt auf den Platz hinaus, schon beinahe elf, wieder das grelle Grau, die Wolken werden sich bald auflösen, er spaziert mit der Menge Richtung Markthalle. Dort herrscht reges Treiben, vorwiegend älteres Pub­likum. Zahlreiche Zweitwohnungsbesitzer sind übers Wochenende angereist, man trifft sich, bleibt stehen, ­be­­­­vorzugt dort, wo der Durchgang eh schon eng ist. JP drückt sich unwillig an den plaudernden Hindernissen vorbei. Nerv dich nicht, du hast Zeit, er schlendert zu den farbenfrohen Gemüsen und Früchten, duftenden Erdbeeren, Spargeln, ersten Artischocken aus der Bre­tagne, frischen sandigen Karotten, Frühlingszwiebeln, Bergen von Salaten, das meiste aus der Region. Annet wird begeistert sein.

JP tritt durch einen der Bögen in die Markthalle und ist auf Anhieb fasziniert, tatsächlich eine Muschel, über ihm wölbt sich ein gigantisches rundes Betondach mit gewellten Rändern, die an dreizehn Punkten auf dem Bo­den aufsetzen und das Ganze tragen, ohne jegliche Innenstütze. Am höchsten Punkt im Dach sind Glasziegel in den Beton eingelassen, von denen sternförmig Licht in die Halle strömt und ihr etwas Magisches verleiht.

Eindrücklich, nicht wahr? Die Frau lacht hell, sie ist unbemerkt neben JP getreten, während er in die Höhe staunt. Françoise. Sie schaut ebenfalls hoch, erklärt ihm, die Markthalle sei das einzige Gebäude aus der Reconstruction in den Fünfzigern, das von allen Leuten mit Begeisterung aufgenommen wurde, im Gegensatz zu den andern Bauten, insbesondere der Kirche, da bekämpften sich über Jahre die Lager der enthusiastischen Befürwor­ter und der vehementen Gegner.

JP überfällt augenblicklich ein unangenehmer Zustand, zwischen Aufregung und Schüchternheit, eines Schuljungen. Aus Verlegenheit, ihm fällt partout nichts Gescheiteres ein, und er möchte um alles in der Welt verhindern, dass sie gleich weitergeht, bittet er Françoi­se um Tipps einer Einheimischen, wer der beste Metzger sei. Warum bist du bloß so trottelig, es gibt keinen Grund.

Sie führt ihn zu Maître Boucher Gérard, alles Tiere aus der Region, hier geschlachtet und von Maître Gérard selbst verarbeitet, sie empfiehlt ihren Kursteilnehmer aus der Schweiz dem Metzgermeister, nur das Beste vom Besten bitte. Das bringt ihn vollends aus der Fassung, hastig kauft er ein gewichtiges Stück Rinderfilet, eine ganze Kalbshaxe und eine riesige Côte de ­bœuf, ausreichend für drei Personen. Unmöglich, sich nach dieser zuvorkommenden Einführung durch Françoise einfach mit einem Schnitzelchen zu begnügen, er übersieht ihren verwunderten Blick, hofft inständig, dass es im Kühlschrank ein Gefrierfach gibt.

Françoise hat bereits den Großteil ihrer Einkäufe er­ledigt, er will noch ein paar Austern kaufen, schließlich sei hier die Hochburg der Austernproduktion. Beide Hände hat er schwer behangen mit Plastiktüten in allen Farben, als Françoise vorschlägt, gemeinsam den Aperitif zu nehmen. JP ist mehr als einverstanden, unbedingt den köstlichen Augenblick in die Länge ziehen. Er hat sie nicht einzuladen gewagt, will auf keinen Fall aufdringlich sein.

Sie finden im Café an der Ecke des Boulevard Briand mit Glück ein freies Tischchen, draußen, nun scheint tatsächlich die Sonne, langsam weiß er die Entwicklung des Wetters einzuschätzen. JP hat allerdings in der halben Stunde, in der sie dort sitzen und an ihrem Pastis respektive Kir nippen, nicht sehr viel von der Dame an seiner Seite. Ständig gehen Leute vorbei, die sie kennt, manchmal nur ein flüchtiger Gruß mit der Hand, bei andern steht sie auf, mal zwei Küsschen links rechts, mal vier, er kann beim besten Willen keine Regel ableiten, meist plaudert sie kurz, setzt sich wieder und entschuldigt sich. Kein Problem, wehrt er ab. Was geht dich ihr Privatleben an. Aber sie kennt entschieden eine Menge Leute hier, ein bisschen zu viele, und die meisten Männer in den sogenannt besten Jahren, wie er festzustellen gezwungen ist.

Sie fragt nach seinen Plänen für den Nachmittag, er lacht gegen die hartnäckige Verlegenheit, natürlich für den Kurs arbeiten, das höre sie als Lehrerin sicher gern. Sie rät ihm, angesichts des herrlichen Wetters lieber der Küste entlang nach Pontaillac zu spazieren, knapp zwei Kilometer und sehr abwechslungsreich.

