Kitabı oku: «Festbierleichen», sayfa 3
Schweinsbraten
Montag, 25. Juni 2019, 12.35 Uhr
»Und des soi a Schweinsbron sei?«, sagte Quirin und stocherte lustlos in der zerfaserten Fleischscheibe vor sich.
»Wow, der Herr ist wohl ein Feinschmecker? Das kannst du dir in der Mensa abschminken. Was erwartest du für drei Euro?«
»An echt’n Schweinsbron hoid.«
»Sei lieber froh, dass ich dich mit meinem Studentenausweis hier reingeschmuggelt habe. Jeden Tag ein durchgeweichtes belegtes Brötchen vom Supermarkt ist auch keine gastronomische Sensation und kostet fast genauso viel.«
»Bei meina Muadda schmeckt’s jedenfois bessa«, beharrte Quirin.
»Muttersöhnchen!«, sagte Irina und lächelte ihn dabei an. »Wenn du mir heute Abend noch mal brav dieses ganze Zeug mit Stammwürze und ober- und untergärigen Biersorten erklärst, lade ich dich mal zu mir nach Speyer ein. Dann koche ich dir einen echten Borschtsch, so wie ihn mir meine Mutter beigebracht hat. Das gibt’s eh nie bei uns, weil mein Mitbewohner ein Veggie ist.«
Quirin horchte auf. »Mitbewohna?«
»Ja, ich wohne bei ihm im Haus.«
Er zögerte. »Du bischt? Also er is …?«, stammelte er unbeholfen.
»Er ist ein prima Kerl, und wir verstehen uns gut.« Irina kostete Quirins fragenden und enttäuscht wirkenden Gesichtsausdruck aus.
»Aber jetzt mal was ganz anderes«, wechselte sie das Thema. »Ist dir eigentlich bewusst, dass die eine Riesenmenge Bier nach Russland exportieren? Und nach China auch. Die haben sogar eine spezielle Abfüllanlage für diese komischen 0,95-Liter-Dosen.«
Quirin nickte nur. Sein Mienenspiel verriet ihr, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte.
»Was ist? Du guckst, als wär dein Goldfisch eingegangen.«
»Es is … Es is wega Dahoam. Wenn mia so a Abfüllanlag’n hätt’n, de des kannt, dann hätt’n mia bessare Chancen, unsa Bier im Ausland zum vermarkt’n. De hom do einfach ois. Neie Sudkessl, große Lagertanks, neie Abfüllanlag’n und a riesig’s Lager. Dahoam is ois oid und nimma wettbewerbsfähig.«
»Wie? Ihr habt eine Brauerei?«, fragte Irina überrascht.
»Ja, scho no, aba wenn des so weida geht … mei Onkel, da Jonny, macht se hie. Er versteht nix vom Bierbrau’n.«
»Und was treibst du hier, wenn ihr zu Hause eine eigene Brauerei habt?«
»Wega meim Großvater. Er wui, dass i mi umschaug, wias andere mach’n. Damit i dann füa unsa Brauerei wos leana ko.«
Irina konnte förmlich beobachten, wie in den letzten Minuten sämtliche Farbe aus dem vitalen rotbäckigen Gesicht des Jungen gewichen war. Sie glaubte sogar zu erkennen, dass seine Augen wässrig wurden.
»Und du meinst, du kannst eurer Brauerei helfen?«
»Na«, sagte Quirin und vergrub sein Gesicht in den Händen.
Irina legte behutsam einen Arm um seine Schultern.
*
Ernst Berger hatte Angst. Angst um seine Hand, in der sich eine heftige Entzündung, ausgehend vom kurzen Stumpf des kleinen Fingers, pulsierend ausbreitete. Angst um seine Familie und Angst um seine Existenz.
Er war matt und hatte den ganzen Sonntag in einem ruhelosen Halbschlaf zugebracht. Fieberträume hatten sich mit Angstfantasien abgewechselt. Wie konnten er und seine Familie lebend aus der Sache rauskommen? Sollte er mit der Polizei Kontakt aufnehmen? Aber was dann? Seine Frau, seine Tochter, wie sollte er ihnen erklären, was er vor zwei Jahren in diesem Bordell in Speyer gesucht hatte? Und dieser Russe. Er wusste zu viel und war zu kaltblütig, um daran zu zweifeln, dass er seine Drohungen wahrmachen würde.
