Kitabı oku: «Blindgänger», sayfa 3

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Mein Vorschlag: Er solle die Journaltexte auf dem Laptop als Stoff, als Material für seine Wunschvergangenheit betrachten. Er solle sich das dort Erzählte aneig­nen und so umformulieren, dass es seine Aufzeichnungen würden. Er dürfe hemmungslos eingreifen, weglassen, erfinden. Fabulieren solle er, fantasieren, erdichten, die Gedanken im Journal zu seinen eigenen machen, die No­tizen der drei Monate in Frankreich neu schreiben, sodass es seine Geschichte werde.

Marty starrte mich zweifelnd an, und wie das mit der Wahrheit sei? Wie es wirklich war?

Kein Problem, ich persönlich würde ihn von der moralischen Wahrheitspflicht entbinden. Als Bestätigung un­terstrich ich die Vergabe meiner therapeutischen Lizenz zum Lügen noch mit einer wegwerfenden Geste. Was in den vorliegenden Aufzeichnungen stehe, stelle bloß eine Wahrheit dar. Er sei frei für andere Wahrheiten. Übrigens, was das Gedächtnis als Erinnerung darstelle, wenn wir etwas Vergangenes erzählen, habe weder mit realen Erlebnissen noch mit Wahrheit etwas zu tun. Es präsentiere eine Version, die zum aktuellen Zeitpunkt ge­­rade die passendste sei. Erinnerungen sind immer Fiktionen, die wir laufend anpassen und neu erzählen. Sie haben ein neues Ich, aber keine Vergangenheit dazu? Dann erfinden Sie sie.

Aha, ich würde also nicht beabsichtigen, die Gedächtnisblockade mit Gedächtnistraining zu therapieren. Ich wolle seine Blockade oder vielmehr ihn überlisten, via Hintertür des Wunschdenkens und Neuerfindens die tatsächlichen Erinnerungen zu provozieren. Ja, das Spiel gefalle ihm, obwohl er selbst der Proband sei. Er nickte, einverstanden.

Zwei Tage später bat er einen Pfleger, mich rufen zu lassen, es hätten sich neue Erkenntnisse ergeben, über die er mit mir vor unserer nächsten Sitzung sprechen müsse, es sei fraglich, ob er dann wie ausgemacht die ersten Überarbeitungen der Royantexte mitbringen könne. Als ich ins Zimmer trat, lag Marty auf dem Bett, ein feuchtes Tuch auf der Stirn, die Balkontüren weit geöffnet.

Nie zuvor hätten ihn solch stechende Kopfschmerzen angegriffen, jetzt verlangsame sich das Hämmern zum Glück, und zwar mitten im Gespräch mit der liebenswürdigen alten Dame, der Mutter von Jean-Pierre Marty, die nicht seine biologische Mutter sei, was er bereits wusste. Der Tatsache, dass sein Alter Ego, so nenne er den Andern jetzt, adoptiert war, habe er bisher nicht so viel Wichtigkeit beigemessen, bloß ein interessantes biografisches Detail. Er habe die Bedeutung gewaltig un­terschätzt, ein Lebensdrama war damit verbunden. Die Mutter sei bereits einmal im Spital vorbeigekommen und habe ihre Tränen nicht zurückhalten können. Erst jetzt, nach diesem Besuch, verstehe er ihren mysteriösen Satz, sie habe ihn ein zweites Mal verloren.

Ich setzte mich in den Lehnstuhl, womit wir uns, ohne es zu beabsichtigen, in klassischer Therapieaufstellung wiederfanden, mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass ich nicht am Kopfende, sondern zu seinen Füßen saß. Aber Marty war in jeglicher Hinsicht mein Sonderfall. Erzählen Sie bitte.

Auch mit ihr sei er im Park spazieren gegangen, die alte Dame war nicht mehr so gut zu Fuß, sie gehe leicht gebückt, klein, aber mit Haltung halte sie das Alter im Griff, elegante Kleidung, bestimmt vor Jahren maßgeschneidert, trägt sie mit zeitloser Würde, er sei der liebenswürdigen Dame sehr zugetan. Dann habe er sie nach jenem Ostermittagessen bei ihr gefragt. Sie war nach seiner Frage direkt auf die nächste Bank zugesteuert, es erzähle sich besser im Sitzen. Sie habe seine Hand genommen, sie trug feine weiße Stickereihandschuhe.