Er seufzt, eigentlich sollte er dringend seine Mails lesen, ob es in Royan noch weitere Cybercafés gebe.

Leider nicht, wir sind hier nicht in Paris. Auch sie lacht und bietet ihm an, er könne von Zeit zu Zeit bei ihr zu Hause vorbeikommen und ihren Internetanschluss nutzen. Hat er richtig gehört, ist das nur Höflichkeit oder meint sie es ernst? Er ist vorsichtig, aber sie schreibt ihm gerade die Adresse auf die Rückseite der Quittung, Boulevard de Cordouan, und kreuzt auf dem Stadtplan, den der Schweizer immer bei sich hat, ihr Haus an.

Schon Viertel nach eins, sie ist noch mit Bekannten zum Mittagessen verabredet. Zudem, Françoise steht auf, müssten sie sich unbedingt mal über die Besatzungszeit unterhalten, sie habe wie gesagt ein ganzes Regal voller Material dazu, da dürfe er sich gerne bedienen. Sie könne ihm, wenn er Lust habe, auch ein paar Orte an der Küste mit gut erhaltenen Überresten des Atlantikwalls zeigen.

Und ob er Lust hat. Ein Küsschen links, ein Küsschen rechts, die Luft zwischen ihnen vibriert, wenn du nur die Regel kennen würdest. Weg ist sie.

JP bleibt noch eine lange Weile sitzen. Er hat keine Eile, ihn erwartet niemand. Die Verlorenheit schleicht von hinten heran, wie üblich. Sonntagnachmittage allein sind am allerschlimmsten. Die Tische haben sich geleert, alle Leute sitzen mit jemandem beim Mittagessen, du harrst als einziger der Dinge, die nicht kommen, trotzig bestellt er ein Bier, verspürt keinen Hunger. Auf dem Platz vor der Markthalle verstauen die letzten Markt­fah­rer die letzten Kleiderständer, knallen die Türen ihrer Lieferwagen zu, verabschieden sich mit kumpelhaften und für ihn unverständlichen Zurufen, man kennt sich, und die Geschäfte sind gut gelaufen. Auf der andern Seite beginnt der Reinigungswagen der städtischen Werke den Platz abzuspritzen.

Seine Finger spielen mit der Quittung, zerknüllen sie, Recherche steht auf dem Programm. Diese Suche ist doch einfach hirnrissig. Aber es gibt kein Zurück, Wissen lässt sich nicht mehr in Nichtwissen verharmlosen, schlimmer noch, wenn es nur Halbwissen ist. Vier windige Anhaltspunkte, von denen keiner faktisch verbürgt ist. Nichtsdestotrotz wuchert es in seinem Kopf als wildes Geschwür, seine Familie finden, endlich wissen, woher er stammt, vielleicht gibt es Brüder, Schwestern,

ein Haus. Heimat. Hirngespinste, Möglichkeiten, Wahr­schein­lichkeiten oder Gewissheit.

JP lehnt sich zurück, es ist erstickend schwül. So oder so, ihm bleibt keine Wahl, er hat Blut geleckt, muss die Sache jetzt ein für alle Mal klären. Und das Ergebnis in jedem Fall annehmen. Falls er etwas findet, das ihm nicht passt, und ebenso, falls er nichts findet. Im Klartext: endlich seine Biografie mit der Leere hinter der Geburt akzeptieren. Sie nicht mehr als willkommene Ausrede für seine Schwächen missbrauchen. Du selbst bist für deine Persönlichkeit und alles, was dir daran nicht gefällt, verantwortlich und nicht unbekannte Gene.

Der Lärm des Reinigungswagens entfernt sich, schon erobert das erste Auto die freigegebenen Parkfelder. Das Bier inzwischen lau, die Quittungskugel rollt unaufhörlich zwischen den Fingern, steinhart. Flirrende Mittagsstille legt sich über den gefegten Platz, er bleibt als einziger Gast zurück.

Als er am Nachmittag nach Pontaillac spaziert, er hat beschlossen, den Rat von Françoise zu befolgen, kommt er am Museum von Royan vorbei, das zur Zeit noch in einem Nebengebäude des Rathauses untergebracht ist, und entscheidet sich kurzerhand für einen Besuch als beste Ablenkung. Am Eingang liest er, dass die Fotos und Objektsammlungen zur Geschichte von Royan Ende Jahr in die ehemalige Markthalle von Pontaillac, die gerade umgebaut wird, verlegt werden.