Aber wie sollte er dessen Forderungen erfüllen? Er war Buchhalter. Ein paar Tausender verschwinden zu lassen, Rechnungen zu manipulieren, all das war kein Problem. Aber wie sollte er Dosen mit irgendwas befüllen, das ihm der Russe liefern wollte? Er hatte keine Ahnung von den Abläufen in der Anlage. Aber wieso war dieser Kerl ausgerechnet auf ihn gekommen? Warum nicht auf den Braumeister oder den Techniker, der die Abfüllanlage bediente? Sie wären weitaus geeigneter, um so etwas durchzuziehen.
Bevor er eine Antwort finden konnte, fiel er wieder in fiebrige Träume von schwärenden Wunden und Handamputationen.
Qualitätskontrolle
Montag, 1. Juli 2019, 10.15 Uhr
Karl Gabarek war ein kleiner, spindeldürrer Mann. Alles an ihm war durch einen jahrzehntelang praktizierten übermäßigen Tabakkonsum gezeichnet. Seine Haut war faltig und fahl, das Weiß seiner Augäpfel wirkte schmutzig und war von unzähligen rötlichen Äderchen durchzogen. Atem und Kleidung verströmten einen penetranten Geruch nach kaltem Rauch.
Gerade deutete er mit einem von Zigarettenteer gelblich verfärbten Finger auf eine etwa drei Zentimeter lange Schabe, die eilig über den grauen Steingutboden der Restaurantküche krabbelte.
Dem Eigentümer und Küchenchef des Pfalzhofes neben ihm entgleisten die Züge. Hitze stieg in den Kopf des Mannes und verwandelte ihn in einen roten Ballon. »Aber so was gab’s noch nie in meiner Küche«, setzte er zur Verteidigung an.
Gabarek blieb ruhig. Aus Erfahrung wusste er, dass es in Momenten wie diesen gut war, Gelassenheit auszustrahlen und dem Betroffenen die Zeit zu geben, sich das herannahende Unheil auszumalen. Dies löste bei seinen Kunden weit mehr aus als die strengen Worte eines Beamten.
»Sie müssen mir glauben, hier ist alles picobello. Wir halten uns penibel an den Reinigungsplan. Wir hatten noch nie Ungeziefer.«
Gabarek nickte nur und legte mitfühlend die dürre Hand mit den gelben Fingern auf den Arm des beleibten Kochs. Interessant, wie das immer nach dem gleichen Schema ablief: die Überraschung, das Nicht-wahrhaben-Wollen, das Verhandeln und schließlich die Einigung. Ein vorhersehbares, kalkulierbares Ritual.
»Ein Schabenbefall in einer gastronomischen Einrichtung ist ein nicht zu unterschätzendes Gesundheitsrisiko für die Gäste. Sie übertragen Schimmelsporen, Salmonellen und erhöhen das Risiko für Magen-Darm-Infektionen signifikant. Ihr Anfraß und ihre Ausscheidungen können Lebensmittel ungenießbar machen und Allergien auslösen«, leierte Gabarek herunter.
Der Restaurantbesitzer nickte wie ein Schuljunge, dem der Lehrer gerade eine Standpauke hält.
»Und wenn so was erst an die Öffentlichkeit kommt …«, setzte Gabarek an und ersparte sich, den Satz zu beenden. Er wusste, dass die menschliche Fantasie grausamer sein konnte als Worte. Ebenso wusste er, dass der Besitzer des Pfalzhofes bei diesem Köder anbeißen würde.
»Aber wieso würden Sie das tun? Wie sollte die Öffentlichkeit davon erfahren, wenn Sie nicht …«, stammelte der massige Mann mit der Kochschürze.
»Ich werde ganz sicherlich nichts darüber verbreiten. Ich bin ein alter Hase und bekannt für meine Diskretion.«
»Aber wie sollte dann die Öffentlichkeit …?«
»Na ja, wenn ich zurückkomme, muss ich das zu Ihrer Akte nehmen.« Er deutete dabei auf das Handy, mit dem er eben die fliehende Schabe fotografiert hatte. »Dann wird daraus ein Vorgang. Er wird protokolliert, kopiert, verteilt. Er läuft durch die Hände von Sachbearbeitern, Sekretärinnen, Vorgesetzten und meist auch ein paar Praktikanten. Und ist am Ende in unserer Online-Datenbank für jeden Mitarbeiter einsehbar.«
Wieder verkniff er sich detailliertere Ausführungen. Nur ein Narr würde nicht erkennen, dass der Vorfall spätestens eine Woche danach zum Stadtgespräch werden würde.