Du kennst die Fakten, begann sie, du hast von der Adoption erst als Dreißigjähriger durch einen unglücklichen Zufall erfahren, dein Bruder hatte damals einen schweren Unfall, und es ging um eine Blutspende, die Blutanalyse ergab, dass ihr beide nicht verwandt sein konntet. Natürlich sei es dumm von ihnen gewesen, ihm das nicht früher zu sagen, aber der Zeitpunkt sei eben nie der richtige bei unangenehmen Sachen. In blinder Kränkung habe er jahrelang nicht mehr mit ihnen gesprochen.

Die Stimme der alten Dame zitterte kaum merklich. Er habe ihnen den Verrat, so nannte er ihr Verschweigen der Adoption, nicht verzeihen können. Erst als seine Tochter auf der Welt war, habe er seine sture Haltung gelockert. Sie und Vater hätten sehr unter der Zurückweisung gelitten. Du, der aufgeklärte, rationale Intellektuelle, bist durch die Entdeckung, dass zwischen dir und uns keine Blutsbande bestanden, in eine existenziel­le Krise gestürzt. Was haben wir uns nicht alles anhören müssen. Die Familie eine einzige große Lüge, keine verwandtschaftliche Beziehung, keine Großeltern und Urgroßeltern, hinter dem Zeitpunkt der Geburt weiße Leere. Ja, du hast deinen Weltschmerz kultiviert. Sie habe seine Selbstbemitleidungen irgendwann nicht mehr hören können.

Marty schob das Stirntuch beiseite, setzte sich auf und blieb gebückt am Bettrand sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Die Mutter habe an jenem Ostersonntag ihm und seiner Familie erstmals alle Einzelheiten seiner Adoption erzählt, ausgelöst durch Nadine, die für eine Geschichtsarbeit ihren Familienstammbaum recherchie­ren sollte. Er dürfe auf keinen Fall vergessen, das Mädchen beim nächsten Besuch nach dieser Arbeit zu fragen. Mutters Erzählung, er habe alles stichwortartig aufgeschrieben, hier, er reichte mir sein Notizheft.

Ich winkte wiederum ab, er möge es mir bitte vorle­sen.

Hochzeit der Eltern 1939, kurz danach Generalmobilmachung, Geburt des Bruders Daniel 1942, mit Komplikationen, keine weiteren Kinder möglich. Vater im Grenzdienst, bei Waldarbeiten verwundet, wurde 1944 entlassen. Leiter der freiburgischen Kantonalbankfiliale in Murten, ehrenamtlicher Treuhänder verschiedener Heime im Kanton, Familie nahm mehrmals Flüchtlingskinder auf, zeitlich befristet, Kinder mussten zurück. Mutter litt, wollte noch ein Kind adoptieren.

Marty blickte auf. In einem Nonnenkloster mit Kinderheim, Frankreich war nicht weit weg, habe es einige Flüchtlingskinder gegeben, die illegal über die jurassische Grenze gebracht und so gerettet wurden. Es waren vor allem Kriegswaisen oder Kinder, die in den Flüchtlingsströmen ihre Eltern verloren hatten, davon gab es Hunderte, sie waren beim Roten Kreuz gemeldet. Aber auch Kinder, die man bei der Kirche versteckte, weil ihre Eltern deportiert wurden. Vichy-Frankreich sei in der Judenverfolgung ja übereifrig gewesen. Die Schwestern brachten die Kinder bei ihren Ordensgemeinschaften in der Schweiz unter, mit dem stillschweigenden Einverständnis der Schweizer Grenzwache. Beim Grenzübertritt schauten die vermutlich konzentriert durch ihre Feldstecher oder auf die andere Seite.

31. Juli 1945, Vater brachte aus dem Heim einen kranken Säugling, Vollwaise, zur Pflege in die Familie, keine Geburtspapiere, der Säugling sehr klein und das Alter schwierig zu bestimmen, Arzt schätzte etwa vier Monate, also wurde der 31. März 1945 als Geburtstag in die Adoptionspapiere eingetragen.

Der «Andere» sei an Ostern völlig in Rage gekommen, weil auch der Geburtstag ein beliebiges Datum war, sein ganzes Leben eine einzige Erfindung, seine Identität eine reine Fiktion. Wie immer übertrieben und Mutter sehr gekränkt. Der Kleine wurde Jean-Pierre genannt, die französische Version von Hanspeter, Vorname seines Adoptivvaters. Der Säugling war lange kränklich, hatte vermutlich Traumatisches erlebt, lange blieben sie im Ungewissen, ob er durchkommen würde. Für Mutter war sein Überleben ein Sieg über den Krieg.