«Die Apokalypse vom 5. Januar 1945

Angeführt von leichteren Mosquito-Bombern, die mittels Leuchtraketen das zu treffende Stadtgebiet mar­kierten, griff die erste Welle von 217 viermotorigen Lan­cas­terbombern der RAF von 4 bis 4.15 Uhr an. Die Be­­­woh­ner erlebten unter dem Bombenhagel einen apo­ka­lyp­tischen Albtraum, in dem ihre Welt unterging, aber es gab wenig Opfer. Sobald die Bombardierung aufhörte, rannten die Überlebenden hinaus, in die Nacht, in den Schnee, in die eisige Kälte, an die zehn Grad unter Null in jener Nacht, zu den Sanitätsposten. Da griff eine weitere Welle von 124 Bombern von 5.28 bis 5.43 Uhr an, diesmal absichtlich tödlich mit 2-Tonnen-Bomben. Nach dieser zweiten Welle war die Stadt, bisher noch einigermaßen intakt, dem Erdboden gleichgemacht. Royan gab es nicht mehr. Ein Fünftel der 2223 noch in Royan aus­har­renden Bewohner, 442 Personen, wurden getötet, da­zu kamen 300 bis 400 Verwundete. Die Deutschen hingegen hatten weniger als 40 Mann verloren.»

Royan, der elegante Badeort der Belle Époque, war nach der absurden Bombardierung ein desolates Ruinenfeld. Man kennt solche Bilder aus Deutschland. JP war nicht bewusst, dass Frankreich nach Deutschland das am stärksten zerstörte Land Europas war, wohlverstanden von den Alliierten bombardiert. Insgesamt über 140 000 Opfer der Bombardierungen, gemäß eigenen Schätzungen der Alliierten, genau 67 178 tote und 75 660 verwundete Franzosen, alles Zivilbevölkerung. Städte wie Caen, Vire, Saint-Malo, Brest, Le Havre, Lorient, Saint-Nazaire wurden dem Erdboden gleichgemacht, Nantes, Rennes, Rouen teilweise zerbombt. Massive zerstörerische und wiederholte Bombenangriffe mit Tausenden von Zivilopfern auf Paris und Region (Boulogne-Billancourt, Noisy-le-Sec, Le Bourget, Courbevoie und Asnières, Juvisy, Versailles und mehrfach wahllos die Banlieue), ebenso auf Städte wie Bordeaux, Nîmes, Toulon, Marseille, Nizza, Avignon, Saint-Étienne, Lyon, Grenoble, Chambéry, Poi­tiers, Angers, Tours, Orléans, Strasbourg, Amiens, Lille, um nur die größten aufzuzählen. Hier in der näheren Umgebung im Juni 1944 Angoulême und Saintes.

Alles muss er wissen über die Bombardierungen, welche Orte wurden nach der Landung der Alliierten im Mai 1944 noch zerstört, die Bombardierungen der französischen Städte hörten keineswegs auf, im Gegenteil. Diejenigen, die als Befreier in die Nachkriegsgeschichte eingingen, haben Frankreich als Land der Achsenmächte betrachtet. Zivile Kollateralschäden sind anfänglich als Zielungenauigkeiten, weil sehr hohe Flughöhe, entschuldigt worden, nachher wurde die gezielte Bombardierung der Zivilbevölkerung aber offen zugegeben, alle Franzosen waren in ihren Augen Kollaborateure. Er liest jede der ausführlichen Legenden.

Die deutsche Wehrmacht hat sich am Schluss des Krie­ges in den Befestigungen des Atlantikwalls verschanzt, dabei war das Hinterland größtenteils schon befreit, so entstanden die sogenannten poches, von de­nen auch Royan eine war. Die Bevölkerung der Stadt, da­mals noch etwas mehr als zweitausend Personen, war seit September 1944 mit den über sechstausend Mann der deutschen Besatzung in ihrer eigenen Stadt eingeschlossen, belagert von den französischen Befreiungstruppen.

Die Bombardierung der Stadt im Januar 1945, mili­tä­risch völlig unsinnig, wurde später mit einem Miss­verständnis in der Kommunikation zwischen dem fran­zösischen Generalstab und der alliierten Luftwaffe RAF entschuldigt, es waren britische und kanadische Bomber. Beide Seiten verteidigten später eine andere Ver­sion, die entsprechenden Dokumente wurden bis in die Neunzigerjahre unter Verschluss gehalten. Der fran­zösische Generalstab hatte massive Bombardierungen von Royan gefordert, man sicherte den Alliierten zu, dass die französische Zivilbevölkerung bis zum 15. Dezember evakuiert sei, was völlig unrealistisch war und auch nicht geschah. Warum dies die Alliierten nicht wussten und warum die französische Militärführung nicht rechtzeitig über den genauen Zeitpunkt der Bombardierung informiert worden war, ist bis heute offiziell nicht geklärt und wird es auch nie sein.

Eine Museumsangestellte, auf den intensiven Leser aufmerksam geworden, raunt JP zu, obwohl er der einzige Besucher ist, sie verfügten auch über eine kleine Bibliothek mit Fachbüchern zum Zweiten Weltkrieg in Royan, er dürfe sie gerne konsultieren. Er bedankt sich höflich. Eigentlich möchte er nur wissen, wo Ende März 1945 in der Gegend noch Bomben fielen. Nämlich nach seiner Geburt, sagt er ihr nicht. Sie flüstert weiter, ihres Wissens nur noch in Royan, aber zu dem Zeitpunkt sei kein Mensch mehr hier gewesen, alle evakuiert, sie zeigt ihm die Fotos.

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