Der Koch bekam keine Silbe über die Lippen. Seine Gesichtsfarbe hatte sich nunmehr in eine ungesunde Blässe gewandelt. Er mahlte mit den Kiefern. Man konnte förmlich beobachten, wie in seinem Gehirn die Synapsen unter Hochdruck arbeiteten.
»Und wenn …?«, setzte er an und blickte Gabarek treuherzig ins Gesicht.
Gabarek musste sich beherrschen, nicht zu grinsen. Wie einfach es doch war, Menschen zum Denken anzuregen. Aus Erfahrung war er sich gewiss, dass es fortan nicht mehr um das »Ob«, sondern nur noch um das »Wie viel?« ging. Doch er schwieg weiter, holte ein Formular aus der Tasche und begann, es quälend langsam unter den Augen seines Gegenübers auszufüllen.
Den Hals des Kochs zierten mittlerweile faustgroße rote Flecken. Unruhig stieg er von einem Fuß auf den anderen.
Als Gabarek schließlich gut leserlich in Großbuchstaben die Worte »AKUTER SCHABENBEFALL« eintrug, räusperte sich der Mann.
»Und wenn ich Ihnen zu 100 Prozent zusage, dass ich noch heute einen Kammerjäger beauftrage? Sie dürfen auch gerne mithören, wenn ich ihn anrufe.«
Gabarek war mit sich zufrieden. Alles entwickelte sich in die richtige Richtung. Jetzt galt es nur noch, die letzte Weiche zu stellen.
»Ja, wenn erst einmal das Auto des Kammerjägers vor der Restauranttür steht … Und so eine Fachkraft soll darüber hinaus sehr teuer sein.«
Er hatte ganz bewusst das Wort »teuer« etwas gedehnt ausgesprochen.
Der Koch schien die Botschaft verstanden zu haben. »Was meinen Sie, was so was kostet?«, fragte er artig.
»Wenn man bei einem Insektenbefall alles restlos beseitigt haben will, sodass niemand mehr was davon mitbekommt, kann das gut und gerne 3.000 Euro kosten«, antwortete Gabarek gelassen und füllte weiter das Formular aus.
Der Koch entfernte sich und kam mit einem Umschlag zurück, den er neben das Formblatt legte. Gabarek öffnete ihn mit seinen gelben Fingern und den viel zu langen Fingernägeln, spähte hinein und zerknüllte den ausgefüllten Vordruck. »Da hab ich mich doch leider verschrieben«, sagte er, grinste verschlagen und drückte dem unsicher neben ihm stehendem Restaurantbesitzer die Papierkugel in die Hand.
»Das können Sie wegwerfen.« Dabei schob er das Kuvert in die speckige Aktentasche und wandte sich zur Tür.
Wochenende
Samstag, 6. Juli 2019, 8.35 Uhr
»Sunny – Sunny, komm endlich rein! Es gibt dein Lieblingsfutter. Wo steckst du denn?«, flötete Karin Berger durch die offene Terrassentür.
Sie hatte schon zweimal nach dem rot getigerten Kater gerufen. Nichts. Sonst war sein Katzenmagen zuverlässiger als jede Armbanduhr. Täglich, kurz vor 8.00 Uhr, der üblichen Fütterungszeit, saß er auf der Terrasse und starrte vorwurfsvoll auf den Futternapf.
Karin Berger trat barfuß vor die Tür zum Garten ihres schmucken, aufwendig sanierten Einfamilienhauses im Schwetzinger Stadtteil Hirschacker. Sie stand unter der aufgespannten Markise und ließ ihren Blick über den vor kurzem verlegten Rollrasen gleiten, der mit seinem unnatürlich satten Grün wie frisch lackiert wirkte. Sie schlenderte einige Schritte in Richtung des neuen Pools. Das Wasser darin schimmerte im morgendlich goldenen Sonnenlicht in einem antiseptisch anmutenden intensiven Hellblau. Hinter dem Becken begrenzte ein hoher blickdichter Holzzaun das Grundstück zu dem von einem etwa 100 Meter breiten Wäldchen gesäumten Bahndamm.
»Sunny, komm endlich, du alter Stromer!«, rief sie mit süßlich quäkender Stimme.
Sie spürte etwas klebrig Feuchtes an ihrer Fußsohle, das ein Störgefühl bei ihr hinterließ. Komisch, der Rasen wurde doch spät am Abend, so gegen 23.00 Uhr, gewässert. Warum war er noch nicht abgetrocknet? Sie hasste jedwede Art von Schmutz an ihrem Körper und setzte den kleinen Kontrollgang auf der mit weißen Kalksteinplatten eingefassten Poolumrandung fort. Nach ein paar Tritten verharrte sie. Sie hatte das Gefühl, an den Platten kleben zu bleiben, und senkte den Blick zum Boden.