Das Wichtigste komme jetzt, Marty vergewisserte sich, dass ich zuhörte. Offizielle Bescheinigung des französischen Staates, dass Eltern unbekannt, Findelkind, leibliche Eltern vermutlich in den Befreiungskämpfen an der Westküste Frankreichs umgekommen, Kriegswaise, somit adoptierbar. Nonnen verweigerten weitere Auskünfte. Adoptivvater fand dank Beziehungen später her­aus, dass das Kind aus dem Département Charente gekommen sein müsse, Gegend zwischen La Rochelle und Girondemündung, dort heftige Befreiungskämpfe und Bombardierungen Anfang 1945, die Deutschen in Atlantikfestungen verschanzt. Säugling war vermutlich Waisenkind nach Bombardierung.

Ihm sei nun klar, welche Recherchen der Andere mit seinem Weiterbildungsurlaub verbunden habe. Ein verrückter Kerl, seine Familie aufspüren zu wollen, ohne verlässliche Hinweise, nicht einmal seinen Familiennamen kannte er. Bloß ein Monogramm, GQ, falls die Mutter die gestickten Buchstaben auf dem Tuch richtig gelesen hatte, das einzige materielle Indiz für die Herkunft. Der Säugling war den Schwestern in einen Kissenbezug und ein Stück Wolldecke eingewickelt übergeben worden. Sagten sie jedenfalls. Mutter hütete das Stoffstück wie eine Reliquie und hatte es dem Andern vor einem Monat, kurz vor dem Unfall, geschickt.

Und jetzt, erregt stand Marty auf und begann im Zimmer auf und ab zu marschieren, während ich versuchte, durch Sitzenbleiben einen Kontrapunkt zur Unruhe zu bilden. Es bestehe kein Zweifel, er stehe am selben Punkt. Eine Vergangenheit zu finden, zu der alle Verbindungen gekappt waren. Aber diesmal mit miserablen Karten. Mit dem Gedächtnisverlust werde die große Lebensproblematik der unbekannten Vergangenheit quasi wiederholt, nein, auf die äußerste Spitze getrieben. Marty rieb sich die rechte Schläfe, die stech­enden Kopfschmerzen hatten schlagartig wieder ein­gesetzt. Er blieb an der geöffneten Balkontür stehen, holte tief Luft. Er, der Mann ohne Vergangenheit, müsse die Erinnerungen eines Mannes finden, der selber auf der Suche nach seiner Vergangenheit war. Wer blicke da noch durch. Was, wenn der Andere vor dem Unfall nichts über seine Herkunft herausbekommen hatte? Dann suche er jetzt die Identität von einem, der nicht wusste, wer er war. Er frage sich, ob er die Erinnerungen des Andern, falls sie wieder auftauchten, überhaupt ertragen würde.

Er starrte durch die Baumwipfel in die Ferne. Draußen begann es zu dunkeln, hinter den schwarzen Umrissen der Parkbäume funkelte tiefblau der Abendhimmel.

Marty presste beide Fäuste gegen die Schläfen, es muss einfach einen tieferen Sinn für diesen wahnwit­zi­gen Albtraum geben. Erregt schloss er die Balkontür und setzte sich mir gegenüber an den Tisch, der alte, verzogene Fensterflügel klirrte ob der uneleganten Heftigkeit.

Er zermartere sich das bockige Gehirn, wie es nach der Klinik weitergehe. Man könne das kaum als Leben bezeichnen, so wie er zurzeit Tag für Tag hinter sich bringe und mühsam einen Lebenslauf zusammenstückle, der ihn zunehmend befremde. Leben bedeute doch, Wünsche zu haben. Er habe keine. Ohne Erinnerungen keine Wünsche und somit auch keine Lebensziele. Da habe einer die Tür hinter ihm zugeschlagen. Die Neuschreiberei des Journals bringe nichts, er bedaure, aber er steige aus dem Schreibprojekt aus.

Ich hatte es geahnt, wollte aber unter allen Umständen den vorzeitigen Abbruch verhindern. Falls es nicht gelingen sollte, damit die Gedächtnisblockade zu lockern, nicht einmal Haarrisse zu provozieren, durch die feinste Erinnerungen zu dringen vermochten, dann habe er sich mit den neu formulierten Texten immerhin doch Wunscherinnerungen erschrieben, habe zumindest etwas in der Hand respektive im Kopf, und vielleicht reiche dies bereits, damit sich Ziele und Wünsche für die Zukunft formierten, seien sie noch so bescheiden.

Marty blickte mich nachdenklich an. Klingt nachvollziehbar. Er stand auf, begann zwischen Tisch und Fenster hin und her zu gehen, blieb dann schließlich vor mir stehen. Gut, er werde also versuchen, mögliche, wahrscheinliche, wünschbare Vorstellungen zu entwerfen, wie das Leben seines Alter Ego in den vergangenen drei Monaten gewesen sein könnte. Aber er zweifle, ob man mit Wörtern das Vergessen zurückbuchstabieren könne. Trotz Lizenz zum Lügen. Sein Lächeln geriet ziemlich schief.

Das war am Sonntagabend, am folgenden Freitagmorgen brachte Marty die ersten Überarbeitungen seines Royan-Journals, oder, wie er zu sagen pflegte, der «Aufzeichnungen des Anderen», auf dem USB-Stick zum Ausdrucken ins Sekretariat und hinterließ die Mitteilung, dass er um ein zusätzliches Gespräch mit mir außerhalb der abgemachten Sitzungen bitte, so bald wie möglich.

Royan, Montag, 5. Mai 2003

Die Geschichte ist besser vorstellbar, wenn zuerst die Kulissen aufgestellt werden. Royan. Badeort mit kleinstädtischem Charakter an der französischen Westküste, genauer am nördlichen Ufer der Girondemündung gelegen, es ist nicht ganz klar, ob das Wasser bereits dem Atlantik oder noch der Gironde gehört, jedenfalls salzig, aber in der Ferne sieht man das gegenüberliegende Ufer. Achtzehntausend Einwohner und in der Badesaison über hunderttausend mehrheitlich französische Sommergäste. Vorzeigestadt für Fünfzigerjahre-Stadtarchitektur, fast in Reinkultur, fast museal. Architekturschulen studieren am Objekt die für den Wiederaufbau in den Fünfzigern entwickelte neue Architektursprache, royano-bré­silien. Eine Mischung von Bauhaus aus den Zwanzigern, Art déco aus den Dreißigern und dem brasilianischen Lyrismus eines Oscar Niemeyer aus den Vierzigern. Je­denfalls gewöhnungsbedürftig.

Doch die Vergangenheit geistert herum, will sichtbar werden. Jahrhundertwende, Belle Époque, die Eleganz des pompösen Grandhotels, der Casinos, Tennisplätze, gestreiften Strandkabinen, prächtigen Badehotels und Sommervillen. Im herrschaftlichen Seebad Royan traf sich die Welt, Künstler, Dichter, ganz Paris und die Reichen aus Bordeaux. Meerbäder kamen in Mode, die Perle des Ozeans, wuchs und glänzte während Jahrzehnten, überstand den Ersten Weltkrieg ohne Kratzer, aber nicht den Zweiten. Das Ende der luxuriösen Epoche kam in drei Schritten. Die sozialistische Regierung hatte 1936 in Frankreich zwei Wochen bezahlten Ur­laub eingeführt. Der Volkssturm auf die Seebäder brachten Royan die zweifelhaften Segnungen des modernen Massentourismus, der Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 24. Juni 1940 nahm dem Badeort sodann allen Glanz. Aber endgültig beendet wurde die prunkvolle Vergangenheit mit der beinahe kompletten Zerstörung der besetzten Stadt durch alliierte Bomber am 5. Januar 1945.

Danach blieb nur ein resoluter Blick in die Zukunft. Etappenweise eine Stadt vom Reißbrett aufbauen, mutig im Zeitgeist der radikalen Moderne, weder geleitet von pragmatischer Ökonomie noch nostalgischer Res­tau­ration. Aber mögen muss man diesen Fünfzigerjahre­architekturstil schon. Zum Beispiel der berühmte Front de Mer, Symbol des eigenwilligen Wiederaufbaus von Royan in den Fünfzigern, mittlerweile mehrmals renoviert, Bausubstanz eher schlecht, und unübersehbar auf allen Ansichtskarten. Zwei je fast zweihundert Meter lange Gebäude mit Appartements, nur drei Stockwerke hoch, die in einer elegant gezogenen Kurve der Linie des Meers folgen und die dahinter liegende Stadt abschirmen. Aber eine imaginäre Wasserlinie, die ganze Anlage liegt nicht mehr am Meer. Das kleine Stadtzentrum, symmetrisch angelegt, dominieren großstädtisch doppelspurige, um nicht zu sagen großspurige Boulevards.