»Aua!«, stöhnte sie reflexartig auf. Doch sie fühlte keinen Schmerz. Aber wieso dann die blutigen Abdrücke auf den hellen Steinfliesen? Sie nahm auf dem Beckenrand Platz und inspizierte ihren Fuß. Tatsächlich, auf dem Ballen befand sich ein ausgebleichter schwärzlich roter Blutfleck. Sie wischte darüber. Das Blut war schon geronnen und ließ sich nur schwer entfernen. Die Haut darunter war unversehrt. Ekel flammte in ihr auf. Sie stand auf und wollte zum Haus eilen, um sich Hände und Füße abzuwaschen.
Dabei sprang ihr ein merkwürdiges Bündel ins Auge, das vor dem großen Oleandertopf, der als Sichtschutz vor der Terrasse thronte, im Rasen lag.
Was war das nur? Rötlich braune Fellwürste, mit einem Geschenkband gebündelt? Als sie näher kam, spürte sie wieder etwas Klebriges an der Fußsohle, und zeitgleich erkannte sie, dass es Blut war, das die Enden der Fellwürste dunkelrot färbte.
Mit einem Mal traf sie die grausige Erkenntnis, was da zu ihren Füßen lag.
»Sunny«, presste sie entsetzt hervor.
*
Eigentlich hätte es ein schöner Tag werden können. André hatte sich freigenommen; seine beiden Führungen hatte er einem Kollegen übertragen. Seit Langem wieder einmal wollte er sich einen ganzen Tag Irina widmen. Sie hatten heute ihren vierten Jahrestag. Aber was bedeutete es schon, dass sie auf den Tag genau vor vier Jahren bei ihm eingezogen war. An Tagen wie diesem wurde er sich immer wieder schmerzlich bewusst, dass sie nur seine Mieterin war. Sie war weder seine Adoptivtochter, wie er im Scherz immer gerne behauptete, noch gab es ein sonstiges Band zwischen ihnen, das sie zusammenhielt. Sie konnte einfach ausziehen, wenn sie wollte. Dazu brauchte es keinen besonderen Grund. Das Ende des Studiums, das unweigerlich näherkam, eine Beziehung oder der bloße Wunsch, sich zu verändern, reichte aus.
Was er in den ersten gemeinsamen Monaten noch als Trost empfunden hatte, nämlich die Sicherheit, dass er irgendwann wieder seine Ruhe haben würde, war über die Jahre hinweg förmlich zur Bedrohung herangereift. Was würde er tun, wenn er sich nicht mehr um sie sorgen könnte, wenn sein Haus nicht mehr von ihrer Musik oder ihrem Lachen erfüllt wurde?
Zu wenig hatten sie sich die letzten Wochen gesehen. Immer häufiger fiel der Name Quirin. Gestern Abend hatte der so etwas wie einen Antrittsbesuch bei ihm absolviert. Bestimmt hatte Irina ihm gegenüber darauf bestanden. In einer konservativen russischen Familie gehörte es wahrscheinlich zum guten Ton, einen neuen Freund den Eltern vorzustellen. Es war für alle Beteiligten höchst seltsam gewesen. Ein fremder Junge, der unter Irinas strengem Blick artig bei ihm seine Aufwartung machte. Was sollte das? Wollte sie etwa Andrés Segen? Und wenn ja, würde sie dann etwa zu diesem Typen ziehen?
»Grias di, André, i bin da Quirl«, waren seine ersten Worte gewesen. Schon hatte er in Andrés Augen verloren. Er mochte es nicht, wenn ihn Fremde beim ersten Kontakt gleich duzten. Für eine solche Vertraulichkeit bedurfte es einer längeren Phase der Annäherung und der gegenseitigen Zuneigung. Im Übrigen stand es dem Jüngeren nicht zu, diesen ersten Schritt einfach so zu machen.