Hier trifft man auf JP. Er ist seit zwei Tagen in Royan, ein heller, heißer Nachmittag. Er schlendert den menschenleeren Cours de l’Europe hinunter, kneift die Augen zusammen, hält von Zeit zu Zeit die schützende Hand davor. Die Hitze schmerzt in den Augen, er drückt sich in den schmalen Schattenstreifen, den die Häuser gnädig noch bieten, aber immer wieder gezwungen, ei­nem Hindernis auszuweichen, einige Schritte in der Mit­te des grellen Trottoirs zu gehen, mal sind es die leeren Stühle eines Cafés, die Leute sitzen drinnen, mal parkt einfach ein Auto auf dem Gehweg, normale Sache hier, keinen störts, alle tuns. Die verrückten Hochsommertem­peraturen lähmen die Menschen, die noch auf Wärmesuche eingestellten Körper wissen nicht, wie das plötzliche Zuviel abwehren. Gereizt wischt er sich über die Stirn. Obwohl mit leichter Sommerhose und Kurzarmhemd bekleidet, leidet der aus der kühlen Schweiz Angereiste stärker als die Einheimischen.

Er zögert, unklar, in welche Richtung es ihn zieht. Es ist halb zwei, in Frankreich sitzt zu dieser Zeit bei Tisch, wer etwas auf sich hält, alles ruht, daran wird sich JP gewöhnen müssen. Er durchschreitet die breite Parkanlage, bemerkt die verlassenen Boulefelder unter Pinien und Akazien kaum und überquert die Fahrspur achtlos, bis er im Schatten der weißen Häuser auf der linken Seite angelangt ist. Man bemerkt sofort, dass er nicht zu den Zweitwohnungsbesitzern gehört, den frohgemuten Rentnern, die sich am Ende des Arbeitslebens in Royan eine kleine Wohnung leisten. Obwohl er etwa im gleichen Alter ist, fehlt ihm die lederne Sportlichkeit der junggebliebenen Senioren. Seine Kleidung zeigt aber auch keinerlei touristischen Missgriffe, er verkneift sich die Sonnenbrille, die ihn, Anfang Mai, ohne jeglichen Zweifel als Touristen deklassiert hätte. Er trägt eine mappenähnliche Umhängetasche und über die Schulter eine am Zeigefinger aufgehängte Wildlederjacke. Richtig, die gleiche Jacke und dieselbe Geste, nicht zu leugnen.

Einer, der in der Morgenkühle aus dem Haus gegangen ist und doch eindeutig kein Einheimischer, seinem Gang fehlt deren Zielstrebigkeit. Eine kaum merkliche Verzögerung beim Aufsetzen des Fußes, erwartungsfreu­dig, sofort bereit, die Richtung zu ändern, verrät den Neu­angekommenen. Intensiver Schwebezustand, er saugt das Fremde ein, labt sich am Unbekannten, es sprengt das Herz, die Freiheit ist zum Greifen, ein Luftsprung und ein Jauchzer sind jetzt das einzig Richtige. Nur innerlich, versteht sich, JP ist Schweizer. Das bisschen Exotik des Badeorts, das bisschen salzige Meeresbrise, das reicht noch nicht, um fünfzig Jahre Wohlbenehmen und Selbstkontrolle abzuwerfen wie ausgetragene Kleider. Es wird noch etwas dauern.

JP bleibt unschlüssig am Ende des Cours de l’Europe stehen. Alle Geschäfte geschlossen, teilweise sogar die Gitter heruntergelassen. Auch die Grünanlage ist ausgestorben, sie wird gegen Ende des Boulevards schmaler, Sträucher ersetzen die Pinien, Parkplätze bald diese und schließlich beendet ihn ein erhöhtes Asphaltdreieck mit Verkehrsampel und Wegweisern. Weiße Stille liegt über dem weiten Platz vor der Post. Warum ist er überhaupt jetzt und hier in Royan? Gute Frage. Eigentlich zwei Fragen.

Jetzt: weil er ausgelaugt ist, zynisch, jeder Schultag wurde unerträglicher. Sein Antrag auf ein Freisemester, Sabbatical klingt besser, ist ihm anstandslos bewilligt worden. Wiedersehen am Montag, 18. August, zum neuen Schuljahr. Er fährt sich über die feuchte Stirn. Vieles muss sich in diesen knapp vier Monaten ändern. Diese Leere, nicht einmal Schülerarbeiten kann er mehr beurteilen, alle Kriterien sind ihm abhanden gekommen. Keine Ahnung, was gut ist, was ungenügend, wer ist so anmaßend, das wissen zu wollen. Ihm ist einfach scheißegal, was die Schüler schreiben, denken, nicht denken, nicht überlegen, nicht wissen. Was hat das mit ihm zu tun?

Eine Zeitlang kann man noch so tun als ob, man hat ja schließlich Expertise nach so vielen Jahren Berufstätigkeit, die Phrasen sprechen und schreiben sich von allein, schlängeln sich gekonnt in die Beurteilungen, die aus luftigen Satzmodulen bestehen, die man mal so, mal so aneinanderreihen kann. Glauben muss das keiner. Leider wird nach einiger Zeit das Unbehagen schwer, würgt dich, ja schneidet dir die Luft ab. Spuck es endlich aus. Dass du genauso oberflächlich und uninteressiert geworden bist wie deine Schüler. Von Jahrgang zu Jahrgang schlimmer, ewiges Lamento der Kollegen. Oder dass nichts mehr in deinem Kopf ist, keine Meinung zu den Dingen, selbst nicht, ob du Meinungslosigkeit gut oder katastrophal findest. Altersweisheit ist es bestimmt nicht. Es gab nur eins – weg. Auszeit. Eine unbe­kannte Umge­bung verdampft zumindest für eine gewisse Zeit die breiige Langeweile, denn täglich sind unzählige banale Entscheidungen zu treffen, wenn alles neu ist, zum Beispiel, welche Straße er jetzt nehmen soll.

Endlich das Meer sehen. Wo liegt das Meer? Die blendende Helligkeit am Atlantik überrascht ihn auch diesmal wieder, grenzenloses Licht, es gibt keine hohen Ge­bäu­de, die Straßen offen, die Häuser weiß, über dem flachen Land der unbegrenzte Himmel. Keine Bergschranken. Als Schweizer ist man halt anfällig für die Weite. JP überquert zügig den breiten Boulevard.

Der erste Kurstag heute Vormittag hat sich ganz gut angelassen. In der Pause gab es Gelegenheit für den unvermeidlichen Smalltalk, eine kleine Kursgruppe mit acht Teilnehmern, drei männlichen, außer ihm noch ein Schweizer, Marco aus dem Tessin, und der Deutsche Sven, und fünf weiblichen, die Spanierin Gracia, eine etwas arrogant wirkende Mailänderin namens Chiara, zwei unkomplizierte Kanadierinnen aus Ottawa, Maureen und Pam, und die geschwätzige Monika aus Linz. Sie alle unterrichten Französisch an einem Gymnasium in ihrem Land, sie alle haben das Bedürfnis, ihr Französisch wieder à jour zu bringen, Fehler auszumerzen, die sich einschleifen, wenn man ständig nur mit Nichtfrankofonen spricht. Eine ganz angenehme Truppe, obwohl JP dieser Aspekt reichlich egal ist, ihm geht es nicht um neue Freundschaften, zudem ist er vermutlich einiges älter. Der Kurs dient bloß als offizielle Rechtfertigung für das Sabbatical, und wenn er dabei ein paar nützliche Sachen für den Unterricht lernt, tant mieux. Bis jetzt ist es allerdings mäßig spannend.

In der zweiten Hälfte des Vormittags hat jeder sein Projekt kurz vorgestellt, als Leistungsnachweis für das Kursdiplom wird eine selbständige Recherche zu einem lokalen Thema mit Präsentation in der Klasse verlangt. Einige haben sich bereits bei der Vorstellung ihres Vorhabens in Details verloren, das lässt Schlimmes für die Schlusspräsentation ahnen. Er selber hat auch ein bisschen ausholen müssen. Seit er vor Jahren in der Bre­tag­ne die ersten Bunkerruinen des ehemaligen Atlan­tik­walls entdeckte, habe er den Wunsch, mehr über das gigantische Küstenbefestigungsprojekt der Deutschen aus dem Zweiten Weltkrieg zu erfahren. Überall in den Dünen hier gebe es die Überreste der Bunker, die nun ma­lerisch im Sand versinken. Der Bau der Befestigungsanlagen sei auch der Grund für die katastrophalen Zerstörungen der französischen Küstenstädte durch die alliierten Bomber gewesen. Er wolle deshalb mehr über die Jahre der deutschen Besatzung und die Befreiungskämpfe hier in der Region wissen.

Mit Genugtuung bemerkte er, wie die Kursleiterin hellhörig wurde. Kein Wort selbstverständlich, dass der Atlantikwall nur als Vorwand dient. So kann er die Recherche gleich mit seiner Familiensuche verbinden. Sein Blick in die Runde ist am Schluss bei der Kursleiterin Françoise hängengeblieben, sie würde er gerne beeindrucken. Ein anspruchsvolles Thema, sie hat ihm aner­kennend zugenickt, gerne gebe sie ihm Tipps für Quellenmaterial, sie habe selber ausführlich dazu recherchiert. Sie lächelt. Nur für ihn. Seine Hände sind augenblicklich kaltfeucht, ein Wunder, dass er nicht stottert, und ein Glück, dass die zu langen Haare die glühenden Ohren verdecken.