Als Quirin ihm dann noch erzählt hatte, dass er im Herbst ein Studium an der Uni in München beginnen wolle, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Deshalb hatte Irina vor ein paar Tagen auf den Seiten der Ludwig-Maximilians-Universität herumgesurft. André war sich sicher, dass auch sie beabsichtigte, ihren Studienort zu wechseln. Schon in ein paar Wochen würde sie das Mietverhältnis zu ihm aufkündigen und ihn verlassen, um Quirin nach München zu begleiten. Und dann war da noch das Telefonat von heute Morgen. Sie war ungewohnt albern, kicherte, ständig hörte er nur dieses »Quirl, Quirl, Quirl«, wie sie ihn scherzhaft nannte. Dann diese blöden Scherze auf Andrés Kosten. Wie hatte sie ihn doch gleich tituliert: »Mein alter Mann-vor-Ort«. Wie vertraut sie mit ihm umging. Dieses dämliche »Pfiat di, Bussi« zum Abschied ging ihm nicht aus dem Kopf.
All dies hatte André in eine merkwürdige Stimmung versetzt. Er fühlte sich hintergangen, zurückgelassen und nicht ernst genommen. Und das nach allem, was sie schon gemeinsam erlebt hatten. Die negativen Emotionen legten sich wie eine schwere, nasse Decke über ihn und zwangen ihm trotz des warmen Wetters eine innere Kälte auf. Er verlor sich in trüben Gedanken, seine Glieder waren bleiern, jegliche Aktivität und aller Tatendrang waren aus ihm gewichen.
»Mach schon, der Zug wird nicht auf uns warten«, flötete sie von unten zu ihm in sein Zimmer. Noch immer stand er unschlüssig vorm Kleiderschrank. Er wollte etwas anziehen, was ihn jugendlich und elegant zugleich erscheinen ließ. Ihn übermannte die Peinlichkeit, sich eingestehen zu müssen, dass er mit diesem vor Kraft und Elan nur so strotzenden Naturburschen konkurrieren wollte.
*
Kurz darauf standen sie auf dem Bahnsteig des Speyerer Hauptbahnhofs.
Auch das noch. Er hatte sich mit der Abfahrtszeit auf der Bahn-App vertan und nicht berücksichtigt, dass am Samstag die Züge in einer sparsameren Taktung fuhren als unter der Woche. Nun mussten sie sich hier 20 Minuten um die Ohren schlagen und herumtrödeln, bis der Zug Richtung Mannheim endlich abfuhr. Die Überraschung für sie – nämlich eine eigens für sie beide organisierte Privatführung durch die Ausstellung im Gebäude des Kunstvereins auf der Mannheimer Augustaanlage – würden sie wohl versäumen. Der Zorn darüber, dass er es verpatzt hatte, kroch wie ein bösartiger Lindwurm durch seinen Magen.
*
»Mach schon, alter Mann!«, feuerte sie ihn an, als sie die Mitte der Augustaanlage erreicht hatten. Im Zug hatte er ihr von der geplanten Führung erzählt. Sie hatte sich tatsächlich gefreut und ihn ermuntert, ein Taxi zu nehmen, um es doch noch zu schaffen. Aber es war wie verhext. Wo rechts, wenn man aus dem Bahnhof trat, sonst gut 20 Taxis in mehreren Reihen standen, war heute kein einziges gewesen. Also waren sie losgelaufen. Sie hatte ihn angetrieben, und er war wie ein Hündchen hinter ihr her gelaufen. Er war mit den eleganten Lederschuhen nicht schnell genug, um mit ihr Schritt zu halten.
Als sie beim Kunstverein ankamen, der fast am Ende der etwa einen Kilometer langen Augustaanlage lag, war er verschwitzt und völlig ausgepumpt. Ihr Privatführer war längst gegangen, und ihnen blieb nichts anderes übrig, als auf eigene Faust durch die Ausstellungsräume zu schlendern.
Während Irina unbefangen von Bild zu Bild schlenderte und es sich nicht nehmen ließ, André gegenüber, jedes einzelne Exponat zu kommentieren, war er in sich gekehrt und schwieg.
»Oh Mann! Du wirkst so dynamisch wie eine Schildkröte. Soll ich dir die Namen der Bilder vortanzen, dass du reagierst, oder geht es dir nicht gut?«
»Nein, alles okay, ich ärgere mich nur, dass das mit der Führung nicht geklappt hat.«
»Typisch, wenn was nicht nach Plan geht, bist du gleich eingeschnappt. Wir können uns doch die Ausstellung auch so ansehen, und in diesem Katalog hier kann man das, was der Führer gesagt hätte, einfach nachlesen. Hör endlich auf zu schmollen. Das mag ich gar nicht an dir.«
Sie hatte ja recht. Er war ein sturer Pedant, der es nicht ertrug, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen ablief. Wahrscheinlich hätte sie jetzt lieber den lustigen Quirin an ihrer Seite – besser als einen Grübler wie ihn.
*
45 Minuten später standen sie wieder vor dem Flachbau des Kunstvereins. Ihren Besuch hatten sie zunehmend schweigend hinter sich gebracht. Mehrfach hatte sie versucht, ihn aufzumuntern.
Aber er hatte sich beharrlich dem Missmut hingegeben.
»Und nun?«, fragte sie genervt. »Ich hab Hunger wie ein Bär.«
»Wir können ja essen gehen«, erwiderte er kleinlaut.
»Wie wär’s mit dem Dolceamaro am Wasserturm?«, antwortete sie schnell. So als fürchtete sie, er würde sein Angebot zurückziehen.
»Wenn du willst«, gab er einsilbig zurück.
»Schau, und einen fahrbaren Untersatz haben wir auch gleich hier.« Dabei deutete sie auf zwei jener Elektroroller, die neuerdings das Stadtbild Mannheims an jeder Ecke zierten.
»Was willst du damit? Du weißt doch gar nicht, wem die gehören.«
Irina stöhnte nur. »Mann, bist du wieder retro. Liest du keine Zeitung? Kaum nimmt man dich in eine größere Stadt mit, bist du hilflos wie ein Kleinkind.«
Das saß. Sonst hätte André sich über Irinas Spitzzüngigkeit insgeheim amüsiert, heute tat sie ihm weh.
»Entschuldigung, dass ich mich nicht für Kinderspielzeug interessiere. Ich bin bereits etwas aus dem Rolleralter rausgewachsen.«
»Roller«, sagte sie kopfschüttelnd. »Schon mal was von E-Scootern gehört?«
»Nein, brauch ich auch nicht. Mein Fahrrad reicht mir.«
»Aha, und wo ist dein Fahrrad?«
»Was soll die blöde Frage?«
Ohne auf seine mürrische Erwiderung einzugehen, zückte sie ihr Smartphone und machte sich daran zu schaffen.
»Voilà, du hast eine Einladung für 15 Minuten kostenloses Rollerfahren!«
»Rollerfahren? Hier? Jetzt? Ich? Du spinnst wohl.«
»Alter Mann, sei kein Saurier, gib schon dein Smartphone her!«
Dabei riss sie ihm sein Handy aus der Hand und begann, darauf herumzuwischen.
»Was tust du da?«
»Na, die E-Scooter-App herunterladen.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mit diesem Kinderding fahre?«
»Komm schon, tu’s für mich. Mit Quirin bin ich diese Woche auch schon gefahren.«
»Das passt ja auch zu diesem Jüngling.«
»Und was passt zu dir? Wäre dir ein Rollator lieber?«
Das saß schon wieder tief. André spürte, dass seine Wangen glühten.
»Na dann, wenn dieser Naturbursche das hinkriegt, werde ich es wohl auch schaffen.«
Für einen Augenblick wusste André nicht, wen er mehr mit dieser spontanen Äußerung überraschte – Irina oder sich selbst?
»Wow, du machst es wirklich?« Sie strahlte und hauchte ihm einen kameradschaftlichen Kuss auf die Backe.
»Aber nur, weil du mich so charmant darum gebeten hast«, sagte er und grinste schief.
Irina installierte die App, registrierte ihn mit seiner Kreditkartennummer, die er ihr ohne Widerrede diktierte, und scannte den QR-Code auf dem Lenker des Rollers mit seinem Smartphone ein. Nun konnte es losgehen.
Jetzt nur nicht zögern, dir nur keine Blöße geben, dachte André, nahm den Scooter und klappte den Ständer ein.
Er schwang sich mit einem Bein auf das Trittbrett und stieß sich mit dem anderen kraftvoll ab. Wie schwerfällig dieses Gefährt doch war. Er erhöhte die Abstoßfrequenz und legte mehr Kraft in die Trittbewegungen. Trotzdem schien das unhandliche Fahrzeug nicht recht in Fahrt zu kommen. Während er noch innerlich fluchend den Fuß in das Pflaster des Bürgersteigs stemmte, schlängelte sich Irina elegant mit beiden Füßen auf dem Trittbrett an ihm vorbei.
»Gas geben nicht vergessen!«, rief sie zu ihm herüber.
»Wie? Wo?«, fragte er irritiert.
Irina fuhr eine Schleife und kam neben ihm zum Stehen.
»Na hier, der Hebel am Lenkrad.« Dabei schüttelte sie den Kopf. »Männer und Technik.«
André spürte, wie ihm der Schweiß über die Stirn rann. Er hasste es, wenn er die Situation nicht unter Kontrolle hatte und im Begriff war, sich lächerlich zu machen. Was hatte ihn nur geritten, sich auf das hier einzulassen? Er nahm erneut kräftig Schwung und riss mit dem Daumen am Gashebel. Der Scooter machte einen Satz nach vorne, nur mit Mühe konnte er das Gleichgewicht halten.