JP konnte die Augen kaum von ihr lassen, die Frau ist einfach umwerfend. Ein nonchalanter Kleidungsstil, diese natürliche Eleganz der Französinnen sieht aus wie nicht beabsichtigt. Schmale Hose, kann sie mit ihrer Figur tragen, anschmiegende Bluse, man ahnt, was man sich vorstellen will. Für den Inhalt ihrer Ausführungen, es ging um Internetterminologie oder ähnliches, war er weniger empfänglich.

Ist sie eine schöne Frau? Nach gängigem Schönheitsideal eher nicht, aber ihr Gesicht ist lebhaft, dunkle volle Haare, trägt sie schlicht nackenlang, mit zufälligen (oder raffiniert platzierten?) grauen Mêches durchzogen. Welch erregender Kontrast zu ihren hellen Augen. Farbe unde­finierbar, vielleicht meerfarben, ja, alle Farbtöne des Wassers. Am meisten beeindruckt ihn ihre Sprechweise, ­geschliffene Formulierungen, druckreif, natürlich zu erwarten bei einer Französischlehrerin, trotzdem, er ist hingerissen. Ihr Alter fünfzig, fünfundfünfzig allerhöchs­tens, er ist schlecht im Schätzen

Aber er hat weder Lust auf Abenteuer noch auf Komplikationen. Vergiss nicht, warum du hier in Royan bist. Du hast nur wenige Wochen, die Zeit ist zu kostbar für Frauengeschichten.

Ungeheuer mutig ist es doch, nach bald zwanzigjähriger Ehe erstmals für fast drei Monate, elf Wochen, um es ganz genau zu nehmen, wieder allein zu leben, in ei­ner fremden Stadt und ohne vertrauten Arbeitsrhythmus. Immer mulmiger wurde ihm zumute in den letzten Monaten, als der Wunschtraum des Wegfahrens, das Wort Flucht war auch in Gedanken tabu, Schritt für Schritt Wirklichkeit wurde.

Und nun liegt der erste bedrohlich leere Nachmittag allein in einer fremden Stadt vor ihm. Vorsorglich hat er eine lückenlose Beschäftigung programmiert. Mit Listen, nach Prioritäten geordnet, bewältigt er zu Hause seinen Alltag, sie entfalten bestimmt auch hier ihre Wirkung:

Meer

nächstgelegene Bäckerei

Markthalle Öffnungszeiten

Maison de la Presse, deutsche Zeitungen?

Internetcafé

Das Internetcafé braucht er, weil es in der Ferienwohnung wie erwartet keinen Internetanschluss gibt und Internet für seine Recherchen unerlässlich ist. JP weiß seit dem Osterbesuch bei der Mutter, dass seine Herkunft mit großer Wahrscheinlichkeit hier in der Gegend liegt, seither ist er hochgradig beunruhigt. Hat er Royan wirklich nichts ahnend für seinen Weiterbildungsurlaub gewählt – alles war längst organisiert, als er an Ostern davon erfuhr –, oder lenkte eine Vorsehung perfide die Entscheidung? Wer zieht die Fäden, Schicksal oder Zufall?

JP ist sehr wohl bewusst, wie wahnwitzig die Idee ist, seine Familie zu suchen, ohne Fakten, ohne Geburtsdatum, ohne Namen. Er hat magere vier Anhaltspunkte: erstens ein Monogramm GQ, zweitens Herkunft Dépar­tement Charente, drittens vermutlich Bombardierungsopfer und viertens ein willkürliches Geburtsdatum, 31. März 1945. Mehr nicht. Aber die Hoffnung, dass es möglich wäre, sitzt als bohrender Stachel in seinem Kopf. Es gibt eine Nanowahrscheinlichkeit, er muss die bloß ­finden. Selbstverständlich hat er niemandem davon erzählt, die pragmatische Annet hätte es ohnehin nicht verstanden, seinen Plan bestimmt als hirnrissig und ihn als Fantasten bezeichnet. Sie hat nicht ganz unrecht. Wie immer. Seit er hier vor Ort ist, mehren sich die Zweifel, seine Familiensuche ist tatsächlich spinnert, zu Hause aus der Ferne schien alles machbar.