Irina lachte. »Wow, der alte Mann beim E-Scooter-Rodeo.«
Ihm war nicht nach Scherzen zumute. Ängstlich, sich noch einmal zu blamieren, steuerte es das Gerät mit mittlerer Geschwindigkeit auf dem breiten Bürgersteig in Richtung des historischen Wasserturms, dem Wahrzeichen Mannheims.
Irina schloss zu ihm auf und beobachtete ihn lauernd.
»Du hast eine Haltung wie ein Koala. Entspann dich mal!«
André schüttelte den Kopf. »Entspannen, was für eine dämliche Idee.«
Er war froh, nicht die Balance zu verlieren. Jeder uneben verlegte Pflasterstein auf dem Gehweg, jede Bodenwelle und erst recht jeder Bordstein boten das Risiko eines schweren Sturzes. Er hatte weder Helm noch sonstige Schutzausrüstung. Es entsprach ganz und gar nicht seinen Prinzipien, seine Gesundheit für ein solch unnötiges Unterfangen aufs Spiel zu setzen.
»Übrigens, wir sind hier nicht in England. Wir haben hier keinen Linksverkehr, und auf dem Bürgersteig darf man mit E-Scootern auch nicht fahren. Bei der nächsten Kreuzung wechseln wir auf die rechte Fahrspur«, rief ihm Irina hektisch hinterher, während er nochmals beschleunigte.
Sie sollte ruhig sehen, dass er diesem albernen Gefährt gewachsen war. Er war doch nicht so dämlich, auf der vierspurigen Augustaanlage, auf der nicht selten die Autos mit 70 entlang brausten, auf einen der Fahrstreifen zu wechseln. Schließlich war das Trottoir breit genug, um den Fußgängern ausweichen zu können. Sein Sakko flatterte im Fahrtwind. Vibrationen drangen ihm durch Mark und Bein. Das schlecht gefederte Vehikel übertrug jede Unebenheit des Pflasters auf seinen Körper.
Vorsichtig ließ er den Gashebel angesichts der nahenden Ampelkreuzung los. Verdammt, ausgerechnet jetzt schaltete die Ampel auf Rot. Reflexartig stemmte er den Absatz des linken Fußes in den Boden, um zu bremsen. Scharrend glitt er über den rauen Belag, bis er endlich zum Stehen kam.
»Wow, du fährst ganz schön auf Verschleiß. Noch so eine Vollbremsung, und die Socken kommen durch. Die Handbremse benutzen, kann helfen!«, feixte Irina, die neben ihm lässig elegant zum Stehen gekommen war.
Er wollte etwas erwidern, als ihn eine knarzige Männerstimme hinter ihm unterbrach.
»So unsicher, wie Sie wirken, sollten Sie sich vom öffentlichen Verkehrsraum fernhalten. Gehen Sie das besser noch irgendwo üben. Das ist auch nicht so kostspielig. Denn für das Fahren auf dem Bürgersteig muss ich Ihnen leider ein Bußgeld von 15 Euro berechnen.«
André schaute sich um. Wo, um alles in der Welt, kamen die zwei Polizisten her? Und was war das überhaupt für ein beleidigender Unterton?
Auch das noch, dachte er, warum musste heute alles, was er anpackte, schiefgehen.
»Papiere!«, raunzte der andere, deutlich jüngere Ordnungshüter. »Sie sollten noch mal darüber nachdenken, ob das wirklich das richtige Verkehrsmittel für Sie ist – in Ihrem Alter.«
Das war zu viel. Andrés Kopf lief puterrot an. Nur mit Mühe konnte er eine Schimpftirade unterdrücken. Wortlos zog er sein Portemonnaie, fischte den Ausweis und drei Zehn-Euro-Noten heraus und reichte sie dem Beamten. »Die junge Dame ist eingeladen«, sagte er mit einem Friedhofslächeln. »Und wenn Sie nichts dagegen haben, würden wir jetzt gerne unsere Fahrt fortsetzen.«
»Aber nicht auf dem Bürgersteig!«, fuhr ihn der Uniformierte an und gab ihm den Personalausweis zurück.
Artig schoben er und Irina ihre Scooter auf die rechte Fahrspur. Hinter sich hörte er, wie die Polizisten lachten. Diese Wegelagerer hatten wohl nichts Besseres zu tun, als harmlose Rollerfahrer auszunehmen und auch noch Witze darüber zu machen. Was für grobe Lackaffen, dachte André. Er spürte, wie sich tiefer Zorn wie ein bissiges Tier in seinen Eingeweiden festkrallte. Selten war er so gemaßregelt worden, und das ausgerechnet heute, im Beisein von Irina. Er hasste sich dafür, dass er sich hatte breitschlagen lassen, auf dieses alberne Spielzeug zu steigen. Den zwei Schmalspurbullen hätte er am liebsten eine verbale Abreibung und ein Disziplinarverfahren wegen ungebührlichen Verhaltens verpasst. Dafür zahlte man Steuern, um Leute zu finanzieren, die einen beleidigten.
Trotz stieg in ihm auf. Er drückte den kleinen Gashebel am Lenker auf die Maximalstellung. Er wollte nur noch das Dolceamaro erreichen und das kindische Ding loswerden.
Als ein Auto vor ihm scharf bremste, legte er wieder eine Sohlenbremsung hin. Irina schrie »Handbremse benutzen!«, und schüttelte einmal mehr den Kopf.
Endlich waren sie angekommen. Nun hieß es nur noch, einen geeigneten Stellplatz für die beiden Roller zu finden, auf dem man nicht den Bürgersteig verstellte, und er würde seine Ruhe haben. Irina war ein paar Schritte vorausgegangen, um am hinteren Ende der Außenbestuhlung unter den Arkaden einen passenden Abstellplatz zu suchen. André wartete, weil er keine Lust hatte, das Gefährt durch die rechts und links des Gehwegs stehenden Bistrotische zu schieben.
Er starrte Irina nach. Warum war sie zwischen den Tischen plötzlich stehen geblieben? Sie wendete und kam zu ihm zurück. Sie quetschte sich eng neben ihn. Auf ihrem Hals zeichneten sich rote Flecken ab. Außer Atem flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich hab dir doch die Sache mit dem Finger auf der Parkinsel erzählt. Ich glaube, da vorne sitzt der Eigentümer. Er hat einen komischen Verband, aber man sieht, dass der kleine Finger fehlt.«
»Ach was«, brummte André missmutig. »Es gibt bestimmt noch mehr Menschen mit so einer Verletzung.«
»Schon, aber ausgerechnet einen Asiaten?«
Jetzt fiel André wieder ein, dass Achill ihnen berichtet hatte, dass der gefundene Finger zu einem Asiaten gehört hatte.
»André, du musst was tun! Frank sucht doch überall nach diesem Typen.«
»Was soll ich denn tun? Ich kann ihn wohl schlecht verhören.«
»Schau, er winkt nach der Bedienung. Wenn wir ihn nicht aufhalten, ist er gleich weg.«
»Ich rufe Frank an. Du verwickelst ihn in ein Gespräch. Los, mach schon!«, drängte ihn Irina.
»Wie stellst du dir das vor?«, murrte André. Doch Irina hatte das Handy bereits am Ohr und telefonierte.
Die Kellnerin näherte sich dem Tisch des Gastes und begann, ihm die auf ihrem Bestellterminal aufgelisteten Speisen und Getränke vorzubeten. Er fischte umständlich sein Portemonnaie mit der unversehrten linken Hand aus der Gesäßtasche und schickte sich an zu bezahlen. Irina hatte recht. Würde er nichts unternehmen, wäre dieser Typ in wenigen Augenblicken verschwunden. Die Bedienung nahm ein paar Scheine von ihm entgegen, dankte ihm und zog davon. André schob den Roller durch den Durchgang zwischen den Tischen zum Platz des Asiaten. Unschlüssig blieb er stehen. Es war, wie Irina es beschrieben hatte. Da, wo der kleine Finger hätte sein müssen, schmückte ein klobiger, unprofessionell angebrachter Verband dessen rechte Hand. Noch hatte ihn der schmächtige, etwa 40 Jahre alte Mann nicht bemerkt. Zu sehr war er damit beschäftigt, unbeholfen mit der Linken den Geldbeutel wieder in der Gesäßtasche zu verstauen.
»Entschuldigung, äh, können Sie mir sagen, wo hier das Reiß-Engelhorn-Museum ist?«, setzte André holprig an, ohne die Hand des Asiaten aus den Augen zu lassen.
Sein Gegenüber sah überrascht zu ihm auf. »Wie bitte?«, fragte er in nahezu akzentfreiem Deutsch.