JP sucht immer noch das Meer. Er dreht den Stadtplan in Blickrichtung, das Meer muss sich links gleich hinter dem Pinienpark befinden. Er durchquert ihn, ein Rummelplatz mit einigen Schatten spendenden Bäumen, alle Schaubuden noch gnädig geschlossen. Eine luftig leichte Frühsommerstimmung liegt in den Gesichtern der Spaziergänger, keiner hat es eilig. Der Schweizer kontrolliert kurz die Uhr, von seiner Wohnung bis ans Meer braucht er knappe zehn Minuten, perfekt.

Hinter dem kleinen Pinienpark entdeckt er aber erst eine gigantische Sandfläche. Noch nie hat er dergleichen in einer Stadt gesehen, sie wird von einer bestimmt fünfhundert Meter langen Steinarena begrenzt, die von der Promenade auf der ganzen Länge in drei einladend breiten Stufen, auf die man sich gemütlich hinsetzen kann, zum Sand hinunter führt. Die Sonne scheint durch diffusen Dunst, das ist es, was das Licht so unerträglich macht, ohne Sonnenbrille. Auf den Stufen, im Sand, überall sitzen oder stehen Leute, Kinder tollen herum, Hunde bringen wedelnd Holzstücke zurück, die keiner will. Er setzt sich auf die mittlere Stufe, lehnt zurück, schließt die Augen. Da ist es wieder. Das aufregend Freie. Neuanfang ohne jegliche Last. Warm. Weit. Alle Poren öffnen sich. Alles auf Empfang. Endlich leben.

Keine Sorge, er sonnt sich einfach ein bisschen, alles unter Kontrolle. Vergängliche Sekunden von Leichtigkeit, ein Versprechen von Sorglosigkeit und Ruhe, niemand hat Ansprüche an ihn. Aber es ist nicht zu verhindern, dass Annet sich vor seine Augen drängt, schnell, bevor ihm zu wohl wird. Schwieriges Kapitel, die Beziehung zu Annet. Der Abschied von seiner Frau war merkwürdig, er ist nach wie vor ratlos, nicht gekränkt, vielleicht aber doch.

In den Tagen vor der Abreise lähmte ihn die Erwartung, die mit dem Unausgesprochenen wuchs, die karge Verabschiedung am Montagmorgen im Auto vor dem Bahnhof, sie hat ihn sogar nach Olten gefahren, eine verlegene Umarmung und der Versuch eines ehelichen Kusses. Was gab es noch zu sagen, nirgendwo lagen brauchba­re Wörter herum. Sie vermieden beide eine Abmachung, wie häufig sie miteinander in Kontakt bleiben wollten. Alles blieb ungesagt dumpf. Sie hat ihn nicht auf den Bahnsteig begleitet, in Eile und bereits verspätet für ihren ersten Termin. Kein kindisches Winken, das versteht sich; als er wider besseres Wissen doch zurückblickte, war ihr Auto verschwunden. Ja, er ist gekränkt.

Die Sonne verbrennt soeben den letzten Dunst und blendet nun erbarmungslos, er zieht die Sonnenbrille hervor, ein Tourist, tant pis. Keiner schaut ihn an, keiner nimmt es ihm übel, keinen interessierts. Vielleicht nimmt er sich ein bisschen zu wichtig.

Er steht auf, streckt sich mühsam, seit neuestem diese Steifheit in allen Gliedern. Dabei bräuchte er nicht weit zu suchen, reine Folge seiner faulen Unsportlichkeit. Soll er nach rechts oder links, dort beginnt der Strand. In weiter Ferne, offensichtlich herrscht Ebbe, sieht er es endlich, eine graubraune Fläche, das Meer ist zu seiner Verwunderung alles andere als blau. Welche Enttäuschung, JP wendet sich ab. Er will später an den Strand gehen. Wenn die Flut steigt.

Rechts erblickt er den berühmten Front de Mer. Die Gebäude wirken auch nach fünfzig Jahren sehr modern, er nähert sich über die Promenade, eine gedeckte Pas­sage führt der ganzen Länge entlang, überall mit Geschäften, Touristenfallen und billigen Snacks verbaut. Er schlendert in dem engen Markt von Geruch zu Duft und umgekehrt, Frittiertes, Waffeln, Räucherstäbchen, Meeresfrüchte, wieder Fast Food, das Getümmel in der Sommersaison will er sich lieber nicht ausmalen. Es wäre an der Zeit, die Liste hervorzuholen, es gibt noch einiges abzuarbeiten.

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